Zeitzeugenberichte    - Ausbildung und Beruf -

 


Karin 

„Böses kommt aus Kinderbüchern!"

Dies Motto aus den 70er Jahren führte zu einem Sprung in meiner Biographie. Alles bisher Gelebte und Gelernte schien auseinander zu brechen, in Scherben zu zerfallen.

In den 50er Jahren hatte ich meinen sehr viel jüngeren Schwestern jeden Abend Märchen oder den Struwwelpeter vorgelesen und versucht, sie zum Gehorsam zu erziehen. Jetzt galt das nicht mehr, war angeblich sogar gefährlich. Es lebte der Antistruwwelpeter.

Während meines 5- semestrigen Studiums in der Evangelischen Akademie Wuppertal von 1957 bis 1959 galten noch Didaktiker, die ihre Theorien schon vor dem 2. Weltkrieg verfasst hatten. So wurde der jungen Lehrergeneration zu deren „Nutz und Frommen … der natürliche Unterricht … (als) die Schule der Gesittung" (Kretschmann-Haase 1948) anempfohlen. Das Lesebuch sollte die rechte Gesinnung, die Heimatkunde eine emotional gefärbte Beziehung zur heimatlichen Umgebung wecken.

Das Inhaltsverzeichnis eines Lese- und Arbeitsbuches aus der damaligen Zeit für das 3. und 4. Schuljahr (Kade, 1958) zeigt deutlich die Tendenz. Es ist unterteilt in einen Sachteil und einen musischen Teil. Der Sachteil beschäftigt sich mit den Menschen, der Gesundheit, dem Verkehr, dem Wetter, der Landkarte, den Tieren, Pflanzen und Bäumen und mit Märchen. Die Titel der Texte zu den Menschen heißen beispielsweise: „Unsere Zeitungsfrau", „Ein Plauderstündchen mit Metzger Ringelsterz", „Bei Schuster Zwirnemann", „Die Arbeit des Bauern im Jahreslauf" oder auch „Viele Menschen decken unseren Tisch". Der musische Teil enthält ein paar Gebete, v. A. aber Gedichte zum Jahreslauf, z. B. „Lied des Landmanns beim Säen" (Claudius), „Das Häslein" (Morgenstern) oder auch „Kartoffelernte" (Holst).

Ein Liederbuch aus demselben Jahr (Losch 1958) spiegelt das gleiche Bild. Es gliedert sich in folgende Kapitel: „Wir machen die großen Leute nach", „Wir haben die Tiere so gern", „Wir tanzen", „Fröhliches Allerlei", „Im Jahreslauf".

Die Kinderwelt war heiter und wohl geordnet, und die erziehenden Erwachsenen hatten im Namen von Norm und Kultur selbstverständlich eine Führungsrolle. In seinem viel beachteten Buch „Führen oder Wachsen lassen" sagt Litt (1958): „ Eine Erziehung, die allen Ernstes nichts weiter täte, als den Neigungen und Bedürfnissen des Kindes nachgehen, den Fragen des Kindes Antwort geben, den Beschäftigungen des Kindes Unterstützung leisten, wäre in ihren Konsequenzen nichts Geringeres als der Rückfall in die Barbarei".

Geradezu passend zu solcherlei pädagogischen Vorstellungen und Idealen trat ich im Sommer 1959 meine erste Lehrerstelle in einer zweiklassigen Dorfschule im Bergischen Land an. In 31 Wochenstunden hatte ich in einem Klassenraum (in dem sich nachmittags die Mäuse vergnügten) die Jahrgänge 1 bis 4 zu unterrichten, ohne in irgendeiner Weise darauf vorbereitet gewesen zu sein. Ich hatte während meines Studiums zwar ein Stadtschul-, aber kein Landschulpraktikum mehr machen können.

Praktische Hilfe kam auch von der Junglehrerarbeitsgemeinschaft nicht. Sie fand alle 4 Wochen statt, d.h. alle 4 Wochen trafen sich die Junglehrer eines Schulamtsbezirkes, sahen sich eine Stunde Unterricht an und diskutierten dann darüber. Doch keine Schulsituation war wie meine. Also musste ich – wie die anderen – selber versuchen, mich durchzuwursteln, um schulisch zu überleben. Hilfe gab es in meiner eigenen Schule nicht. Der sog. 1. Lehrer war aus der „Ostzone" gekommen, unterrichtete die Klassen 5 bis 8 nach seinen eigenen Regeln, nannte mich seine älteste Schülerin, konnte mir bei meinen Problemen aber keine Hilfestellung geben. Bücher waren nicht vorhanden, und die nächste Stadt konnte ich ohne Auto kaum erreichen. Der Bus fuhr nur einmal in der Woche. Einen Leitfaden hatte ich mir allerdings gekauft: „Das Bildungsgut der Volksschule" (Hermeler/Kroll, 1057). Es gab uns einen Stoffverteilungsplan für alle Jahrgänge an die Hand. Die Unterrichtsform sollte der Gesamtunterricht sein, d.h. alle Fächer, auch die „Leibesübungen", standen unter einem – von der Heimatkunde bestimmten – Leitthema.

Als Themenkreise für das 3. Schuljahr waren z. B. folgende aufgeführt:

Die Schule und ihre Umgebung – Die Nachbarschaft von Schule und Elternhaus – Bald gibt es Ferien – Herbsteszeit, Erntezeit – Sonne, Mond und Sterne – Novembertage erinnern an Not und Leid – Weihnachten naht – Unsere Stadt im Winterkleid – Arbeit gibt Brot – Der Frühling kommt – Überall wird wieder gebaut

Nach einem Jahr wurde ich in die Kleinstadt Gevelsberg versetzt. Welche Verbesserung der Verhältnisse! Ich hatte nur noch 2 Klassen zu betreuen: ein 3. Schuljahr mit 52 Kindern und ein erstes mit 36 Kindern. Außerdem hatte ich dort ein Kollegium, das ich fragen konnte, und einen Mentor, der hin und wieder meinen Unterricht besuchte und mir beratend zur Seite stand. Für meine Klassen trug ich trotzdem allein die volle Verantwortung.

Ebenso wohl fühlte ich mich in meiner nächsten Schule in Gartnisch, in die ich nach meiner Verheiratung 1961 versetzt wurde. Obwohl ich hier ein 3. und 4. Schuljahr in einem Klassenraum und weitere Stunden im 7./8. Schuljahr zu unterrichten hatte, war das Pensum zu schaffen und mein Schulrat in Halle sehr hilfreich. So langsam hätte ich mich jetzt auf meine 2. Prüfung vorbereiten müssen.

Doch 1962 wurde mein erster Sohn geboren. Prompt hörte ich 3 Monate später auf zu arbeiten und widmete mich fortan meinen Mutter- und Hausfrauen pflichten. Zum einen „gehörte" sich das so, zum anderen gab es keinerlei Betreuungsangebote. Ich war der festen Überzeugung, dass mein Berufsleben damit beendet war und ließ mir sogar meinen Pensionsanspruch auszahlen. Wir konnten jeden Pfennig gebrauchen!

Auch meinen Söhnen (1966 wurde der 2. geboren) las ich Märchen und brave Geschichten vor und sang mit ihnen all die lieben Kinderlieder, die ich von früher kannte. Mein Lehrerwissen blieb auf dem Stand von 1960 stehen und versank in einen Dornröschenschlaf.

Erst als mein ältester Sohn 1969 in Schloß Holte eingeschult wurde, bekam ich wieder Kontakt zu meinem früheren Arbeitsfeld. Der Lehrermangel war noch groß. Also wurde ich heftig umworben, hatte inzwischen auch wieder Lust auf eigene Berufstätigkeit und fing daher 1970 an, in der Grundschule meines Sohnes zu arbeiten. Aus der Volksschule waren inzwischen Gund- und Hauptschule geworden.

Das war aber nicht die einzige Veränderung, die ich zu verarbeiten hatte.

Überraschender und zunächst befremdlicher waren die inhaltlichen Umbrüche, die mittlerweile stattgefunden hatten. Sie begegneten mir v. A. in der Haltung einer jüngeren Kollegin, die mir als Mentorin zugeteilt wurde. Denn sie vertrat - intellektuell und menschlich überzeugend - einen für mich völlig neuen, emanzipatorischen Ansatz von Unterricht und Bildung und verwarf damit alle meine bisherigen Theorien.

Ihr Mann arbeitete gerade an dem Lesewerk „Bunte Drucksachen", das nach seinem Erscheinen 1974 wegen seiner antiautoritären Anteile in manchen weiterführenden Schulen für allerlei Unruhe sorgte. Sie war natürlich in dessen Entstehungsgeschichte und Gedankenwelt involviert und teilte diesen pädagogischen Ansatz voll.

Das Inhaltsverzeichnis für das 4. Schuljahr enthielt z. B. folgende Themenkreise: Unsere Umwelt (mit Texten wie „Wohnfabriken", „Mit drei kleinen Kindern kriegt man keine Wohnung") – Probleme und Entscheidungen - Gerüchte – Menschen, die anders sind – Streit – Krieg – Natur und Technik – Armut und Reichtum – Abhängigkeiten – Anpassung – Werben, Verkaufen, Kaufen.

Mit der Idylle war es vorbei. Schon 10jährige Kinder sollten sich mit den Problemen der Welt auseinandersetzen und ihre eigene Rolle reflektieren.

Nun fand Bertold Brecht mit Gedichten Eingang in einen Grundschulkanon:

Der Obstbaum

Der Obstbaum, der kein Obst bringt,

Wir unfruchtbar gescholten,

Wer untersucht den Boden?

Der Ast, der zusammenbricht,

wird faul gescholten.

Aber hat nicht Schnee auf ihm gelegen?

Selbst mit alten, historischen Ereignissen wurden die Schüler konfrontiert:

Schuldig an der Pest

Judenverfolgung in Straßburg 1349

In Straßburg wohnen die Juden in einem besonderen Judenviertel. Es ist jedoch für seine Bewohner zu eng geworden und müsste deshalb vergrößert werden.

Der Jude Jajob Salvarez bittet daher den Rat der Stadt Straßburg um den verkauf von Land. Diese Bitte wird abgeschlagen.

Kurz darauf bricht in Straßburg die Pest aus. Es wird gemunkelt, dass die Juden die Brunnen vergiftet haben, weil sie sich für die Ablehnung ihrer Bitte rächen wollen.

Bestürzt und verwirrt rieb ich mir die Augen. Solche Texte für Kinder?

Im Band für das 3. Schuljahr stellte das Gedicht von Susanne Kilian die heile Kindheitswelt in Frage:

Kindsein ist süß?

Tu dies! Tu das!

Und dieses lass! ...

Sitz nicht so krumm!

Mein Gott, bist du dumm! …

Schon wieder ‚ne Vier!

Hol doch endlich Bier!

Sau dich nicht so ein!

Das schaffst du allein! …

Lass das Geklecker!

Fall mir nicht auf den Wecker!

Mach die Tür leise zu!

Lass mich in Ruh!

Kindsein ist süß?

Kindsein ist mies!

Einen ähnlichen Tenor hat ein Gedicht von Karl Foltz für das 2. Schuljahr:

Sonntag

Wenn ich mein Sonntagskleid anhabe, darf ich

nicht laufen, nicht springen,

nicht pfeifen, nicht singen, …

nur: grad’ sitzen,

grad’ stehen,

spazieren gehen und fernsehen und brav sein,

brav sein,

brav sein!

Kurzum:

Das Scheiß-Sonntagskleid bringt mich noch um!

Ei-weih!,

ei-weih! Wär der stinklangweilige Sonntag nun endlich vorbei!

Ich begann, meine bisherigen Erziehungsbemühungen zu hinterfragen. Sollten sie alle falsch gewesen sein? Natürlich versuchte ich zunächst noch, meinen traditionellen Standpunkt zu verteidigen. Bis ich dann selbst mehr fühlte als erkannte, welche Aufbruchstimmung, Freiheit und Vitalität in all dem Umstürzenden steckte.

Auch ich war plötzlich in der Lage, mich von einengenden Konventionen zu befreien und mein Leben neu zu begreifen. Ich fragte und las und suchte Antworten. Nach wie vor lag die Haushaltsorganisation natürlich voll in meiner Hand, trotzdem fand ich jetzt – nachdem ich meine 2. Prüfung bestanden hatte - die Zeit und die Möglichkeit, zumindest einmal in der Woche zur Universität Bielefeld zu fahren, um in pädagogischen Seminaren etwas über das unerhört Neue zu erfahren. Das gelang – wegen der in diesem Bereich tätigen, älteren und konservativeren Professoren - allerdings nicht so unmittelbar. Es war vielmehr eher als Stimmung unter den Studenten zu erspüren als konkret zu erlernen. Die Umorientierung wurde weit deutlicher durch die Gespräche mit der Kollegin angestoßen und später im Gedankenaustausch mit Fachleitern vertieft.

Doch eins wurde mir in der Universität auf jeden Fall bewusst: die neue Definition der Frauenrolle. Ich begann, auf die Frauenbewegung aufmerksam zu werden.

Das blieb nicht ohne Folgen auf meine Hausfrauen- und Mutterrolle, auch wenn sich familiär äußerlich nichts änderte. Ich begann, meine eigenen Interessen stärker zu berücksichtigen.

In der Schule versuchte ich, Pichts Erkenntnisse, dass das katholische Mädchen auf dem Lande die schlechtesten Bildungsaussichten hatte, ernst zu nehmen und dem Trend entgegen zu wirken. In meiner katholischen Gemeinde bemühte ich mich daher so manches Mal, die Eltern davon zu überzeugen, ihre begabten Töchter zum Gymnasium zu schicken.

Mein gesellschaftspolitisches Interesse war geweckt. Ich wollte aktiv werden und trat 1978 in die SPD ein. Später war ich dann ein paar Jahre Mitglied des Gemeinderates.

In der evangelischen Kirchengemeinde gründete ich eine Kinder- und Jugendbücherei. Die nächste Generation sollte ihren Lesehunger stillen können und nicht mehr - wie ich als Kind - unter einem Mangel an Zeit und Büchern leiden.

Im Laufe dieser Jahre wuchsen mir immer mehr Kräfte zu. 1979 machte ich mein Diplom. 1983 wurde ich Fachleiterin und konnte nun meine inzwischen wieder gemilderten und auch abgewandelten Positionen anderen vermitteln. 1989 wurde ich Schulleiterin. Immer noch relativ progressiv versuchte ich natürlich auch hier, meine Vorstellungen umzusetzen. Ein neuer Lernprozess war unumgänglich, vor allem hinsichtlich meiner Persönlichkeit in einer Führungsrolle. Die pädagogische Philosophie hatte sich schon seit einer Weile wieder stärker dem Erziehungsgedanken – allerdings im Sinne der Reformschule - zugewandt.

Parallel dazu ereignete sich in dieser Zeit etwas, das wohl alle Menschen in Deutschland ungemein bewegte: die Mauer zur Wiedervereinigung öffnete sich. Ein unerwarteter, beglückender Vorgang! Noch bei unserem letzten Verwandtenbesuch in den Herbstferien 1989 hatten wir viel Depressivität wegen der aussichtslosen Lage gespürt. Und nun dies!

Sofort versuchten wir im Kollegium, Kontakte zu Lehrern nach „drüben" zu knüpfen. Schon nach wenigen Monaten besuchten einige Lehrerinnen aus Leipzig und Rostock meine Schule und hospitierten im Unterricht. Zwei Kolleginnen und ich nahmen kurz darauf mit eigenen Referaten an einer Tagung in Rostock teil.

Heute bin ich im Ruhestand, und nach all den Jahren der familiären und beruflichen Erziehungstätigkeit und den damit verbundenen Konflikten lautet meine augenblickliche Erkenntnis etwa so: Die Theorie ist einfacher als die klein deklinierte Praxis. Und Konventionen haben durchaus ihren Wert.

Den Enkelkindern versuche ich daher, unsere Traditionen und die Sprichwörter meiner Mutter weiter zu geben. Dennoch würde ich der Enkeltochter nie mehr die alte Frauenrolle zuordnen wollen, sie würde sie auch selbstverständlich ablehnen. Neulich im Freilichtmuseum interessierte sie sich genau so wie ihr jüngerer Bruder für die Technik in der Schmiede und in den Mühlen.

Aber beide lieben sie auch Märchen: vor allem auf Videokassetten.