Zeitzeugenberichte    - Ausbildung und Beruf -

 

Werner                                                                                                                       29. November 2004

   

Schule im Wandel der Zeit

Erfahrungsbericht über 35 Jahre im Lehrerberuf   (1963 - 1998)

 

 I N H A L T S V E R Z E I C H N I S

   Einleitung                                                                            

  1)  Klassenstärken und Koedukation                             

   2)  Klassenlehrer- und Fachlehrerprinzip                        

   3)  Schülerverhalten und „Disziplin“                             

   4)  Lehrerkollegium                                                       

   5)  Bereiche aus dem Schulalltag

        a) Grundfertigkeiten im „Rechnen“                          

        b) Rechtschreibung und Schriftbild                           

        c) Gedichte und Lieder                                              

   6)  Theater, Orchester und Schulchor                              

   7)  Kreativität und Kopflastigkeit                                    

   8)  Klassenarbeiten und Tests                                         

        a) Die Vorbereitung                                                

        b) Die Durchführung                                                 

        c) Korrektur und Zensur                                            

        d) Der Drittelerlass                                                  

        e) Zahl der Klassenarbeiten                                        

   9)  Probeunterricht beim Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule 

  10)  Zeugnisse und Kopfnoten                                            

  11)  Sitzenbleiber                                                              

  12)  Elternarbeit                                                                

  13)  Wandertage und Klassenfahrten                                 

  14)  Ausländer und Spätaussiedler                                     

   Schlußbemerkungen                                                    

In kaum einer anderen Epoche hat sich in Beruf und Technik, in Politik und Gesellschaft soviel verändert wie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Schule als Spiegel der Gesellschaft war und ist davon besonders betroffen, das konnte ich im Laufe von 35 Lehrerjahren immer wieder feststellen. Der Rückblick auf meine langjährige berufliche Tätigkeit macht dies im folgenden Erfahrungsbericht in etwa 20 Teilbereichen den Lesern anschaulich deutlich. Ich war ausschließlich in Bielefeld im Schuldienst, und zwar von 1963 - 1968 in der Hellingskamp -Volksschule, von 1968 - 1972 in der Baumheider Grund- und Hauptschule und von 1972 - 1998 in der Kuhlo - Realschule. Von 1963 - 1966 begann das Schuljahr nach den Osterferien (Stichtag 1. April). Es folgten die beiden sog. „Kurzschuljahre“ vom 1. April bis 30. November 1966 und vom 1. Dezember 1966 bis 31. Juli 1967. Danach begann das Schuljahr nach den Sommerferien (Stichtag 1. August). Diese Regelung gilt bis heute.

1) Klassenstärken und Koedukation

Meine erste Klasse - ein 4. Schuljahr - hatte 37 Schüler, etwa je zur Hälfte Jungen und Mädchen. 1963 gab es überwiegend gemischte Klassen, nur einige wenige Realschulen und Gymnasien waren reine Mädchen- oder reine Jungenschulen. 1972 hatte die Kuhlo- Realschule - damals noch dreizügig - je eine Jungen- und eine Mädchenklasse sowie eine gemischte Klasse. Der Unterricht in der Volksschule war außer in Sport, Werken, „Handarbeit“ und Hauswirtschaft grundsätzlich koedukativ. Wegen des Übergangs zur Realschule oder zum Gymnasium wurden die beiden „Restklassen“ nach dem 4. Schuljahr zu einem größeren 5. Jahrgang zusammengelegt, der nun 52 Schüler umfaßte. Durch Neuzugänge stieg die Schülerzahl in Klasse 6 auf 56 an, ohne daß eine Aufteilung in 2 Klassen zu je 28 Schülern gegen Ende des Schuljahres auch nur in Erwägung gezogen wurde. Die Trennung erfolgte dann erst zu Beginn der Stufe 7. Wie war der Unterricht mit etwa 24 Wochenstunden in so einer Riesenklasse überhaupt möglich? (Siehe dazu Punkt 3). In späteren Jahren (ab ca. 1972) schwankte die Schülerzahl pro Klasse zwischen 35 und 25. In meinen letzten 10 Lehrerjahren wurde das Unterrichten in großen Klassen mit mehr als 30 Schülern zunehmend schwieriger. Das lag nicht zuletzt an stetig abnehmender Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit. Was Koedukation betrifft, so erwies sich der koedukative Sportunterricht - als Versuchsprojekt begonnen und dann obligatorisch geworden - doch nicht als geeignet, weil die körperlichen Voraussetzungen und die sportlichen Interessen der Mädchen und Jungen zu unterschiedlich sind.

2) Klassenlehrer- und Fachlehrerprinzip

In der damaligen Volksschule herrschte das Klassenlehrerprinzip. Die meisten Fächer wurden vom Klassenlehrer unterrichtet, oftmals „fachfremd“, dafür aber didaktisch und methodisch gut vorbereitet. Das gehörte zum Studiengang einer Pädagogischen Hochschule bis etwa 1968 ebenso dazu wie ein dreiwöchiges Sozialpraktikum (Ferienbetreuung) und jeweils ein vierwöchiges Stadt- und Landschulpraktikum. Letzteres war schon in den Jahren ab 1968 nicht mehr möglich, weil es keine Landschulen mit 2 bis 8 Jahrgängen pro Klasse mehr gab. - Als diese Landschulen noch bestanden, wohnte und unterrichtete der Lehrer als „Dorfschulmeister“ oft im Schulgebäude, was persönliche Verbindungen zu Schülern, Eltern bzw. der ganzen Dorfgemeinschaft mit allen Vor- und Nachteilen mit sich brachte. Später jedoch und noch bis heute zeigt sich ein entgegengesetztes Erscheinungsbild insofern, als die Schüler vom Schulbus in ihrem Dorf abgeholt und in die nächste größere Kleinstadt ins Schulzentrum gebracht werden. -

Der Klassenlehrer unterrichtet viele Fächer bei wenigen Schülern, die er dann auch besser kennt. Der Fachlehrer unterrichtet wenige Fächer bei vielen Schülern, deren Namen er sich nur schwer einprägen kann. Gefahr des Klassenlehrerprinzips ist der Dilettantismus (von allem etwas verstehen und nichts richtig), Gefahr des Fachlehrerprinzips ist die sog. „Fachidiotie“ (mein Fach ist das wichtigste). Ich habe in der Volksschule nach dem Klassenlehrerprinzip unterrichtet. Zwar vertritt die Realschule das Fachlehrerprinzip, ich konnte aber in meiner Klasse immer mindestens drei Fächer unterrichten. In meinen letzten Dienstjahren herrschte in fast allen Schulformen das Fachlehrerprinzip - bis heute. Lediglich in der Grundschule unterrichtet die Klassenlehrerin manchmal mehr als zwei Fächer.

3) Schülerverhalten und „Disziplin“    

Der Unterricht in einer Riesenklasse von 56 Schülern (siehe Punkt 1) war nur deshalb möglich, weil ich bei 24 Wochenstunden in meiner Klasse die Schüler gut kannte und sie auch pädagogisch betreuen konnte. Der Klassenraum war groß genug für Tische in Vierer- oder Sechsergruppen. Jeder Tisch hatte sich einen Sprecher oder eine Sprecherin gewählt. Es wechselte Gruppenunterricht mit Frontalunterricht, es gab die Kreisform für das Unterrichtsgespräch oder auch die Partnerarbeit bei Übungsdiktaten. Zwar gab es schon immer schwierige Schüler, aber im ganzen war der Umgang mit den Kindern und Jugendlichen doch wesentlich leichter. Hinzu kam eine natürliche Autorität des Lehrers, wenn auch manchmal mit autoritären Maßnahmen, die nicht jeden Tag aufs neue in Frage gestellt wurden. Das wäre aus mehreren Gründen heute nicht mehr möglich.

Es ist allgemein bekannt, daß der Schulalltag in den letzten Jahren immer schwieriger geworden ist. Ein hoher Lärmpegel, Gewaltbereitschaft unter Schülern und gegen Lehrer sowie fehlende Konzentration und Arbeitshaltung, ferner die steigende Zahl von Schülern aus problematischem sozialen Umfeld sind nicht nur immer wieder Themen aus den Tageszeitungen, sondern tägliche Erfahrung von Lehrern und Sozialarbeitern. Statt Zustände zu beklagen, ist es sinnvoller, nach den Ursachen zu forschen. Auch diese sind allgemein bekannt, und ich kann mich auf ihre bloße Aufzählung beschränken: 1. Der Rückzug vieler Eltern aus ihren erzieherischen Pflichten  2. Die hohe Scheidungsrate und die Zahl der Scheidungswaisen  3. Die überforderten Alleinerziehenden  4. Die mangelnde Alltagsbetreuung, etwa durch ein Frühstück zu Hause  5. Die Ablenkungen durch das Fernsehen, mehr noch durch Video- und Computerspiele  6. Bewegungsmangel und Übergewichtigkeit, auch durch falsche Ernährung   7. Integrations- und Sprachprobleme durch einen hohen Anteil von Ausländer- und Spätaussiedlerkindern. Hinzu kommt, daß in den letzten 15 - 20 Jahren diese Ursachen fast gleichzeitig aufgetreten sind. Maßnahmen und Vorschläge zur Verbesserung der Schulsituation sind schon viele entwickelt worden, die Umsetzung in die Praxis scheitert aber oft an der Schulpolitik und nicht zuletzt am Geld. - Ich hatte bei Klassenfahrten und auch privat mehrmals die Möglichkeit zum Besuch von Schulen in anderen Ländern, zweimal auch in der DDR: 1971 in Mühlhausen in Thüringen und 1990 in Eisleben Lutherstadt, ferner 1981 in Bristol und 1988 in Canterbury (Comprehensive School und die sog. King’s School), schließlich 1998 die Besichtigung dreier Schulen mit Unterrichtsgestaltung in Nowgorod. Allen diesen Schulen war gemeinsam, daß dort eine natürliche „Disziplin“ und Arbeitsruhe herrschte, sowohl im Umgang der Schüler untereinander als auch im Verhalten zu den Lehrern. Auffallend waren Leistungsbewußtsein und Leistungsbereitschaft. Die Gründe für diesen bemerkenswerten Unterschied lassen sich wohl nur in der Schulpolitik und den anderen gesellschaftlichen Strukturen vermuten, aber auch in der andersartigen Mentalität der einzelnen Menschen und ihres Volkes.

4) Lehrerkollegium

Das Klima an einer Schule hängt auch weitgehend von der Zusammensetzung eines Lehrerkollegiums ab. Wie stark fühle ich mich als einzelner Lehrer „eingebettet“ in ein Kollegium, das mich und andere akzeptiert und trägt? Mit welcher Kollegin kann ich zusammenarbeiten, zu welchem Kollegen habe ich überhaupt „keinen Draht“? Der Schulleiter, sei er nun primus inter pares oder unmittelbarer Dienstvorgesetzter, ist immer auch Teil eines Kollegiums. Nimmt dieses Kollegium berechtigte Kritik - etwa von Eltern - an und hält es bei ungerechtfertigten Beschuldigungen auch zusammen, um sich schützend vor eine betroffene Kollegin zu stellen? In meiner ersten Phase als Volksschullehrer (1963 - 68) gab es etwa je zur Hälfte männliche und weibliche Kollegen, fast ausnahmslos mit voller Stundenzahl. Wie in jedem Beruf findet man engagierte und weniger einsatzfreudige Mitarbeiter. Das ist manchmal ärgerlich, besonders bei Krankheitsvertretungen, aber leider meist unabänderlich. Zu Beginn meiner Realschullehrerzeit 1972 waren zwei Drittel des Kollegiums männlich und ein Drittel weiblich, mit einem Altersdurchschnitt von etwa 50, und 30 % Teilzeitkräfte. 1998 war es umgekehrt: Zwei Drittel weiblich, ein Drittel männlich, Altersdurchschnitt etwa 40, und ca. 40% Teilzeitkräfte.

5) Bereiche aus dem Schulalltag

a) Grundfertigkeiten im „Rechnen“: Dazu gehörte u.a. das tägliche Kopfrechnen von etwa 10 Minuten, sowohl in der Grundschule als auch in der weiterführenden Schule bis mindestens zum 7. Schuljahr, ähnlich wie die Aufwärmphase im Sportunterricht. Das tägliche Kopftraining war bei den Schülern beliebt, besonders, wenn es „lustbetont“ und spielerisch und manchmal in Wettkampfform durchgeführt wurde. Der Wettkampf hatte allerdings den Nachteil, daß es Gewinner und Verlierer gab, meist die gleichen Schüler. So sah ich bald wieder davon ab, um die Aktivität nicht zu beeinträchtigen. Auch galt es, das Tempo nicht zu sehr zu steigern, weil die Kinder natürlich unterschiedlich schnell waren. - Leider kam dieses Kopfrechnen im Unterricht der achtziger und neunziger Jahre immer mehr „aus der Mode“, ebenso mit der Einführung des Taschenrechners ab Klasse 7 die Fähigkeit, schriftliche Grundrechenarten „mit dem Kopf“ zu bewältigen, um mit dem Taschenrechner Zeit für größere Denkaufgaben zu gewinnen. Das ist ein Verlust an Beweglichkeit im rechnerischen Bereich und ein Stück fehlenden Gedächtnistrainings.

b) Rechtschreibung und Schriftbild: Auch die Rechtschreibung war und ist - nicht nur in der Grundschule - tägliches Gedächtnistraining. Mit der Lesefertigkeit „verwandt“, bedarf sie ständiger Übung. Das möglichst tägliche Kurzdiktat, auch in Partnerarbeit, sowie der Umgang mit der Rechtschreibkartei, schult das Wortbildgedächtnis, von dem ich als Schüler schon profitierte. Ich wage hier die Behauptung, daß die wissenschaftlich festgestellte Legasthenie, also eine partielle Lese- und Rechtschreibschwäche bei sonst normaler Intelligenz, auch eine Folge mangelnder täglicher Übung ist. Rechtschreibschwache Schüler hat es zwar immer gegeben, aber die Aufsätze der Klassen 5 und 6 in der Realschule waren ab etwa 1990 kaum noch zu lesen, auch vom Schriftbild her. - Die 1997 versuchsweise und ab 2005 verbindliche Rechtschreibreform ist weder eine Erleichterung noch eine Erschwernis. Sie ändert nur einige Regeln, das notwendige Training bleibt davon unberührt. -  In meinem ersten Dienstjahr 1963 gab es in der Volksschule in meiner Klasse 4 noch das Fach „Schönschreiben“ mit einer Wochenstunde.

Hier unterrichtete ich die Kinder in der Deutschen Schreibschrift (sog. „Sütterlin“) und konnte das nur deshalb, weil ich meinerseits im 1. Schuljahr 1940/41 das Lesen und Schreiben in deutscher Schrift gelernt hatte. Der Verfall einer „ordentlichen“ Handschrift hatte zwar schon in meinen ersten Lehrerjahren begonnen, sich dann aber immer weiter fortgesetzt. Obwohl die Zeugnisnote in Handschrift schon in den siebziger Jahren verschwand, bewertete ich noch hartnäckig bis zu meinem letzten Schultag in Deutsch-Klassenarbeiten die Schrift, wenn auch nur nachrichtlich und ohne Einfluß auf die Gesamtzensur. In diesen Zusammenhang gehört auch der Versuch, etwa bei Bewerbungsschreiben die äußere Form wenigstens mit Punkten zu bewerten. Eine Ausnahme bildeten die Aussiedlerkinder, die durchweg mit einer formschönen Handschrift zu uns kamen. Oft hatten sie in Rußland die kyrillische Schreibschrift gelernt und übertrugen dann die Sorgfalt auf die lateinische Schrift. Daß bei uns die Fähigkeit zu einer leserlichen Handschrift auch bei Erwachsenen im Computerzeitalter allmählich verlorengeht, steht auf einem anderen Blatt.

c) Gedichte und Lieder:  Zum Deutschunterricht der Klassen 1 bis 10 gehört zweifellos   das Hören und Erfassen, das Lesen und Abschreiben, das Deuten und Erlernen von Gedichten aller Art, angefangen von einfachen Versen über Sinngedichte, lyrische Gedichte bis hin zur Ballade. Das Auswendiglernen auch längerer Gedichte galt bis etwa 1975 als selbstverständlich. Ich habe nie ein Gedicht zur nächsten Deutschstunde einfach „aufgegeben“, sondern es vorher ausführlich behandelt und damit zum Lernen, bei längeren Gedichten abschnittweise über 2 - 3 Tage, auch vorbereitet. Wie das sinnerfassende Lesen war  der Gedichtvortrag vor der ganzen Klasse zugleich ein Sprechen und Verstehen. Die Mitschüler hörten kritisch zu und beurteilten anschließend den Vortrag. Dabei wurde ihnen manches klar, was sie vorher noch nicht verstanden hatten. Nebenbei lernten sie das Gedicht beim wiederholten Hören immer besser. Da möglichst alle Schüler drankommen wollten und sollten - auf mehrere Stunden verteilt und nicht länger als jeweils 20 Minuten -, hatte es die letzte Schülerin am leichtesten. Beispiel Klasse 5/6: Fontane „Herr von Ribbeck“; Klasse 7/8: „John Maynard“; Klasse 9/10: Hesse „Im Nebel“. So bildete sich bei den Schülern ein kleiner Schatz an Gedichten, die nicht gleich wieder vergessen wurden. Gemessen an früheren Generationen, die noch im Alter viele Gedichte aus ihrer Schulzeit auswendig konnten, war der „Vorrat“ meiner Schüler noch relativ bescheiden. Leider ließen in den neunziger Jahren die Deutsch-Kollegen an meiner Schule kein einziges Gedicht mehr auswendig lernen. Höchstens wurde darüber „gesprochen“ und das als Verstehen bezeichnet. Das ist ein beklagenswerter Verlust von sprachlichem Terrain.

Zum Lernen von Liedern als „Hausaufgabe“ ist es bei mir niemals gekommen. Gemeint sind Volks- und Wanderlieder, Kanons, lustige Lieder, traditionelle und moderne Kirchenlieder, Gospels und andere englischsprachige Lieder in den Fächern Musik, Religion und Englisch. Lieder lernten die Schüler ausschließlich durch Hören und Singen. Musik hat sich im Alltag der Schüler völlig auf das Hören verlagert. Dabei haben Rock und Pop die herkömmliche Musik fast völlig verdrängt. Außer in Musikschulen, beim Erlernen eines Instrumentes, im Schulorchester oder im Schulchor, im Gospel- oder Jugendchor gibt es kaum noch aktive musikalische Betätigung. Im heutigen Schulalltag wird schon lange nicht mehr gesungen. Auch das ist ein musikalischer Terrainverlust. Die „Schatzkiste“ an Liedern mit Melodien und Texten ist leer. - Erfreulich dagegen, daß in manchen Schulen in musikalischen Aufführungen oder im Schülertheater vor Publikum das musische Lernen noch immer gepflegt wird. Hier sind aus meiner Erfahrung viele Waldorfschulen an führender Stelle zu nennen.

6) Theater, Orchester und Schulchor zählen weniger zum Schulalltag, sondern bilden damals wie heute bei Aufführungen vor Mitschülern, Eltern, Lehrern und Freunden der Schule Höhepunkte im Schulleben. Verschiedene Anlässe gibt es wie Einschulungen, Tage der Offenen Tür, Elternabende, Projektwochen und Ausstellungen, Weihnachtsfeiern, Entlassungen, Schulgottesdienste oder einfach nur die Einladung zu einem Theaterstück oder gar einer Schuloper oder einem Musical. Das ist bei den vielen Veränderungen von Schule ein erfreuliches Kontinuum. Die erhebliche zusätzliche Arbeit setzt immer auch engagierte Lehrer voraus, die ihrerseits die Schüler „anstecken“, indem sie in ihnen musische  Kräfte und Talente wecken. Jeder einzelne möchte sich darstellen und über sich hinauswachsen. Daß diese Selbstdarstellung auch in einer kleineren Rolle nicht zu sehr ins Kraut schießt, versucht z. B. die Waldorfschule dadurch zu verhindern, daß jede Aufführung vor Publikum als Gemeinschaftsaufgabe einer Klasse oder Stufe begriffen wird, in der jeder Schüler eine Rolle erhält, manchmal durch Doppelbesetzung.

Ich habe zwischen 1974 und 1980 in der Kuhlo-Realschule zwei Schulopern von Günter Kretzschmar aufgeführt („Max und Moritz“ und „Till Eulenspiegel“ mit Jahrgangsstufen 5 und 6) sowie das Theaterstück von Thornton Wilder „Unsere kleine Stadt“ mit Klassen 9 und 10. Die Vorbereitungszeit betrug bei 2 Doppelstunden pro Woche etwa ein halbes Jahr. Der totale Einsatz von Schülern und Lehrern hat zwar viel Kraft und zusätzliche Zeit gekostet, aber ein Höchstmaß an Freude und Zufriedenheit gebracht.

Leider können bei Lehrermangel, zu großen Klassen und hohen Stundenausfällen sich viele Schulen den „Luxus“ von Theater-AG, Orchester-AG und Schulchor nicht mehr leisten. Erfahrungsgemäß fallen musische Fächer unvermeidlichen Stundenkürzungen am ehesten zum Opfer. Oft gibt es an einer Schule auch nicht genügend interessierte, musisch „begabte“ und einsatzbereite Schüler, so daß sich eine entsprechende Arbeitsgemeinschaft nicht lohnt. Ein weiterer Hinderungsgrund kann die Tageszeit sein. Nur wenige Schüler kommen zusätzlich an einem Nachmittag aus größerer Entfernung nochmals zur Schule, um an einer freiwilligen AG teilzunehmen.

7) Kreativität und Kopflastigkeit

Oft wird zu Recht beklagt, der Unterricht an unseren Schulen beanspruche zu sehr die geistig-intellektuellen Kräfte und sei einseitig kopflastig. Die Erkenntnis, der Mensch - also auch der Schüler - bestehe, lerne und arbeite gleichermaßen mit Kopf, Herz und Hand, ist nicht neu. Das hat schon die Arbeitsschulpädagogik der zwanziger Jahre in die Tat umzusetzen versucht. Leider ist die Entwicklung in den letzten 20 Jahren genau gegenläufig. Immer mehr wurde und wird der rationale Verstand gefordert, Gefühl und körperlich-handwerkliche Tätigkeit kommen erst in zweiter Linie. Die Verkopfung dominiert auch in der Schule. - Inzwischen hat sich aber auch die Erkenntnis immer mehr durchgesetzt, daß die schöpferischen Kräfte, die im Menschen schlummern, auch geweckt und gefördert, ja gefordert werden müssen und dann zu überraschenden Erfolgserlebnissen führen. Die etwas euphorische Vorstellung, mehr Kreativität führe geradewegs zu einer „Neuen Schule“, ist zwar überzogen, aber im Kern einleuchtend. Der polytechnische Unterricht in der ehemaligen DDR hat vom Ansatz her berücksichtigt, daß der Schüler neben der geistigen Anforderung auch eine „handfeste“ Tätigkeit braucht, die er dann in einem Betrieb auch findet. In der Hauptschule der sechziger und siebziger Jahre gab es das Fach Arbeitslehre. Seit 1983 gibt es an der Kuhlo-Realschule das dreiwöchige Betriebspraktikum in Klasse 9. Die Gymnasien zogen nach, wenn auch erst in Klasse 11 und nur für 14 Tage. Immerhin ist ein Trend in Richtung Praxisnähe festzustellen. Leider wird das handorientierte Fach Werken durch das mehr kreative Fach Kunst ersetzt.

8) Klassenarbeiten und Tests

Um die Lernergebnisse zu kontrollieren, gab es schon „immer“ die schriftlichen Klassenarbeiten, wenigstens in den Hauptfächern Deutsch (als Diktat und Aufsatz), im Rechnen (später Mathematik) und in Englisch. Im Laufe der Zeit kamen Klassenarbeiten in Schwerpunktfächern wie Französisch, Sozialkunde, Physik oder Biologie hinzu, meist ab Klasse 7 oder 9, je nach Differenzierungsstufe. Darüber hinaus gab und gibt es sog. Tests in Nebenfächern, die entweder mit Punkten bewertet und auch zensiert werden, oder als Überprüfung der Hausaufgabe ohne Zensur und nicht länger als von 20 Minuten Dauer. Letztere sind deshalb fragwürdig, weil sie genau so gut unterbleiben könnten. Sie geben höchstens einen vagen Hinweis für Schüler und Lehrer auf den derzeitigen punktuellen Wissensstand. a) Die Vorbereitung auf eine Klassenarbeit nimmt im Unterricht einen breiten Raum ein, sonst wäre die Durchführung sinnlos. Themen und die Menge des zu überprüfenden Stoffes mußten besonders in letzter Zeit eng begrenzt sein, weil sonst die Klassenarbeit zu schlecht ausfiel und dann entweder vom Schulleiter genehmigt oder wiederholt werden mußte. Das bedeutete besonders für den Lehrer einen erheblichen zusätzlichen Arbeitsaufwand. b) Die Durchführung geschah meist im Klassenraum. Um ein Abschreiben oder mündliche Kontakte mit dem Nachbarn zu verhindern, saßen die Schüler entweder an Einzeltischen oder es wurden im Längsschnitt Gruppen A und B gebildet. Die Einhaltung der vorgegebenen Arbeitszeit war manchmal schwierig, nicht nur wegen des unterschiedlichen individuellen Arbeitstempos, sondern auch wegen der notwendigen Straffung der Gedankenfülle, etwa bei Deutsch-Aufsätzen in den Klassen 9 und 10. Am Ende eines Schulvormittags konnte schon mal die Zeit überschritten werden, aber aus Gerechtigkeitsgründen nicht zu sehr. c) Korrektur und Zensur: Die Korrektur einer Klassenarbeit  ist fast immer zeitaufwendig und bedarf großer Sorgfalt. Die vielfältigen Beurteilungskriterien in den verschiedenen Fächern zu erläutern, würde den Rahmen dieses Erfahrungsberichtes sprengen. Am Beispiel eines Diktats oder einer Mathearbeit scheint es noch relativ einfach zu sein: Aus der Fehlerzahl, gemessen an der Durchschnittsfehlerzahl der Klasse, läßt sich verhältnismäßig leicht die Zensurentabelle errechnen. In Mathematik ist das Punktesystem üblich. Hier tauchen aber zwei Schwierigkeiten auf: 1. Hat jede der gestellten Aufgaben auch einen angemessenen Punktwert erhalten? 2.Wo liegt die Grenze zwischen ausreichend und mangelhaft? Ist eine Arbeit noch ausreichend, wenn die Hälfte oder wenn ein Drittel der Gesamtpunktzahl erreicht wurde?

Bei der Aufsatzbewertung genügte seit etwa 1985 nicht nur die Gesamtzensur, sondern sie mußte aus einer ausführlichen Begründung schlüssig hervorgehen. Das war schwierig. d) Der Drittel-Erlaß besagt, daß bei einer Klassenarbeit von der Zahl der mitschreibenden Schüler nur weniger als ein Drittel mit mangelhaft oder ungenügend bewertet werden dürfen. Das gilt auch für Klassen 5 und 6 in der Erprobungsstufe, die meist noch unter dem Leistungsdurchschnitt höherer Klassen lagen, und führte oft zu grotesken Verzerrungen durch „Frisieren“: Bei 20 Fehlern im Diktat oder in einer entsprechenden Englischarbeit gab es noch ausreichend, weil fast ein Drittel der Klasse noch mehr Fehler hatte. Mangelnde Vorbereitung des Lehrers oder mangelnde Arbeitshaltung/Begabung der Schüler?

e) Zahl der Klassenarbeiten:  Die vorgeschriebene Anzahl der Klassenarbeiten in der entsprechenden Jahrgangsstufe in einem Schulhalbjahr ist für die stoffliche Vorbereitungszeit, die gleichmäßige zeitliche Verteilung der Arbeiten (auch für die Fächer der Kollegen) und die nachfolgenden Korrekturen von Bedeutung. Auch die Schülerzahl einer Klasse spielt für den Arbeitsanfall eine Rolle. Ich beschränke mich im folgenden auf mein Fach Deutsch. Bis zum (vorletzten) Schuljahr 1996/97 galt folgende Regelung: Klasse 5 und 6  4 Arbeiten pro Schulhalbjahr, davon 2 Aufsätze und 2 Diktate im Wechsel. Klasse 7 und 8 auch 4 Arbeiten pro Schulhalbjahr, davon 3 Aufsätze und 1 Diktat. 1 Aufsatz konnte durch eine Grammatikarbeit ersetzt werden. Klasse 9 und 10 nur noch 3 Arbeiten pro Schulhalbjahr, kein Diktat mehr, von 6 Aufsätzen im ganzen Schuljahr konnte 1 Aufsatz ebenfalls durch eine Grammatikarbeit ersetzt werden. - In diesem Schuljahr hatte ich 4 Korrekturklassen 5 - 8 mit insgesamt 106 Schülern und in jedem Schulhalbjahr 16 Klassenarbeiten zu korrigieren, also ca. 1700 Hefte. - Erst in meinem letzten Schuljahr 1997/98 wurde die Regelung geändert: Klasse 5 bis 8 eine Arbeit weniger pro Halbjahr (das Diktat nur in Verbindung mit Grammatik). Klasse 9 und 10 schrieb nur noch 5 Arbeiten im ganzen Schuljahr, davon 3 in der ersten Hälfte und 2 im zweiten Halbjahr. Das brachte für mich zwar eine enorme Entlastung: Nur noch 3 Korrekturklassen 6 - 9 mit insgesamt 78 Schülern und im ersten Schulhalbjahr 9 Klassenarbeiten zu korrigieren, also nur noch 700 Hefte. Die Bewertung der einzelnen Arbeit bekam jetzt aber ein größeres Gewicht für die Zeugniszensur. Das wurde von einzelnen Schülern auch als Nachteil empfunden.

9) Probeunterricht beim Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule

Bis etwa 1960 gab es am Ende der Klasse 4 der Volksschule für den Besuch einer Realschule (Mittelschule) oder eines Gymnasiums (Oberschule) eine Aufnahmeprüfung. Sie bestand in der Regel aus 3 Klassenarbeiten (Diktat, Aufsatz, Rechenarbeit über die vier Grundrechnungsarten) und einer mündlichen Prüfung in Allgemeinwissen, vorwiegend aus dem Fach Heimatkunde. - Allmählich, spätestens ab etwa 1970, wurde diese Aufnahmeprüfung abgeschafft. An ihre Stelle traten im 2. Halbjahr der Klasse 4 zentral gestellte Klassenarbeiten in den 3 Bereichen (siehe oben), und zwar für alle Schüler. Später wurden die Ergebnisse des ganzen 4. Schuljahres zur Beurteilung der einzelnen Schüler herangezogen. Der Klassenlehrer schrieb ein Gutachten mit der zusammenfassenden Aussage:  a) Geeignet  b) Vielleicht geeignet  c) Nicht geeignet  für den Besuch einer Realschule oder eines Gymnasiums. Mit der Beurteilung a) oder b) konnte ein Schüler ohne Prüfung zu einer weiterführenden Schule gehen. Wenn die Eltern trotz der Beurteilung c) ihr Kind zu einer solchen Schule schicken wollten, dann mußte es zum sog. Probeunterricht angemeldet werden. Dieser fand jedes Jahr im Mai zentral für alle Bielefelder Grundschulen in der Osningschule statt. An drei aufeinanderfolgenden Tagen unterrichteten etwa 12 Lehrer aus 4 verschiedenen Schulformen (Grundschule, Hauptschule, Realschule und Gymnasium) 3 - 4 Schülergruppen mit höchstens 12 Schülern je Gruppe in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachkunde (Nachfolgefach für Heimatkunde).

An jedem dieser drei Tage wurde eine Klassenarbeit geschrieben: Aufsatz, Diktat und Mathematik. Es sollten sowohl das Sprachvermögen, das Gedächtnis als auch das Denkvermögen nach vorher festgelegten Kriterien getestet werden. Ich habe von 1981 bis 1992 insgesamt 12 mal als Realschullehrer an diesem Probeunterricht teilgenommen. Anfangs lag die „Erfolgsquote“ der Schüler, die bestanden und dann doch zu einer weiterführenden Schule gehen konnten, bei etwa 10 %. Nach einigen Jahren wurden es nach und nach bis zu 22 %, die den Probeunterricht bestanden, ein Zeichen für manche Eltern, daß die Grundschullehrerin sich doch in der Beurteilung geirrt haben könnte. Gleichzeitig sank die Zahl der Schüler, die für den Probeunterricht angemeldet wurden. Warum? Viele Grundschullehrer beurteilten nach eigenen Angaben immer mehr statt mit „Nicht geeignet“ mit „Vielleicht geeignet“, denn das konnte genauso gut „Vielleicht auch nicht geeignet“ heißen. Damit wurde der Schüler an die Erprobungsstufe Klasse 5 und 6 der weiterführenden Schule „weitergereicht“, um den aufnehmenden Lehrern in den nächsten beiden Schuljahren die Beurteilung zu überlassen. Es stieg die Zahl der Schüler, die den Anforderungen von vornherein nicht gewachsen waren und „eigentlich“ individuell gefördert werden mußten. Welcher Lehrer aber sollte das bei 30 Schülern einer Klasse leisten? Es wurden zwar Förderstunden eingerichtet (2 x 1 Wochenstunde in der 1. Stunde) mit maximal 12 Schülern pro Gruppe, mal Deutsch, mal Englisch. Sie brachten aber nur wenig Erfolg bei zu wenig Förderzeit. In den letzten drei Jahren (1990 - 1992) ließen einige Lehrer die Klassenarbeiten aus dem Probeunterricht am Ende der Klasse 5 der Realschule in ihrer Klasse schreiben. Das Ergebnis war schlechter als in einer „normalen“ Klassenarbeit. - Bald darauf wurde der Probeunterricht als antiquiert abgeschafft. Das Grundschulgutachten wurde zur bloßen Mitteilung an die weiterführenden Schulen. Manche Schüler wurden von Schuljahr zu Schuljahr durchgeschleppt und trugen zur Niveausenkung bei. Die Pisa - Studie brachte dann mit exakten Vergleichszahlen zum Ausdruck, was wir Lehrer vorher schon lange wußten.

10) Zeugnisse und Kopfnoten

In meiner eigenen Schülerzeit gab es bis zum Schuljahr 1949/50 die vier Kopfnoten

Betragen: ...  Aufmerksamkeit: ...  Fleiß: ...  Ordnung: ...

Ab 1950/51 wurden in Niedersachsen die Kopfnoten auf zwei reduziert:

Verhalten in der Schule: ...  Beteiligung am Unterricht: ...

In meinem ersten Realschullehrerjahr 1972/73 gab es noch drei Kopfnoten:

Verhalten in der Schule: ...  Beteiligung am Unterricht: ...  Ordnung: ...

Zwei Jahre später wurden die Kopfnoten im Zeugnis ganz abgeschafft. Statt dessen konnten Bemerkungen geschrieben werden: Arbeitsverhalten positiv und negativ, Sozialverhalten nur positiv. Bemerkungen aber bildeten die Ausnahme, bei den meisten Schülern stand nichts oberhalb der Fachzensuren.

Am 1. September 1975 schrieb ich an den damaligen Kultusminister des Landes NRW, Girgensohn, in Düsseldorf, eine Eingabe zu mehreren schulpolitischen Themen, auch zum Wegfall der Kopfnoten im Zeugnis. Ich zitiere daraus einige Passagen:              

„Die Problematik, Arbeits- und Sozialverhalten zutreffend und möglichst objektiv zu beurteilen, soll nicht verkannt werden. Der Gedanke, die Kopfnoten im Zeugnis wegfallen zu lassen, entstand aus dem Unbehagen, Verhalten etwa mit „befriedigend“ oder mit „ausreichend“ zu beurteilen. Ordnung und Fleiß lassen sich schon etwas einfacher kennzeichnen. Sie sind übrigens als Kopfnoten sogar noch in dem als „progressiv“ bekannten Bundesland Hessen vorhanden. Ärgerlich ist nur, daß wieder einmal etwas abgeschafft wird, ohne etwas Besseres wenigstens zu versuchen. Gar nichts ist keine Alternative für etwas Unzulängliches. Statt dessen - so heißt es - können Bemerkungen ge-schrieben werden. Dabei muß beim Lehrer aber erst die Schwelle überwunden werden, überhaupt eine Bemerkung zu schreiben. Ferner dürfen im Bereich Sozialverhalten nur positive Bemerkungen geschrieben werden. Eine geradezu groteske Bestimmung! Wie soll negatives Verhalten positiv formuliert werden? Beispiel für einen häufig oder regelmäßig zu spät kommenden Schüler: „Er erschien mehrere Male pünktlich zum Unterricht.“ Was bleibt den Lehrern anderes übrig als entweder zu verschweigen oder das Verhalten in die Leistungszensur mit einfließen zu lassen?

Es wird beantragt, für den Wegfall der Kopfnoten im Zeugnis Alternativen zur Verhaltensbeurteilung zu schaffen, auch und gerade für Schulabgänger. Nichts zu schreiben, wo etwas geschrieben werden muß, ist juristisch reglementierte pädagogische Drückebergerei.“

Der vorstehend zitierte Auszug ist Teil meiner Eingabe, die sich mit den Hauptthemen A) Unterricht und B) Erziehung befaßte und Stellungnahmen sowie Änderungsgesuche enthielt. Seinerzeit unterschrieben außer mir 11 Kolleginnen und Kollegen unserer Schule diese Eingabe. Die Antwort des Kultusministeriums NRW in Düsseldorf vom 5. Februar 1976 enthielt die Mitteilung, daß unsere Eingabe zur Veröffentlichung an die Bezirksregierung Detmold sowie an die beiden Berufsverbände GEW und RLV weitergeleitet worden sei. Leider haben wir davon nie wieder etwas gehört.

Schon immer war das Erteilen von Zeugnisnoten von dem Bemühen gekennzeichnet, angemessen, gerecht und möglichst objektiv zu sein. Trotzdem ist die Zensurenskala relativ und eine Drei oder eine Vier in diesem Fach, in dieser Klasse, bei diesem Lehrer und in dieser Schule eben nicht das gleiche. Gute und sehr gute Zensuren werden nicht immer nach den gleichen Maßstäben erteilt. Welcher Maßstab ist „maßgebend“, verbindlich? Wo liegt die Grenze zwischen Strenge und Willkür, zwischen Verbindlichkeit und Beliebigkeit? Bei mangelhaften und ungenügenden Leistungen wird die Versetzungsordnung angewendet, die sich in den siebziger bis neunziger Jahren mehrfach geändert hat. Wann ist eine Leistung „mit Mängeln behaftet“ oder „genügt überhaupt nicht“ den „genormten“ Leistungsanforderungen? Das Halbjahreszeugnis zeigt meist schon den Trend einer Entwicklung zum Zeugnis am Ende eines Schuljahres oder Abgangs- oder Abschlußzeugnis. Dabei sind Zensuren im Abgangs- oder Abschlußzeugnis immer wohlwollender als sonst, um dem entlassenen Schüler den Weg in das Berufsleben etwas zu erleichtern.

11) Sitzenbleiber

Dieses volkstümliche Wort für Klassenwiederholung oder Nichtversetzung ist als Problem schon alt. Es ist heute so umstritten wie früher, aber weder durch Absenken noch durch Abschaffen der Leistungsanforderungen in Form von Zensuren zu lösen. Die mehr-fache Änderung der Versetzung im Laufe meiner Lehrertätigkeit zeigt das ganz deutlich. Anfangs galt folgende „Faustregel“, auch für Eltern einsichtig: Mangelhafte Leistungen in zwei nicht-musischen Fächern oder ein Ungenügend führten zur Nichtversetzung. Später wurde die Ausgleichsregelung eingeführt. Ein Befriedigend in der gleichen Fächergruppe (Haupt- oder Nebenfach) konnte ein Mangelhaft ausgleichen, nicht aber ein Ungenügend. Außerdem war ein Ausgleich nur zweimal möglich. Die Vier blieb immer „neutral“; mit einem Zeugnis voller Vieren konnte man problemlos versetzt werden. Die dritte Fünf konnte nicht durch eine dritte Drei ausgeglichen werden, sondern mußte durch eine Nachprüfung am Beginn des nächsten Schuljahres „beseitigt“ werden. Bestand ein Schüler diese Nachprüfung nicht, so mußte die Klasse wiederholt werden. - Es ist viel darüber geschrieben worden, ob sich durch die Wiederholung des Stoffes die Leistungsbereitschaft verbessert oder gar verschlechtert („Ach, das kenne ich ja schon!“). Auch stellt sich die Frage, ob die Eingewöhnung in eine neue Klassengemeinschaft gelingt bei einem Altersunterschied von mindestens einem Jahr. Ist die „Ehrenrunde“ ein Makel oder gar ein Trauma? Neue Untersuchungen über den beruflichen Werdegang ehemaliger Sitzenbleiber haben ergeben, daß ein erheblicher Prozentsatz sogar erfolgreicher war als vergleichbare Schüler mit „gerader“ Laufbahn. Spätzündung oder größere Reife?

Der neueste Versuch einer Versetzung auf Probe mit einer Prüfung nach drei Monaten ist äußerst fragwürdig! Rückversetzung bei Nichtbestehen ist ein schmerzhafter Einschnitt.

12) Elternarbeit

Die Zusammenarbeit des Klassenlehrers mit den Eltern ist ein wichtiger Faktor in der pädagogischen Arbeit einer Schule. Es beginnt mit dem ersten Elternabend am Anfang eines Schuljahres, an dem die Elternsprecher gewählt werden und setzt sich fort in den Einzelgesprächen an den beiden Elternsprechtagen. Das aber ist nur der gesetzlich vorgegebene Rahmen. Darüber hinaus gibt es das persönliche Gespräch im Einzelfall aus konkretem Anlaß. Zusätzliche Elternabende mit interessanten und aktuellen pädagogischen Themen bedürfen intensiver Vorbereitung, auch mit einem speziellen Referenten. Der Termin eines solchen zusätzlichen Elternabends sollte vom Wochentag und von der Uhrzeit geschickt gewählt sein, weil viele Eltern berufstätig und vielleicht verhindert sind. Für den Lehrer und den Referenten ist eine Veranstaltung vor leeren Reihen nicht gerade ermutigend. Es empfiehlt sich außerdem die Zusammenlegung zweier Parallelklassen, auch vor einer geplanten Klassen- oder Jahrgangsstufenfahrt. Nach dem Abend in der Schule kann man sich noch in einer Gastwirtschaft gemütlich zusammensetzen. Das lockert die Atmosphäre in einem kleineren Kreis. - In meinen ersten drei Lehrerjahren habe ich mir noch für Hausbesuche Zeit genommen, besonders bei schwierigen sozialen Verhältnissen, damit man einige Eltern überhaupt erst einmal kennenlernen konnte. In den achtziger Jahren bin ich manchmal mit Schülern und Eltern gemeinsam gewandert.

13) Wandertage und Klassenfahrten

Es gab schon lange einen sog. Wander-Erlaß. Er besagte, daß die Fußwanderung in der Natur (mit einem Besichtigungsziel) an einem halben oder ganzen Tag Vorrang haben solle vor einem Schüler-Bustourismus für Fußkranke. Das stieß bei manchen Schülern nicht auf Gegenliebe. Eine Wanderung, die mehr ist als ein kleiner Spaziergang, ist für Ungeübte kein Vergnügen, sondern ungewohnte Anstrengung. Trotzdem bildeten die Wandertage immer wieder Höhepunkte in einem Schuljahr. Mal war es eine Besichtigung, die nur mit Bus oder Bahn erreicht werden konnte, mal war es eine längere Wanderstrecke, z. B. Hermannsdenkmal, Externsteine, bei der der Rückweg gefahren wurde. Nur einige Tagesziele seien hier genannt, die ich im Laufe der Jahre mit Schulklassen er-reichte: Germanenhof Oerlinghausen, Porta Westfalica und Schachtschleuse Minden, die Ravensburg, das Bergbaumuseum Bochum und das Schiffshebewerk Henrichenburg. Oft war mit einer Wanderung auch ein Schwimmbadbesuch verbunden. Immer war mir dabei die Verbindung von körperlicher Bewegung im Freien und interessanter Besichtigung wichtig. Hinterher fanden die Schüler den Wandertag dann doch „ganz schön“.

Bei den Klassenfahrten spielten die Ziele, die Jahrgangsstufen, die Themenschwerpunkte und auch die Finanzierung eine wichtige Rolle bei der Planung und Vorbereitung, bei den Gesprächen mit Schülern und Kollegen sowie an den Elternabenden. Die anfänglich noch relativ bescheidenen Ziele wurden nach und nach immer aufwendiger, bis schließlich die Finanzlage vieler Eltern eine Grenze setzte. Es sollten ja möglichst alle Schüler einer Klasse an der mehrtägigen Fahrt teilnehmen. Soziale Härtefälle wurden von der Stadt bezuschußt. Auch der Aufenthalt in Jugendherbergen wurde in den siebziger Jahren immer schwieriger, weil eine leidlich geordnete Nachtruhe einfach nicht mehr herzustellen war, auch wegen der fremden Klassen und Gruppen, für die ich nicht verantwortlich war. So bevorzugte ich immer mehr Heime, die wir als Klasse oder Klassen „allein“ bewohnten, oder die Schüler wohnten bei Englandfahrten einzeln oder zu zweit in Gastfamilien. Der pädagogische Wert einer Klassenfahrt mit Stärkung der Gemeinschaft, sozialen Aufgaben und unvergeßlichen Erlebnissen war von jeher unbestritten und hat sich bis heute nicht geändert. Das ist bei aller Veränderung von Schule ein weiteres erfreuliches Kontinuum. Im folgenden gebe ich eine Übersicht der mehrtägig. Klassenfahrten in meiner Lehrerzeit:

 1.  1965  Möhnesee                  Kl.  6             11.  1989  Wentorf (Ostsee)        Kl.  8

 2.  1974  Torfhaus (Harz)         Kl.  7             12.  1990  Goldeck (Ski)             Kl. 10

 3.  1975  Siebengebirge            Kl.  9             13.  1990  Eisleben (DDR)          Kl. 10

 4.  1976  Berlin                        Kl. 10             14.  1991  Prag                           Kl. 10

 5.  1979  England (Barnham)    Kl. 10            15.  1991  Ascheloh (2 Tage)      Kl.  5

 6.  1981  England (Bristol)       Kl. 10             16.  1992  Ascheloh (2 Tage)      Kl.  5

 7.  1984  Gerlos (Ski)               Kl. 10             17.  1992  Langeoog                   Kl.  6

 8.  1985  Nieblum (Föhr)          Kl. 10             18.  1994  England (Canterbury) Kl. 10

 9.  1987  Barsbek (Ostsee)        Kl.  8             19.  1996  Holland (Egmond)      Kl. 10        

10. 1988  England (Canterbury) Kl. 10            20.  1997  Langeoog                    Kl.  6

14) Ausländer und Spätaussiedler

Schüler aus diesen beiden Bevölkerungsgruppen waren für die Teilnahme an mehrtägigen Klassenfahrten nur schwer zu gewinnen, die Mädchen mehr als die Jungen, die Spätaussiedler mehr als die Ausländer. Warum? Die Eltern fürchteten „verderbliche Einflüsse“ während des Aufenthaltes, besonders aber bei den Übernachtungen. Das schien nicht ganz unbegründet, wurde aber nicht als wahrer Grund genannt, sondern finanzielle Probleme, Ängstlichkeit, Heimweh, Hausbau oder Unentbehrlichkeit zu Hause bei vielen Geschwistern und Berufstätigkeit der Eltern. Im Schuljahr 1992/93 kam eine Klassenfahrt nach Langeoog deshalb nicht zustande, weil 9 von 27 Eltern in einem 5. Schuljahr die Teilnahme ihrer Kinder verweigerten. Ein Elternabend half nicht, die betroffenen Eltern erschienen erst gar nicht. Eine Fahrt mit 2 halben Parallelklassen wurde aus naheliegenden Gründen von der Bezirksregierung in Detmold nicht genehmigt. Es gab Ärger bei den 18 teilnahmewilligen Eltern, weil diese sich durch eine Minderheit „gelinkt“ fühlten. Die ersten Spätaussiedlerkinder hatte ich bereits 1964: Zwei Brüder kamen aus Buenos Aires zu uns, Kinder von mennonitischen Rückwanderern aus Rußland über Argentinien. Es entstanden allein schon wegen der geringen Zahl noch keinerlei Integrationsprobleme. In den siebziger und achtziger Jahren änderte sich das durch die steigende Anzahl ausländischer Kinder. Es gab Sprachprobleme und damit verbunden Leistungsüberforderung und Verhaltensstörungen. Ich empfand die jugoslawischen und die türkischen Jungen als besonders schwierig, weil sie zu Hause verwöhnt und die Mädchen benachteiligt wurden. Es wurde ihnen zu Hause nichts abverlangt, und sie erwarteten von der Schule das gleiche. So kamen die meisten zur Hauptschule, einige zur Realschule, wenige zum Gymnasium. Als nach 1990 die Spätaussiedlerwelle einsetzte, wurden an der Kuhlo-Realschule zwei Förderklassen eingerichtet, um die deutsche Sprache zu erlernen oder/und auszubauen. Das gelang auch allmählich, so daß die geförderten Schüler nach etwa einem Jahr am normalen Unterricht ihres Jahrganges teilnehmen konnten. Die Kolleginnen machten aber die Erfahrung, daß die Spätaussiedlerkinder sich in den Pausen zwischen den einzelnen Arbeitsphasen auf Russisch unterhielten und mit hämischem Lächeln über die Lehrerin herzogen, wohl wissend, daß diese ihre Sprache nicht verstand. - Positiv muß gesagt werden, daß viele Spätaussiedlerkinder und Jugendliche, vorwiegend die Mädchen, mit zähem Fleiß und großem Arbeitseifer lernten und nicht wenige hier in Deutschland aufgewachsenen Schüler sogar noch übertrafen.

Schlußbemerkungen

Vorliegender Erfahrungsbericht „Schule im Wandel der Zeit“ sollte die Veränderungen aufzeigen, die ich in 35 Lehrerjahren erlebt habe. Es ging in diesen 3 ½ Jahrzehnten um die laufende Anpassung an sich ständig wandelnde Situationen und Verhältnisse. Das hält zwar den Lehrer flexibel, ist aber auch eine jeweils neue Herausforderung, der man sich stellen und die man bestehen muß. Es gilt übrigens ebenso für die meisten anderen Berufe, die im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts und noch bis heute ähnlich starken Veränderungen ausgesetzt sind.Und doch ist manches über die Jahrzehnte hinweg unverändert geblieben, etwa die Berufsfreude, die man durch Engagement immer noch erlebt.

 

Schule im Wandel der Zeit    Teil 2: Ergänzungen                                                                         Bielefeld, den 24. Januar 2005

I.  Religionsunterricht:

Religion war von jeher ein umstrittenes Unterrichtsfach. Welchen Stellenwert sollte es in der Schule einnehmen im Vergleich zu anderen Fächern, etwa Deutsch oder Geschichte? Gehört es überhaupt in eine staatliche Schule bei strikter Trennung von Staat und Kirche? (Beispiel DDR und Frankreich). Oder gehört es gerade auch in eine staatliche Schule? (Kulturgeschichte, Kulturträger, Kirchengeschichte, Toleranz gegenüber anderen Religionen und Konfessionen, Gleichheitsgrundsatz, Religionsfreiheit). Die abendländische Kunst bis ins 20. Jahrhundert wäre ohne christliche Religion überhaupt nicht denkbar.

1)  Evangelische Unterweisung

nannte man noch bis Anfang der 60er Jahre dieses Fach (mit 4 Wochenstunden in der Grundschule bis Klasse 4). Man meinte damit eine enge Bindung an die Kirche und ein „Einüben“ in den Glauben durch Lied, Gebet und regelmäßigen Schulgottesdienst. Die Behandlung biblischer Geschichten endete meist mit der Frage: „Was lerne ich daraus? Was bedeutet es in meinem Leben?“

2)  Religionslehre

Ab etwa 1965 verlagerte man die Kerninhalte des Faches weg von übertriebener Frömmigkeit hin zum Wissen über Kirche, Geschichte, religiöse Fragen in einer pluralistischen Gesellschaft und ethische Probleme in konkreten Situationen. Damit vollzog sich aber kein Wandel vom sog. „Gesinnungsfach“ zum reinen „Wissensfach“. Das galt übrigens auch für Deutsch und Geschichte. Alle drei Fächer würden als bloße Informationsbereiche verkommen, die die Probleme menschlicher Existenz und menschlichen Zusammenlebens überhaupt nicht berühren. Zu keinem Zeitpunkt der Entwicklung von Schule war dies der Fall.

3)  Schulgebet

Zu Beginn meiner Lehrertätigkeit 1963 war das Schulgebet am Anfang und am Ende eines Schulvormittags im Klassenraum - ganz gleich, welches Fach - selbstverständlich. Es wurde bis dahin niemals in Frage gestellt. Meist bestand das Gebet aus einem auswendig gesprochenen Vers. Beispiel für morgens: „Führe mich, o Herr, und leite / meinen Gang nach deinem Wort. / Sei und bleibe du auch heute / mein Beschützer und mein Hort! / Nirgends als bei dir allein / kann ich recht bewahret sein. / Amen.“ //

Beispiel für mittags: „Jeden Schritt und jeden Tritt / geh’ du, lieber Heiland, mit! / Gehe mit mir ein und aus, / führ’ du selber mich nach Haus! / Amen.“ //

Später zog sich das Gebet auf die Religionsstunde zurück, noch später auf den Anfang einer RU-Stunde. Ich behielt diese Gewohnheit bis 1998 bei und wurde 1975 vom Fachleiter eines Praktikanten einmal gefragt, ob ich das Gebet immer noch praktizierte, nachdem man es kurz zuvor abgeschafft hätte, um das Fach „mehr zu versachlichen“

4)  Inhalt des Religionsunterrichts

In den 70er Jahren entstand die Frage, ob RU bibelorientiert oder themenorientiert zu gestalten sei. Die Sorge um die Attraktivität dieses „ordentlichen Lehrfachs“ ließ diese Frage überhaupt erst aufkommen. Die Bibel als Grundlage des RU war bisher nie bezweifelt worden. Nun kamen aber lebensnahe existentielle Themenkataloge hinzu, die den Unterricht an Bibel, Gesangbuch und Katechismus ergänzen, wenn nicht gar ersetzen sollten. Zudem hatten die Klassen 7 und 8 kirchlichen Konfirmandenunterricht, der diese biblischen Inhalte übernehmen konnte. Aber auch hier wich man auf Themen aus, die eigentlich dem Sozial- und Sexualkundeunterricht zugeordnet werden mußten. Hier einige Beispiele:

Stoffplan Religion Klasse 9  Schuljahr 1991 / 92

                    1. Jugendsekten  a. Hare Krishna   b. Mun - Sekte   c. Baghwan

                    2. Christliche Kirchen und Sekten

                    3. Aberglaube und Wahrsagerei:   Spiritismus, Okkultismus

                    4. Jugendkriminalität

                    5. Tod und Leben   a. Sterbehilfe bei alten und unheilbar kranken Menschen

                                                   b. Lebensunwertes Leben?

                                                   c. Selbstmord

                                                   d. Ist mit dem Tode alles aus?

                                                   e. Grenzgebiete zwischen Leben und Tod

                    6. Krieg und Frieden  -  und die Bergpredigt

Stoffplan Religion Klasse 10  Schuljahr 1992 / 93

           I.  Thema: Tod und Leben     1. Der geschminkte Tod und der ungeschminkte Tod

                            2. Sterbehilfe: Darf der Arzt dem Patienten die Wahrheit sagen?

                            3. Selbstmord

                            4. Grenzgebiete zwischen Leben und Tod

          II.  Thema: Liebe, Partnerschaft, Ehe, Sexualität

                            1. Bestimmung des Menschen durch die Bibel

                            2. Verhältnis von Mann und Frau in unserer Gesellschaft

                            3. Sexualität im Leben von Mann und Frau

                            4. Ehe - ohne Trauschein - Ehescheidung - Ehelosigkeit

                            5. Geburtenregelung, Schwangerschaftsabbruch

                            6. Verhältnis zum Kind (u.a. zum ungeborenen, zum unehelichen K.)

                            7. Homosexualität - Prostitution - Stellungnahmen der Kirchen dazu

 5)  Mündliche Beteiligung und schriftliche Tests

Die mündliche Beteiligung ist in jedem Unterricht zunächst nur quantitativ meßbar. Die Qualität des einzelnen Schülerbeitrags ist zwar leichter festzustellen, aber auch nicht ganz einfach zu bewerten. Schriftliche Fragen an die Schüler können von diesen schon differenzierter beantwortet werden, ebenso frei formulierte aufsatzähnliche Stellungnahmen zu einem vorgegebenen Thema. Daraus ergibt sich die Bewertungsskala für die

6)  Zensuren

Soll ein solch sensibles Fach überhaupt zensiert werden? Kann man Religiosität mit schematischer Elle messen? Diese Grundsatzfrage tauchte immer wieder auf. Andererseits mußte ein „ordentliches Lehrfach“ auch mit anderen Fächern vergleichbar sein. So wurde die mündliche Beteiligung und Aktivität mit kritischen Fragen und Beiträgen sowie die Wissenswiedergabe, auch das allgemeine Vorwissen, zum überwiegenden Bewertungsmaßstab für die Religionszensur. Aber auch mitgebrachtes Material wie Zeitungsartikel und Buchauszüge wurden zur Bewertung von Aktivität herangezogen. Schließlich spielte eine sorgfältige Heftführung eine geringere Rolle, manchmal bei schweigsamen Schülern zum Ausgleich auch etwas mehr.

Die Religionszensur als Ausgleichszensur für schlechte Noten in anderen Fächern spielte für manche Schüler schon eine Rolle, am RU teilzunehmen oder sich wieder anzu-melden, ein schwaches Ersatzmotiv für wirkliches Interesse. Sie glaubten, eine mindestens befriedigende Religionszensur sei leichter zu „haben“ als woanders. Diese Überlegung war teilweise sogar zutreffend.

7)  Abmeldungen vom RU

In meiner eigenen Schülerzeit bedeutete die Kirchenzugehörigkeit automatisch die Teilnahme am konfessionsgebundenen Religionsunterricht. Das war auch in meinen ersten Lehrerjahren der Fall. Gegen Ende der 60er Jahre wurde die jederzeitige Abmeldung vom RU ohne Angabe von Gründen eingeführt, und zwar bis zum vollendeten 14. Lebensjahr durch die Eltern, danach durch den religionsmündigen Schüler. Das hatte allein für die Stundenplangestaltung erhebliche Folgen: Entweder wurde der RU auf sog. „Eck- stunden“ verlegt (1. oder 6. Stunde), so daß die Nichtteilnehmer entweder später kamen oder früher nach Hause gehen konnten. Oder die Nichtteilnehmer mußten in sog. „Mittel- stunden“ in einem anderen Raum gesondert beaufsichtigt werden. Bei geringerer Anzahl konnten die Schüler auch auf andere Klassen mit anderen Fächern verteilt werden. Auf keinen Fall sollten sie im RU im selben Raum - etwa in der letzten Reihe - passiv anwesend sein oder Hausaufgaben erledigen, weil das auf die teilnehmenden Schüler demoralisierend wirkte. Moslemische Schüler nahmen von vornherein nicht am christlichen Religionsunterricht teil, es sei denn, sie oder ihre Eltern erklärten sich schriftlich mit der Teilnahme ausdrücklich einverstanden.

Am 1. September 1975 schrieb ich an den damaligen Kultusminister des Landes NRW, Girgensohn, in Düsseldorf, eine Eingabe zu mehreren schulpolitischen Themen, auch zur Abmeldung vom Religionsunterricht. Ich zitiere daraus einige Passagen:

„Bekanntlich kann sich der religionsmündige und religionsmüde Schüler jederzeit vom Religionsunterricht abmelden. Andererseits ist Religion ordentliches Lehrfach. Schon das ist ein Widerspruch. Wie mir einige Schüler von sich aus freimütig erklärten, sind Motive für die Abmeldung überwiegend Bequemlichkeit und die Person und die Unterrichtsweise des Religionslehrers. Mit weitem Abstand folgen Gewissensgründe oder religiöser Überdruß. Ärgerlich ist hier die Tatsache, daß wiederum keine Alternative angeboten wird wie etwa in Niedersachsen (Religionskunde) oder in Bayern (Philosophie, Ethik), und zwar im Sinne eines Wahlpflichtfaches. In NRW werden so die verbleibenden Schüler für dumm oder fromm oder faul (Erwerb einer billigen Ausgleichszensur) gehalten. Abmeldungen sind selten individuell, sondern grassieren wie eine Epidemie, die auch wieder aufhört, die aber den Stundenplan der Schule fortwährend torpediert. Problemorientierter Religionsunterricht kann gar keine Gewissenstyrannei oder Manipulation sein. Dann wäre jegliche Erziehung Manipulation. Bevor ich etwas ablehnen kann, muß ich es kennengelernt haben. Erlasse wie derzeit gültig leisten dem Massenverhalten Vorschub, den bequemsten Weg zu wählen. In keinem Fach läßt sich die Sinn- frage des Lebens deutlicher artikulieren. Didaktische Vielfalt und methodischer Einfallsreichtum gerade in den letzten Jahren werden durch stumpfsinnige Erlasse zunichte gemacht, von Juristen, die theologische Probleme und die Befassung damit regeln sollen.  

Es wird beantragt,  a) die Abmeldung - wenn überhaupt - nur zum Schulhalbjahr und Schuljahresende zuzulassen. obligatorisch zu machen oder                                     Alternativfächer nach dem Muster von Niedersachsen und Bayern verbindlich anzubieten.

Der vorstehende zitierte Auszug ist ebenfalls Teil meiner Eingabe, die sich mit den Hauptthemen A) Unterricht und B) Erziehung befaßte und Stellungnahmen sowie Änderungsgesuche enthielt. Seinerzeit unterschrieben außer mir 11 Kolleginnen und Kollegen unserer Schule diese Eingabe. Die Antwort des Kultusministers NRW in Düsseldorf vom 5. Februar 1976 enthielt die Mitteilung, daß unsere Eingabe zur Veröffentlichung an die Bezirksregierung Detmold sowie an die beiden Berufsverbände GEW und RLV weitergeleitet worden sei. Leider haben wir davon nie wieder etwas gehört.

8)  Konfessionen und  Religionen  Der Religionsunterricht wurde grundsätzlich nach christlichen Konfessionen erteilt. Es gab aber auch einige Ausnahmen: a) Bei plötzlicher Erkrankung des katholischen Religionskollegen wurde die kleinere Schülergruppe von mir mit unterrichtet. Dieser Kollege war zugleich Fachleiter und mußte einmal für ein  halbes  Schuljahr  2 Wochenstunden katholischen RU in Kl. 5 abgeben. In einem Brief fragte er die Eltern, ob sie damit einverstanden wären, daß ich diesen Unterricht ökumenisch in der ganzen Klasse abhalten könne. Keine der Eltern erhoben Einspruch. b) In der Kl. 10 sahen und besprachen wir im gemeinsamen RU manchmal Filme im Schulfernsehen der Themenreihe „Gott und die Welt“ (1987). Eine katholische Kollegin in der Kl. 10 mußte zu einer mehrwöchigen Kur.

Die Schüler, die Kollegin und ich sowie die Schulleitung waren damit einverstanden, daß ich als evangelischer Religionslehrer die katholische Schülergruppe allein unterrichtete, und zwar für die Dauer des Kuraufenthaltes. c) Schulgottesdienste und sog. „Frühschichten“ wurden grundsätzlich ökumenisch vorbereitet und durchgeführt. Das lag auch an der guten Zusammenarbeit mit den katholischen Religionskollegen. Die Schüler waren ohnehin damit einverstanden. d) Gelegentlich nahmen auch moslemische Schüler am christlichen RU teil. Dadurch lernten sie unsere Religion und wir den Islam besser kennen.

e) Mit den ev. Schülern der Klasse 6 besichtigten wir im Laufe des Schuljahres einmal eine katholische Kirche, später die ev. Lutherkirche und zuletzt den Sieker Friedhof. Das war wegen der vielfältigen Grabsteine mit ihren Inschriften besonders interessant.

 9)  Moderne Lieder, Gospels, Gitarre, Musik, Medien und Meditation

Das Singen moderner religiöser Lieder und Gospels zu meiner Gitarre gehörte in meinem RU zu jeder Stunde. Das hatte für Schüler und Lehrer immer etwas Erfrischendes und half die Müdigkeit in der 1. oder 6. Stunde zu überwinden. Auch das Hören von religiöser Musik sprach die affektiven Kräfte im Schüler an und förderte die Konzentration. Die Einsatzmöglichkeiten von Medien sind so vielfältig, daß ich hier nur zwei Beispiele herausgreifen will: Das Hörspiel vom Tonband über biblische Geschichten oder die Hörfolge über ein religiöses Thema und der Videofilm. Eine sorgfältige Auswahl und sparsamer Einsatz angesichts der medialen Überfütterung heutiger Schüler bereicherten auch den RU sehr, steigerten das Interesse und belebten die anschließende Diskussion.

Schwierig und gewagt war eine Meditation, etwa mit einem Bild oder - in einem verdunkelten Raum - mit einem Dia, manchmal von meditativer Musik begleitet. Sie stellte hohe Anforderungen an Disziplin und Konzentration und konnte leicht mißlingen. Deshalb habe ich sie nur selten und in kleinen Gruppen meist älterer Schüler versucht.

10)  Schulgottesdienst und „Frühschicht“

Schulgottesdienste fanden in unserer Schule anfänglich höchstens dreimal im Schuljahr statt: Zum Reformationstag, in der Adventszeit und meist noch vor der Entlassung der Klassen 10. Es wurde dazu eingeladen, in der Regel zur 1. und 2. Stunde, manchmal auch zur 5. und 6. Stunde eines Unterrichtsvormittags. Wir waren abwechselnd in der nahegelegenen katholischen Liebfrauenkirche oder der evangelischen Jakobuskirche zu Gast. Ich nahm Kontakt mit dem jeweiligen Pfarrer auf - übrigens der einzige zwischen Schule und Kirche - und ersuchte um Unterstützung bei der Gottesdienstgestaltung. Eine Vorbereitungsgruppe übte eine Sprechmotette oder ein biblisches Rollenspiel ein, formulierte Gebete, Ansagen und Lesetexte, wählte die Lieder aus, von der Gitarre und z. B. einer Querflöte und/oder der Orgel begleitet. Der Aufwand war manchmal groß, aber die äußere und innere Beteiligung der Schüler auch, ebenso die nachträgliche Rückmeldung.

In den letzten Jahren fand immer mehr die sog. „Frühschicht“ Anklang bei den Schülern. Sie begann mit Liedern, Gebet und einem Sprechtext oder einem darstellenden Spiel und endete im zweiten Teil mit einem gemeinsamen Frühstück, meist der Klassen 8 - 10, zuerst mit etwa 40 Schülern, beim letzten Mal im Juni 1998 mit 72 Schülern.

II.  Veränderungen (Schule im Wandel der Zeit):

Die Veränderungen, die sich in meinen 35 Lehrerjahren in der Schule vollzogen haben, sind nicht nur zahlreich und vielfältig, sondern auch durchgreifend, einander bedingend und bis in den persönlichen Lebensbereich wirksam. Sie sind größtenteils nicht mehr rückgängig zu machen und daher unumkehrbar. Manche voreiligen, oft ideologisch begründeten Reformen, z. B. die Mengenlehre in Mathematik, waren eine Modeerscheinung und sind wieder verschwunden. Andere Neuerungen erwiesen sich in der Praxis als unzulänglich oder gar schlecht, so daß man zum Altbewährten zurückkehrte. Dabei wurden aber viele Schüler zu Versuchskaninchen, die in ihrem Bildungsweg beeinträchtigt waren. Ich habe in meinem Erfahrungsbericht viele Einzelbeispiele von Veränderungen aufgezeigt und will hier nur noch einmal kurz und beispielhaft zusammenfassen:

a) Schlechter geworden sind die Konzentrationsfähigkeit und die Arbeitshaltung vieler Schüler, erklärbar durch Reizüberflutung, Bewegungsmangel und vielfache Ablenkungen. Auch geringere Leistungsanforderungen und eine zu wohlwollende Zensurengebung können dazu beigetragen haben. Die Elementartechniken (Rechnen, Schreiben, Lesen) werden zu wenig eingeübt und daher nur unzureichend beherrscht. Unverschämtheiten gegenüber Lehrern sind in untergrabener und geschwundener Autorität zu suchen, Gewaltbereitschaft gegenüber Mitschülern hat in Gewaltfilmen eine ihrer Ursachen.

b) Positiv zu vermerken ist größer gewordene Freiheit und Offenheit gegenüber anderen Menschen, auch Lehrern und Mitschülern. Die freimütige Meinungsäußerung, die sich dazu um Toleranz bemüht, ist ein Gewinn für die heutige Schule. Die Kritikfähigkeit hat zugenommen, ebenso das Allgemeinwissen, wenn auch in anderen Bereichen als  früher (Computertechnik, Fernsehen). Angst vor tyrannischen Lehrern ist fast verschwunden, Entfaltung der Persönlichkeit muß noch durch mehr Gemeinschaftsgeist ergänzt werden.

c) Geblieben ist die Bereitschaft, sich für eine „gute“ Sache zu engagieren, sei es für eine soziale Aufgabe, für ein interessantes Fach oder für einen begeisternden Lehrer, seien es außerschulische Tätigkeitsfelder, die in die Schule hineinwirken. Noch immer wird begeistert Musik gemacht, Theater gespielt oder Sport getrieben, wenn auch stets von einer Minderheit. Auch das war „immer so“. Kontinuität ist Beständigkeit im Wandel.

 III.  Ergänzende Schlußbemerkungen

Für mich als Lehrer ist im Rückblick - bei aller Veränderung - das Engagement immer der rote Faden geblieben, der sich durch das ganze Berufsleben zieht. Der Wandel und das Bleibende bedingen einander, vieles hat sich gewandelt, manches ist geblieben. Auch die eigene Person hat sich in 35 Jahren verändert und hat sich mit den äußeren Veränderungen neuen Aufgaben gestellt. Unveränderlich sind für mich die Elementartugenden eines Lehrers: Engagement, pädagogisches Handeln in konkreten Situationen, Sachlichkeit, Gerechtigkeit, Kinder gern haben, Akzeptanz möglichst jeden Schülers.

 

Schule im Wandel der Zeit    Teil 3: Ergänzungen                                                                Bielefeld, den 31. Januar 2005   Krieg und Nachkriegszeit  Erlebnisbericht über 12 Jahre als Schüler (1940 - 1952)

Einleitung: Anlaß für diesen Erlebnisbericht war der heutige Besuch in einer Bielefelder Gesamtschule. Sechs Zeitzeugen stellten sich den Fragen zweier 10. Klassen des Gymnasialzweiges mit etwa 60 Schülerinnnen und Schülern. Thema: Kindheit und Schulzeit im Deutschland des Nationalsozialismus - meine Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen. Eine gleichartige Veranstaltung hatte im Dezember 2003 schon einmal mit anderen Schülern stattgefunden. Das positive Echo damals wie heute hat mich dazu angeregt, meine Schülerzeit im und nach dem Zweiten Weltkrieg schriftlich festzuhalten.

I.  Kindheit im Krieg (Schule 1940 - 1944)

Als der Krieg im September 1939 ausbrach, befand ich mich für sechs Wochen in einem Breslauer Krankenhaus. Als Fünfeinhalb- jähriger lag ich mit Diphtherie und Scharlach in der Quarantäne - Kinderstation in einem großen Krankensaal für etwa 20 Jungen. Ich habe noch jenes Spottlied im Ohr, das von einigen Jungen zur bekannten Melodie „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ gegrölt wurde: ...und wenn das ganze England brennt / und Chamberlain im Nachthemd rennt. / Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern - / Chamberlain, Chamberlain ohne Hemd! //

Ein halbes Jahr später, am 1. April 1940, wurde ich eingeschult. Ich war noch nicht ganz sechs Jahre alt. Die Schule, ein riesiger dunkelroter Ziegelbau in wilhelminischem Gefängnisstil, lag direkt gegenüber unserer Wohnung im Zentrum von Breslau. Das Gebäude ist von Kriegseinwirkungen verschont geblieben und wird im heutigen Polen noch immer als Schule genutzt. - Unsere ersten Schreibübungen machten wir mit einem Schieferstift auf einer Schiefertafel. Die Schieferstifte wurden in einem hölzernen Griffelkasten aufbewahrt. Schwämmchen und Läppchen waren an einem Bändchen befestigt und schauten seitlich aus dem Tornister heraus. Sie schwangen beim Laufen lustig hin und her. Die älteren Schüler riefen uns den Spottvers hinterher: „Achteklecker, Tafellecker, Auslöscher, Wiederschreiber, Sitzenbleiber!“ (Wenige Jahre zuvor zählte man die Klassen rückwärts, so daß die heutigen Erstkläßler damals Achtkläßler hießen). Wir lernten die sog. „Deutsche Schreibschrift“, auch Sütterlin genannt, und hatten dazu eine bebilderte Fibel. Jede Seite, manchmal auch zwei, behandelte einen Buchstaben. Die anfängliche Reihenfolge habe ich bis heute behalten:  i (für i-Männchen) - u - s (das „lange“ s im Gegensatz zum  Schluß-s) -  m  -  o  -  a  -  e  -  l  -  ei  -  n  -  au  -  r  -  w  -  f   usw.

Im Klassenraum hing eine Wachstafel mit den Klein- und Großbuchstaben des deutschen Alphabets. Dazu gab es eine schwarze hölzerne Wandtafel mit weißer Kreide. Das Lesen lernten wir durch Zusammensetzen der Buchstaben zu Wörtern, also nach der synthetischen Methode. Der Klassenraum hatte große, teils vergitterte Fenster. Die unteren Scheiben bestanden aus Mattglas oder waren weiß angestrichen, so daß man nicht hinaussehen konnte. Wir hatten sogar schon Dampfheizungen mit großen Heizkörpern, die im Winter morgens laut zischten. Wir saßen auf Vierersitzbänken mit schräggestellter Schreibfläche, für je zwei Schüler in der Mitte eine Vertiefung mit einem gefüllten Tintenfaß. Wenn die Lehrerin oder der Lehrer mit uns den Klassenraum betrat (wir gingen zu zweit), mußten wir den Tornister ablegen, stehenbleiben, strammstehen und auf den Lehrergruß im Chor mit „Heil Hitler“ antworten. Im Unterricht mußte der Schüler bei jeder Antwort aufstehen. Es gab noch die Prügelstrafe mit dem Rohrstock, meist auf die ausgestreckte Hand, manchmal auch auf den Hosenboden. In meiner ganzen Schulzeit im Kriege war ich nur in reinen Jungenklassen; erst nach dem Krieg lernte ich gemischte Klassen kennen. Wir hatten eine sog. „Rechenmaschine“, ein Abakusgerüst mit 100 Kugeln in 10 Reihen,  jede Reihe in 2 mal 5 blaue und rote Kugeln unterteilt und verschiebbar, in groß für die Klasse und in klein für den einzelnen Schüler. So erlernten wir das dezimale Zahlensystem im Hunderterraum.

Das erste Schuljahr dauerte für mich 1 ½ Jahre, denn ab 1941 begann das Schuljahr im Herbst. Gleichzeitig wurde die lateinische Ausgangsschrift eingeführt und beibehalten, vermutlich um das deutsche Schulwesen bei den vielen Siegen zu internationalisieren. Im allgemeinen blieb die Schiefertafel bis zum Ende des 1. Schuljahres, erst ab Klasse 2 wurde das Schreibheft eingeführt, aber mit Bleistift geschrieben. Von Klasse 3 an durfte mit dem „Federhalter“ und einer Stahlfeder mit Tinte aus dem Tintenfaß geschrieben werden. Meist hatten wir Lehrerinnen und ältere Lehrer. Jüngere Lehrer waren an der Front oder in Ausnahmefällen „wehruntauglich“ im Schuldienst geblieben. Oft holte man pensionierte Lehrer in die Schule zurück. Die hatten es trotz äußerer Strenge manchmal nicht leicht mit uns. Ich erinnere mich an meine Klasse 3 mit über 50 teils frechen und auch etwas verwahrlosten Jungen, die Väter Soldat, die Mütter berufstätig und den Arbeitsplatz ihrer Männer ausfüllend. Unser 70jähriger Klassenlehrer wurde überhaupt nicht mit uns fertig, Brüllen oder wahllose Stockschläge halfen nicht, zu schnell konnten die Störenfriede ein harmloses Gesicht aufsetzen. Oft mußte der Rektor geholt werden, um für die Dauer seiner Anwesenheit die Ruhe wiederherzustellen. Die Aufsicht im Sportunterricht in der Turnhalle oblag einem anderen Pensionär. Während wir Leitern und Stangen hochklettern sollten, schlief er kurzzeitig immer wieder ein, bis er dann den nächsten „Befehl“ gab. Die schlechten Schüler im Klassenunterricht, oft als Sitzenbleiber überaltert, waren meist die besten Sportler und umgekehrt. Ich gehörte zu den letzteren.

Sportlichkeit als Vorstufe zur Wehrertüchigung und Kennzeichen des„deutschen Jungen“ stand hoch im Kurs, nicht nur in der Schule, sondern später auch beim Deutschen Jungvolk, den sog. „Pimpfen“ (10 - 14 Jahre alt) und erst recht danach bei der HJ, der Hitlerjugend (14 - 18 Jahre), schließlich beim RAD, dem Reichsarbeitsdienst (ab 18 Jahren). So wurde der manipulierte Jugendliche von Altersstufe zu Altersstufe „weitergereicht“.

Sprüche und Parolen gab es zahlreich. Beispiele: „Spare, lerne, leiste was, / dann hast du, kannst du, bist du was.“ (Auf einer Sparkarte für Schüler) - „Ein deutscher Junge weint nicht.“ - „Ein deutscher Junge trägt keinen Regenschirm.“ - „Die deutsche Jugend muß schlank und rank sein, flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.“ (Ausspruch des „Führers“) - „Führer befiehl, wir folgen!“ - „Wenn das der Führer wüßte!“ - „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ - „Pst! - Feind hört mit!“ (Damit waren nicht etwa Spitzel oder gar die Gestapo gemeint, sondern etwaige Spione) - „Räder müssen rollen für den Sieg!“ (Volksmund hinter vorgehaltener Hand: „...und Kinderwagen für den Krieg!“) - „Es ist hier so laut wie in einer Judenschule!“ - „Immer diese jüdische Hast!“ - „Wetten tut der Jude, wenn er kein Geld mehr hat.“ - „Die Juden sind unser Unglück! Sie haben den Krieg angezettelt.“

Diffamierung und Ausgrenzung besonders der Juden zeigte sich an einem Kindheitserlebnis. Ich ging im Herbst 1941 oder 1942 mit meiner Mutter auf einer Hauptstraße spazieren. Uns begegneten viele Juden, die den gelben Stern trugen. Wahrscheinlich war es das Laubhüttenfest. Auf meine Frage, warum die Leute diesen Stern trugen, antwortete meine Mutter: „Damit man sie als Juden erkennt.“ Ich bohrte weiter: „Warum soll man sie denn als Juden erkennen?“ Antwort: „Weil sie anders sind als wir.“ - „Wie sind sie denn anders?“ - Meine Mutter beendete die Fragerei: „Frag nicht so viel! Das verstehst du noch nicht.“ Damit wich sie aus, wußte aber wohl selbst nichts Genaues. Ich hatte keine jüdischen Mitschüler, merkte aber die Judenverachtung. Weder ich noch meine Eltern wußten etwas von Deportationen und Lagern. Selbst wenn wir gerüchteweise etwas erfahren hätten, dann hätten wir aus Angst geschwiegen. In einer Diktatur gibt es keine freie Meinungsäußerung, dagegen genügend Spitzel und Denunzianten. Das galt auch für das Abhören von Feindsendern und war streng verboten. Zeitung, Radio und Film wie die „Deutsche Wochenschau“ waren gleichgeschaltet und zensiert. Für heutige Jugendliche ist es nur schwer vorstellbar, daß Medienvielfalt und Informationsfluß im damaligen Deutschland noch nicht existierten.

In den Sommerferien 1942 kam ich zur Kinder-Stadtranderholung durch die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt). Wir wurden täglich mit der Straßenbahn in einen Vorort am Oderufer gebracht und mit Sport und Spielen, Liedern und Wanderungen sowie gemeinsamen Mahlzeiten betreut und dabei - wie auch in der Schule - unmerklich beeinflußt. Im Frühjahr 1944 durfte ich als Zehnjähriger „endlich“ zum Deutschen Jungvolk und nun eine Uniform tragen. Der Dienst am Mittwoch- und Samstagnachmittag war eine „Ehrenpflicht“ und bestand aus Exerzieren, Marschieren, Liederlernen und Singen, aus sportlichen Übungen und Geländespielen, aus Schulungs- und Informationsnachmittagen. Die anfängliche Begeisterung wich bald einer immer stärker werdenden Abneigung, schon allein deshalb, weil ich nicht besonders sportlich war und so gar nichts von einem „deutschen Jungen“ an mir hatte. An einem Wochenende marschierten wir etwa 20 km in ein entlegenes Dorf und übernachteten „zünftig“ in einer Scheune. Mitten in der Nacht gab es Alarm und wir mußten in einem Geländespiel bei Vollmond entflohene Fremdarbeiter (verkleidete HJ-Führer) wieder „einfangen“. Erschöpft von den langen Märschen bei Hitze und mit Gepäck kehrten wir am Sonntagabend in die Stadt zurück.

Im Herbst 1944 wurde eine Großkundgebung der HJ in der Breslauer Jahrhunderthalle veranstaltet. Gauleiter Hanke hatte die Hitlerjugend der Stadt einschließlich des Deutschen Jungvolks versammelt, um zum Kampf für den „Endsieg“ und zähen Durchhaltewillen aufzurufen. Die Begeisterung in der Halle mit Sprechchören und Kampfesliedern war schon spürbar, auch für mich, wenn sie mich auch nicht anzustecken vermochte. Aber das durfte man auf keinen Fall zeigen. Der Fanatismus auf einigen Gesichtern ist in einem kürzlich gezeigten Fernseh-Dokumentarfilm heute noch zu sehen.

In meinem letzten Volksschuljahr in Klasse 4 ist mir noch der Fahnenappell auf dem Schulhof zu „Führers Geburtstag“ am 20. April 1944 in Erinnerung. Ab und zu gab es auch am Tage Fliegeralarm. Der Unterricht wurde sofort abgebrochen. Ich konnte nach Hause rennen, weiter entfernt wohnende Schüler mußten in den Schul-Luftschutzkeller. Breslau galt als der „Luftschutzkeller Deutschlands“. Während westdeutsche Großstädte schon längst in Schutt und Asche lagen, waren wir von Bombenangriffen weitgehend verschont geblieben. Bis zum Sommer 1944 war auch noch ein geordneter Schulbetrieb möglich. Da gab es im Westen schon lange die Kinderlandverschickung.

Nach den Sommerferien 1944 wurde ich nach einer Prüfung in eine Mittelschule umgeschult. Ich hatte aber nur wenige Wochen Unterricht in einer Klasse 5, wieder nur für Jungen. (Wahrscheinlich gab es zu dieser Zeit überhaupt keine gemischten Klassen.) Wir hatten z. B. Englisch, lernten also trotz allem noch die „Sprache des Feindes“. Dann aber kam die Evakuierung, auch eine Form der Kinderlandverschickung, nur mit anderem Namen. Allerdings konnten meine Eltern ihre Zustimmung aus gesundheitlichen Gründen verweigern, und ich blieb von der Trennung vom Elternhaus verschont. Die Schule wurde geschlossen. - Ich konnte nach einiger Zeit „Ferien“ für etwa sechs Wochen noch eine andere Mittelschule im Westen der Stadt besuchen. Als aber im Januar 1945 Breslau vor der heranrückenden Roten Armee evakuiert wurde, hörte auch in dieser Schule der Unterricht auf. Bei Kriegsende hatte ich bereits ein Schuljahr verloren. Auf Grund der Vertreibung mußten wir im März 1946 Breslau verlassen und kamen in ein Dorf in Niedersachsen. Als dann für mich im April 1946 die Schule in Klasse 5 einer Mittelschule wieder begann, war ich zwei Jahre überaltert. Nach dem dramatischen Ende meiner ersten Schulzeit war das ein neuer, bescheidener Anfang.

II.   Jugend nach dem Krieg (Schule 1946 -1952)

Bei meiner Wiedereinschulung Ostern 1946 stellte sich die Frage, ob ich nicht eine Klasse überspringen und auf Grund meines Alters in Klasse 6 kommen sollte. Aber ich traute mir das nicht zu, weil zu große Lücken entstanden waren und ich sogar das schriftliche Malnehmen und Teilen wieder verlernt hatte. Meine Schwester kam als Achtjährige in Klasse 1 unserer Dorfschule, während ich als Zwölfjähriger in die Klasse 5 der Mittelschule des Nachbardorfes ging. Mein täglicher Schulweg zu Fuß betrug 10 km hin und zurück. Ich brauchte etwa eine Stunde und verließ jeden Morgen um 6.45 das „Haus“.

Das war ein Zimmer von 18 qm für 4 Personen, das uns unser Bauer abgetreten hatte, seine „gute Stube“, die nur an Feiertagen benutzt wurde und für ihn am ehesten entbehrlich war. Wir schliefen auf Strohsäcken, holten Wasser von der Pumpe, kochten auf einem Herd, der im Winter zugleich heizte, und hatten als Beleuchtung eine selbstgebastelte Petroleumlampe. Meine Mutter - früher in einem Büro tätig - lernte das Kühemelken und bekam dafür täglich 2 Liter Milch. Wir ernährten uns außerdem hauptsächlich von Kartoffeln und den spärlichen Lebensmittelmarken. -

Die ersten Monate in der Schule waren gekennzeichnet von ärmlichen Verhältnissen. Zwei Jahrgänge wurden in einem Klassenraum unterrichtet. Es gab nur wenige Glasscheiben, die meisten Fenster waren mit Holzpappe vernagelt. Bei Regen mußte die Sitz-ordnung geändert werden, weil es an einigen Stellen durch die Decke tropfte (schadhaftes Dach). Wir hatten anfangs nur 2 bis 3 Stunden am Tag, und zwar die drei Hauptfächer Deutsch, Englisch und Mathematik, so daß mein Schulweg manchmal länger dauerte als die Unterrichtszeit. Es gab keine Bücher und kein Papier. Ich hatte zuerst nur einen Bleistift in meinem Papptornister. Zum Schreiben dienten entweder Zeitungsränder oder später Schreibhefte aus schlechtem Altpapier, auf dem die Tinte sofort wie auf Löschblättern verlief. Ein Schreibheft kostete 5 Reichsmark und 1 Ei. Deshalb ging man mit der Papierfläche auch sehr sparsam um. Bei unserer ersten Lehrerin hatten wir Deutsch und Englisch, beim Rektor Mathematik. In Deutsch lernten wir viele Gedichte. Ich erinnere mich an die Ballade „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff. Da unser Dorf am Rande eines Moores lag und wir jedes Jahr im Mai Torf stechen mußten, hatten wir zu diesem Gedicht eine besondere Beziehung. Ich habe es total verinnerlicht und kann es bis heute auswendig. Wie allgemein bekannt, wurde in der damaligen Schule viel mehr auswendig gelernt. Wir hatten keine Ablenkung durch Radio, Musik, Fernsehen, Reklame und Straßenlärm, so daß unser noch junges Gedächtnis viele Lernstoffe durch akustisches Memorieren wie ein Schwamm aufsaugte. -

Vieles in der Schule von 1946 bis 1948 erklärte sich durch die besonderen alltäglichen Lebensumstände als „Leben auf dem Dorf“. So begann der Jahreskreislauf im April mit dem Anbau von Gemüse. Dazu stellte uns unser Bauer ein Stück gedüngtes Ackerland zur Verfügung. Wie schon erwähnt, folgte der Mai mit dem Torfstechen im nahegelegenen Moor, wertvolles Brennmaterial für den nächsten Winter. Im Juni und Juli waren die Blaubeeren reif. Wir bekamen in den ersten beiden Jahren für ein Pfund Blaubeeren entweder 5 Reichsmark oder 1 Ei, für einen Eimer sogar ein Pfund Speck. Die Bauern hatten wegen ihrer Feldarbeit und der Heuernte keine Zeit zum Selberpflücken.

In den ersten Nachkriegsjahren kamen zur Blaubeerzeit auch viele Großstädter aus dem Ruhrgebiet, die sog. „Hamsterer“, in den Wald, um Blaubeeren zu pflücken und sogar zu „kämmen“. Blaubeerkämme waren verboten, weil sie die Pflanzen beschädigten. Die übrige Zeit des Jahres zogen die Hamsterer von Bauernhof zu Bauernhof, um letzte Habseligkeiten, die der Bombenkrieg übriggelassen hatte, gegen Lebensmittel einzutauschen. Manche Gegenstände stammten vom Schwarzmarkt, eine amerikanische Zigarette kostete etwa 5 Reichsmark. Im übrigen galt die sog. „Speckwährung“, zum Beispiel ein Herrenanzug oder ein Fahrrad für jeweils 10 Pfund Speck. Wer nichts hatte, ging singend betteln und bekam für zwei oder drei Lieder, manchmal mit einem Instrument begleitet, ein paar Kartoffeln oder gar ein Ei. Die Bauern als Erzeuger von Lebensmitteln waren in diesen Hungerjahren die Könige der Gesellschaft. Aber sie lebten auch gefährlich. Oft gab es nächtliche Raubüberfälle auf einsam gelegene Gehöfte mit Speck, Fleisch und Wurst als Beute. Schwarzschlachten (über das erlaubte Maß hinaus) war verboten. Unser gutmütiger Bauer wurde einmal denunziert und mußte für sechs Wochen ins Gefängnis. Beim ebenfalls verbotenen Schwarzbrennen von Schnaps bestand zusätzlich Vergiftungsgefahr durch Metylalkohol.

Im weiteren Verlauf des Jahreskreises kam für uns nach der Roggenernte das sehr mühsame Ährenlesen. Der Rücken schmerzte oft - wie beim Blaubeerensuchen - und die Fingernagelbetten stießen sich an den harten Stoppeln manchmal wund. Die Ähren wurden ziemlich lose in einem zugebundenen Sack mit einem Knüppel „gedroschen“. Durch geduldiges Pusten trennten wir dann die sprichwörtliche „Spreu vom Weizen“, d. h. von den Roggenkörnern. Weizen gedieh auf dem Sandboden nicht. Für ein Pfund Körner bekamen wir beim Bäcker ein Pfund Brot. Im Oktober war dann die Kartoffelernte. Anfangs gingen wir „Kartoffelstuppeln“, d. h. wir sammelten die vereinzelt liegengebliebenen oder ins Erdreich gedrückten Kartoffeln auf, eine ebenfalls mühselige Arbeit. Später verdienten wir uns in der Kartoffelernte als Kinder einen halben Zentner Kartoffeln in 6 bis 7 Stunden Akkordarbeit. Dazu gab es Vesperbrot und eine warme Abendmahlzeit.

Das alles hatte auch sehr viel mit Schule zu tun. Im Frühjahr mußten wir Birkenblätter für Tee sammeln. Im Frühsommer ging es auf die Kartoffelfelder, um Kartoffelkäfer und besonders die Larven einzusammeln und zu verbrennen. Es gab schulfrei oder hausaufgabenfrei oder gar eine Geldprämie. Die Sommerferien hießen Ernteferien und dauerten nur 3 Wochen. Die Herbstferien hießen Kartoffelferien und dauerten ebenfalls 3 Wochen. Zum Schulweg ist noch einiges zu sagen. Die Schuhe, die wir aus der Heimat mitgebracht hatten, waren bald zu klein und wegen der schlechten Qualität auch nicht mehr zu reparieren. So ging ich im Sommer barfuß, ein gutes Training zur Abhärtung der Fußsohlen. Im Winter trug ich Holzschuhe, die hier üblicherweise getragen wurden, auch weil es keine Lederschuhe zu kaufen gab. Bei Schnee wurde das Gehen schwierig, denn der Schnee klebte unter den Holzsohlen fest. Die „Hölzken“ hielten etwa 4 Wochen, dann waren sie durchgelaufen und mußten durch neue ersetzt werden. Jeden Samstag bekam man um 8 Uhr beim Holzschuhmacher im 5 km entfernten Nachbardorf 1 Paar pro Person zu kaufen. Um 5.30 Uhr mußte man sich anstellen, um überhaupt welche zu kriegen. Und so marschierte ich mit meiner Schwester jeden Samstagmorgen um 4.30 Uhr los.Unsere Eltern brauchten schließlich auch Holzschuhe. Zum Glück hatte ich samstags erst zur 2. Stunde Schule, dann aber bis mittags wie an jedem anderen Werktag der Woche.

Ostern 1947 verließ unsere erste Lehrerin die Schule und wurde in einem benachbarten Landkreis Schulrätin. Zu uns kam eine neue Lehrerin für Deutsch und Englisch, die bis zum Ende meiner Schulzeit 1952 bei uns bleiben sollte. Ich sehe sie noch vor mir wie am ersten Tag: Eine sechzigjährige Erscheinung, die sofort eine natürliche Autorität ausstrahlte, ziemlich kurz geschnittenes, graues, welliges Haar, dunkelblaues Kleid und dazu - unvergeßlich - ein Paar helle, naturfarbene, verzierte Holzschuhe, weil es eben keine Lederschuhe mehr gab. Die neue Lehrerin stammte wie ich aus Schlesien und war dort eigentlich Oberschullehrerin gewesen, für unsere Mittelschule eine etwas zu große Kragenweite. Sie konnte interessant erzählen, und auch bei ihr lernten wir in Deutsch viele Gedichte und Balladen auswendig. Sie hatte besonders die pubertierenden Jungen, die sie später um Haupteslänge überragten, „voll im Griff“. Ihre menschliche Seite ist mir gut in Erinnerung geblieben. Sie nahm Anteil am Dorfleben, besuchte die Veranstaltungen der „Flüchtlinge“ und Einheimischen mit Laienspiel, Volksliedern und Gedichten und gab uns armen Schluckern sogar noch ein paar Groschen „Kirmesgeld“ zum Karussellfahren.

Im Winter stand ein Kanonenofen im Klassenraum. Jeder Schüler mußte zwei Stück Torf oder eine Handvoll Brennholz mitbringen, das wir im Wald gesammelt hatten. Über dem Ofenschirm hingen unsere vom Schnee naßgewordenen selbstgestrickten Socken aus Schafwolle. Für den Unterricht hatten wir vorsorglich trockene Ersatzsocken mitgebracht. Vor Weihnachten 1947, als es fast nichts mehr gab, faßten wir Schüler den Entschluß, unserer Lehrerin einen echten schlesischen Streuselkuchen zu schenken. Die Bauernkinder besorgten die Zutaten wie Butter, Zucker und Mehl, und mein Vater übernahm die Zubereitung. Morgens um sechs wurde der Kuchen beim gegenüberliegenden Bäcker gebacken, gegen sieben trug ich auf einem kleinen Backblech das duftende Klassengeschenk 5 km zu Fuß vor mir her zur Schule. Zum Glück lag kein Schnee. Wenn ich nun gestürzt wäre? Nicht auszudenken! Die Überraschung auf dem Lehrertisch war unbeschreiblich und die Reaktion - waren Freudentränen.

Das Jahr 1948 brachte in der ersten Hälfte den Tiefpunkt der Versorgung auf Lebensmittelmarken. Es gab krümeliges Maisbrot, braunen Rohrzucker und selbstgemachten trockenen Quark. Manchmal verdiente ich mir durch Hausaufgaben oder Nachhilfe in Mathematik von einem Bauernsohn ein Wurstbrot, manchmal holte ich mir ein weggeworfenes eingewickeltes Butterbrot aus dem Papierkorb! Hier Hunger, dort Übersättigung. - Manchmal sollte ich einem Bauern ein Medikament aus der Apotheke mitbringen, die es nur im Dorf meiner Schule gab. Botenlohn war ein Schinkenbutterbrot, das dann zu Hause sorgfältig durch 4 geteilt wurde.

Die Währungsreform im Juni veränderte allmählich unser Leben. Das neue Geld war zwar knapp, aber wertvoll mit zunehmender Kaufkraft. Die Blaubeeren verkauften wir bald für 25 bis 35 Pfennig das Pfund, 500 g Pfifferlinge brachten sogar schon etwas mehr als 1 Deutsche Mark. Im September suchten wir Brombeeren für 30 Pfennig, ab Oktober 1948 Bucheckern, die klein und leicht waren, aber wegen des Bucheckernöls mit 60 Pfennig für das Pfund ganz gut bezahlt wurden, für uns eine Zusatzeinnahme.

Im Herbst ging ich zum Konfirmandenunterricht. Das ergänzte und erweiterte den Religionsunterricht in der Schule. Auch hier mußten wir mehrere Kirchenlieder sowie aus Luthers Kleinem Katechismus mit Erklärungen vieles auswendig lernen. Das Lied von Paul Gerhardt „Befiehl du deine Wege“ hat 12 Strophen, die wir nach und nach lernen mußten. Zweimal in der Woche ging ich meinen Schulweg noch einmal am Nachmittag. So konnte ich beim Gehen in der Stille den Text in Ruhe memorieren. Gelegentlich rumpelte ein Pferdewagen in gemächlichem Tempo daher. Er war auch nicht schneller als ich, und so ging ich lieber zu Fuß als mich mitnehmen zu lassen. - Bei der Prüfung in der Kirche mußten wir vor der versammelten Gemeinde unser abfragbares Wissen unter Beweis stellen. Die Konfirmation im April 1949 war ein ganz besonderer Tag. Mein Konfirmationsanzug, maßgeschneidert, begann mir schon am Festtag zu klein zu werden. Er „bestand“ übrigens aus Bucheckern, die wir im Herbst gesammelt und verkauft hatten. Unser katholischer Bauer bot uns seinen Sonntags-Pferdewagen an und brachte uns die 5 km zur evangelischen Kirche. Das habe ich ihm nie vergessen. Ich bekam 2 große Geschenke: Eine lederne Aktentasche für die Schule und ein gebrauchtes Fahrrad für 60 DM. Die Fußgängerzeit war nun nach drei Schuljahren zu Ende. In der zweiten „Halbzeit“ war ich - wie alle anderen Schüler auch -  stolz mit dem Fahrrad unterwegs, und zwar ungefähr 30 Minuten. Nach dem Unterricht trug ich auf dem Heimweg noch etwa 12 Tageszeitungen aus, um mir etwas Taschengeld zu verdienen. Jede Zeitung kostete monatlich 2,50 DM, davon bekam ich 50 Pfennig Botenlohn, also 6 DM im Monat. Beim Einkassieren gab es manchmal ein paar Groschen Trinkgeld, besonders zu Weihnachten. Bei einem Bauern konnte ich ab und zu einen Teller Eintopf zu Mittag mitessen.

Die letzten drei Schuljahre normalisierten sich immer mehr. Wir bekamen einen dritten Lehrer für Physik und Biologie. Auch Erdkunde und Geschichte konnte jetzt erteilt werden. Nach und nach gab es auch Bücher, das Papier in den Schreibheften wurde immer heller und glatter. In Klasse 8 unternahmen wir eine einwöchige Klassenfahrt mit dem Fahrrad in die Jugendherberge Osnabrück, noch mit wenigen Lebensmittelmarken. In Klasse 9 ging es mit der Bahn, dem Fahrrad und dem Schiff für eine Woche ins Weserbergland. Schließlich besuchten wir in der 10. Klasse zweimal mit dem Bus das Theater in Osnabrück. Ostern 1952 bestanden wir mit 10 Schülerinnen und Schülern die Abschlußprüfung und erhielten das Zeugnis der sog. „Mittleren Reife“. Ich war 18 Jahre alt. Wir wurden in das Berufsleben entlassen. Unsere 65jährige Klassenlehrerin ging mit uns aus der Schule und trat in den wohlverdienten Ruhestand. Wir haben sie 12 Jahre später auf einem Klassentreffen wiedergesehen. Da war ich -  ihr ehemaliger Schüler  -selbst schon Lehrer. Sie starb am 1. Mai 1968 mit 81 Jahren in Hannover.

Als Schüler erlebte ich hautnah „Schule im Wandel der Zeit“. Es war die Schule im Laufe der Geschichte in Deutschland und im Verlauf meiner eigenen Lebensgeschichte, und das innerhalb von nur 12 Jahren. Einmalige Erlebnisse mußten deshalb unbedingt aufgeschrieben werden.