Zeitzeugenberichte    - Familie und Gesellschaft -

  
Josef 

AUTORITÄTEN

„Wir erwarten von Ihnen standesgemäße Kleidung!" Mit diesem Satz entließ mich der Schulleiter einer berufsbildenden Bündelschule nach einem Vorstellungsgespräch – vorerst. In wenigen Wochen nach den Herbstferien im Oktober 1962 sollte ich mein Lehrerdasein an seiner Schule beginnen, so war es besiegelt. Ich warf einen kurzen neugierigen Blick in das Lehrerzimmer, seine Türen waren weit geöffnet. Die zukünftigen Kollegen trugen Krawatte und Jackett. Ich wusste, was von mir erwartet wurde und was ich meinem neuen Stand schuldig war. Ich wusste auch, dass ich für den Schuldienst geeignet war, nach den langen Mühen des 2. Staatsexamens hatte man mir das in aller Form schriftlich mitgeteilt. Was konnte mir nun noch passieren?

Ich konnte mir meine Unruhe und innere Spannung nur erklären aus der Unwissenheit, meine zukünftige Tätigkeit betreffend. Niemand hatte mit mir über Unterricht, über Schülerinnen und Schüler gesprochen, mit denen ich arbeiten würde. Alle Mühen und Anstrengungen galten den Voraussetzungen und der Form, die meinem Einstieg vorauszugehen hatten: Zeugnisse über meine Abstammung, über einwandfreie Führung, über meine Gesundheit und bestandene Examen waren in doppelter Ausfertigung beizubringen, die – wenn sie denn abgeliefert waren und nichts Nachteiliges beinhalteten - eine provisorische Sicherheit vermittelten, letztendlich aber meine Unruhe nicht beseitigen konnten.

Wenige Tage vor Beginn des neuen Dienstes bekam ich meinen Stundenplan zugeschickt. Ich konnte ihm entnehmen, wann ich wo zu sein hatte. Mühsam versuchte ich die Kürzel der Klassen zu entziffern, die mir zudiktiert waren. Erst später erkannte ich die hierarchische Ordnung im Kollegium und in seinem Einsatz in den unterschiedlichen Klassen: Als Jüngster hatte ich mit jungen Leuten zu arbeiten, die in der öffentlichen Wertschätzung am unteren Ende angesiedelt waren. Mit der Dauer des Dienstes und dem Wachsen des Ansehens bei der Schulleitung und im Kollegium, weniger bei den Schülerinnen und Schülern, bestand Aussicht auf Arbeit in angeseheneren Klassen.

Mit dem Beginn meines Unterrichtens - dem berühmten Sprung ins kalte Wasser – änderte sich alles: Voraussetzungen und Formalitäten traten in den Hintergrund, Fragen nach Verhaltensformen und standesgemäßer Kleidung wurden nebensächlich. Sprache, Auftreten, Stoffvermittlung stellten in den verschiedenen Lerngruppen hohe Anforderungen, dass daneben nichts mehr wichtig erschien. Im Kollegenkreis bekamen vor allem die Personen eine Bedeutung, die offen redeten, ihre Erfahrungen mitteilten und mir so Vergleichsmöglichkeiten boten. Ich hatte Glück. Vor allen anderen bot sich ein älterer Kollege, Abteilungsleiter in einem mir fremden Bereich und hierarchisch auf einer höheren Ebene, als Gesprächspartner an. Er erklärte mir Zusammenhänge unserer differenzierten Schulform, er nannte Entwicklungen der Schule in seinem schon langen Lehrerdasein, er machte mich – fast väterlich – auf Sonderheiten und Gefahren aufmerksam. Er erzählte z. B. von einem Kollegen, in dessen Klassen ich eingesetzt war, von seiner Position als Schulleiter während der NS-Zeit, von seiner Entnazifizierung und Degradierung. Folgerichtig sprach er von dessen Nachfolger, dem derzeitigen Chef, von seinem schwierigen Start bald nach Kriegsende als aus dem Osten Vertriebener, von dem schwierigen Verhältnis des jetzigen mit dem ehemaligen Schulleiter. Er erzählte auch von seiner Familie, vor allem von seinem Sohn, der Referendar in Hannover war und in den nächsten Monaten sein 2. Staatsexamen ablegen würde. Es bestünden gute Aussichten, dass er zum neuen Schuljahr in unserer Schule angestellt würde. Und sozusagen als Erklärung für seine Offenheit und Freundlichkeit mir gegenüber gestand er ein, dass er sehr glücklich wäre, wenn wir, sein Sohn und ich, in einer immer größer und anonymer werdenden Institution partnerschaftlich und freundschaftlich zusammenarbeiten würden.

Mit ihm, dem Sohn, kam zum neuen Schuljahr eine junge Kollegin. Die Gefahr, zum Einzelkämpfer zu werden, schwand in dem Maße, als Zusammenarbeit immer häufiger abgesprochen wurde, Teambildungen – auch über den Kreis der Jüngeren im Kollegium hinaus – angenehmeres und erfolgversprechendes Arbeiten ermöglichten. Die Initiativen kamen von unten, von einzelnen Lehrern. Sie wurden intern verhandelt, niemand wäre auf die Idee gekommen, Vorschläge etwa in einer Lehrerkonferenz zu machen, zumal sie sich noch gar nicht als demokratisches Gremium verstand und vom Schulleiter als solches zugelassen wurde. Mein älterer Kollegenfreund hatte auch bei seinem Sohn gut vorgearbeitet. Wir „Jungen" gingen offen aufeinander zu, gestanden uns Fehlverhalten und Niederlagen ein und kümmerten uns zusammen um guten Unterricht. Die Schulleitung blieb außen vor, förderte oder behinderte uns nicht. Uns kam gar nicht die Frage, was von unseren Aktivitäten von ihr überhaupt wahrgenommen wurde.

So verlief mein erstes Dienstjahr im Nu, vielleicht weil die Arbeit anspruchsvoll und anstrengend war, vielleicht auch, weil uns die auftretenden Schwierigkeiten als nachvollziehbar und deshalb als lösbar erschienen. Dann ereigneten sich ein paar unvorhersehbare Zwischenfälle, die meine Unvoreingenommenheit dem System Schule gegenüber und die althergebrachte Ordnung der Institution veränderten. Mich traf ganz persönlich ein auf den ersten Blick eher unbedeutendes Ereignis. Wir – im besonderen mein junger Mitstreiter und Kollegensohn und ich – hatten unendlich viel zu erzählen, abzusprechen, zu planen, für das Zeiten offiziell nicht vorgesehen waren. Blieben die Pausen, die sich aber bald als die hektischten Zeiten im Schulgebäude erwiesen. Nach Pausenschluss begab ich mich auf den längeren Weg in meine Klasse, mein neuer Kollege begleitete mich, um die knappe Zeit zu nutzen. Wir standen noch redend vor meinem Klassenraum, als sich mit raschem Schritt der Schulleiter näherte, um mir – und nur mir - in bis dahin nicht erlebter Weise den „Marsch zu blasen", Verletzung der Dienstpflicht war die Kernaussage der langen Zurechtweisung. Er hatte ja Recht, ich hatte die Pause um einige Minuten überzogen und begab mich schuldbewusst in meine Klasse. Als ich nach Schulschluss meinen Kollegen traf und ihn noch ein wenig wehleidig beglückwünschte, dass ihn die Freistunde zur passenden Zeit vom Unheil verschont habe, musste er mir kleinlaut gestehen, auch er habe zur fraglichen Zeit im Unterricht sein müssen.

Erst nach diesem kleinen Ereignis begann ich mir Gedanken über Führungsqualitäten, über Mut und Feigheit meiner Vorgesetzten, über die Bedeutung von Macht und die Angst vor Machtverlust in einem sozialen Gebilde wie Schule zu machen. Ich konnte mich in der Folgezeit über weiteres Anschauungsmaterial nicht beklagen. Überraschend – jedenfalls für mich – wurde der erwähnte ehemalige degradierte Schulleiter in eine Lehrplankommission ins Kultusministerium berufen, was eine längere Beurlaubung von seinem Unterricht nach sich zog. Nach dieser Tätigkeit übernahm er die Leitung eines Bezirksseminars für die Lehrerausbildung, so dass er an unsere Schule nicht wieder zurückkehrte. Gegen die übliche Praxis wurde ich zur Vertretung eingesetzt in meinen Fächern, für die ältere Fachkräfte nicht zur Verfügung standen, auch in der Berufsaufbauklasse, der am obersten Ende der Wertschätzung rangierenden Lerngruppe. Und etwas für das gesamte Kollegium Unfassbares geschah: Mein väterlich beratender Kollege erkrankte plötzlich und starb nur wenige Wochen später. Sein Sohn, der genau der Fachrichtung seines Vaters gefolgt war bis in seine Schule, in der dieser Jahrzehnte gewirkt hatte, war auch der Einzige im Kollegenkreis, der seine Nachfolge übernehmen konnte. So war innerhalb kürzester Zeit das streng befolgte hierarchische System gleich an mehreren Stellen durchbrochen.

Die Reaktionen in Schulleitung und Kollegium stellten sich sehr unterschiedlich dar. Während wir „Jungen" von einigen mitstreitenden Kollegen in unserem neuen Tätigkeitsfeld unterstützt wurden, sahen andere den Anfang vom Ende unserer geachteten Anstalt gekommen. Ich erinnere mich an eine unangenehme Episode: Der stellvertretende Schulleiter betrat unangemeldet und im Verlauf meiner Unterrichtsstunde den Klassenraum mit der kurzen Erklärung, er würde jetzt hospitieren. Seine Reaktion nach Unterrichtsschluss zeigte deutlich, dass es sich hier um einen Akt der Aufsicht handelte, nicht um Beratung, wie ich sie sicher nötig gehabt hätte am Anfang meiner neuen Tätigkeit. Für seine Rückmeldung reichte der Weg vom Klassenzimmer zu seinem Schulleiterzimmer. Die fehlende Information und mangelnde Offenheit insgesamt in einem hierarchisch gegliederten System macht(e) alle Unterrichtenden unsicher und leistete der Spekulation Vorschub. Wir spürten diesen Mangel und die in ihm liegenden Gefahren immer deutlicher, hatten aber (noch) nicht den Mut und die Gelegenheit, ihn offen zu benennen und zu diskutieren.

Wir waren aber in wachsendem Maße sensibilisiert für Erscheinungsformen, die sich ergaben aus unterdrückter Sprache und fehlender Auseinandersetzung. Wir begannen die aufkommende Rebellion in unseren Klassen Mitte der sechziger Jahre als Folge der Sprachlosigkeit zu begreifen. Uns um Verständnis zu bemühen und - wenn wir es denn erreichten – vor Schülern zuzugeben, dass sie mit ihrer oppositionellen Haltung ja Recht haben könnten, brachte uns wiederum in Opposition zu den Führungskräften, die eine straffe und bedingungslose Hand als einziges Mittel zur Durchsetzung der Bildungsziele ansahen. Auf welche Seite sollten wir uns schlagen? Bevor ich fähig und bereit war, auf diese Frage für mich eine Antwort zu geben, wurde ich von unseren Schülerinnen und Schülern auf ihre Seite gezogen.

Der Kultusminister reagierte 1967 auf die steigende Unzufriedenheit und teilweise gewaltsame Aufmüpfigkeit der jungen Generation mit seinem SMV-Erlass (Schülermitverwaltung). Ihm entsprechend sollte in jeder Schule der Sekundarstufen ein Schülerparlament gebildet werden, das bei wichtigen Schulentscheidungen zu konsultieren und bei der Durchführung von schulischen Maßnahmen zu beteiligen war. Ohne dass die Bedeutung und mögliche Wirkung dieses neuen Schülergremiums auf die konkrete Lehranstalt besprochen worden wäre, ordnete unsere Schulleitung der Weisung entsprechend die Durchführung des Erlasses für das kommende Schuljahr (1967/68) an, sicher nicht aus innerer Überzeugung, eher im Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Die Haltung der Klassenlehrer, die die Wahlmodalitäten in ihren Klassen erklären und die Durchführung der Wahlen der Schülervertreter beaufsichtigen mussten, reichte von euphorisch, unbeteiligt bis ablehnend. Als Gelenkstelle zwischen Schulleitung/Kollegium auf der einen Seite und der Schülerschaft auf der anderen sollte ein sogenannter Vertrauenslehrer fungieren, der von Schülern zu wählen war. Ausgerichtet auf den damals unter jungen Leuten kursierenden Slogan „Trau keinem über dreißig!" war die Auswahl unserer Schüler nicht groß. Gerade noch dreißigjährig wurde ich gewählt, und angesichts völliger Unkenntnis, was da auf mich zukam, hielt sich mein Stolz und meine Freude über die neue Aufgabe in Grenzen.

Eine von Schülern gewählte, offiziell bestallte und sogar mit einer Ermäßigung des üblichen Arbeitssolls ausgestattete Lehrperson hatte es noch nie gegeben und entsprechend fremd und zurückhaltend, teilweise sogar misstrauisch mir gegenüber verhielten sich die meisten Kollegen, denn wenn sich wirklich ein Vertrauensverhältnis zwischen mir und irgendwelchen Schülern entwickeln würde, musste man damit rechnen, dass ich vom Lehrerverhalten erführe, das sich normaler Weise hinter verschlossenen Türen abspielte. Einige Kollegen wendeten sich von mir ab, mit denen ich sonst „normalen" Kontakt hatte, andere wurden über die Maßen gesprächig, erzählten von ihren Schwierigkeiten im Umgang mit besonders schwierigen Schülern, von ihren teils vergeblichen Versuchen, menschlich mit ihnen zu kommunizieren. Mit wurde sehr schnell klar, ich konnte Misstrauen nur verhindern oder abbauen, wenn ich offen und genau über meine neue Arbeit berichtete.

Für unseren Schulleiter wurde ich vom Tag meiner Wahl an zu einer wichtigen Person. Er wollte seine Schule in den Augen der Öffentlichkeit als ein modernes, dem Zeitgeist gegenüber aufgeschlossenes Unternehmen präsentieren, und das funktionierte nur, wenn er sich dem Schülerparlament gegenüber loyal verhielt. Seine innere Einstellung dem ganzen Unternehmen gegenüber war eher skeptisch bis ablehnend. Das Erscheinungsbild der Jugend damals, ihr öffentliches Verhalten ließ den Versuch zu ihrer Beteiligung am Schulgeschehen als einen riskanten Versuch erscheinen, der schnell scheitern und die Initiatoren als Idealisten und Träumer entlarven konnte. Damit das nicht passierte und er sich nicht der Lächerlichkeit ausgesetzt sehen musste, war der Vertrauenslehrer wichtig, den man – auch gegen die innere Neigung – bei Laune halten musste, denn er hatte – wenn überhaupt ein Lehrer – eine geringe Chance zu verhindern, dass dieses waghalsige Unternehmen nicht aus dem Ruder lief. In diesem einerseits günstigen Fahrwasser mitzusegeln, hätte für mich genau das verhindert, was sich langsam im Kollegium entwickelte, dass man nämlich offener über seine Unterrichtssituation redete, dass man gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchte. Ein bedingungsloses Einschwenken auf den Kurs des Schulleiters hätte meine Arbeit unglaubwürdig gemacht, auch insofern, als das hierarchische System ja keineswegs abgeschafft war.

Der stellvertretende Schulleiter stellte sich offen gegen die Einrichtung der SMV. Er redete von ihr als von der Spielwiese, die der Kultusminister den Schülern eingerichtet habe, und kämpfte als Verantwortlicher für den gesamten Stundenplan gegen jeglichen Versuch der Einflussnahme von Schülerseite. Bei schnell wachsenden Schülerzahlen waren unsere Räumlichkeiten überaus beengt, Unterricht musste auf den Nachmittag verlegt werden. Andererseits hatte unsere Schule ein riesiges Einzugsgebiet von einem Durchmesser von mehr als 40 Kilometern. Schulbusse verkehrten nur in wenigen Fällen. So war eine Unzufriedenheit der auswärtigen Schüler vorprogrammiert. Heftige Auseinandersetzung, in die ich als Vertrauenslehrer einbezogen wurde, gab es wegen dem Sportunterricht. Der Kultusminister hatte ihn verbindlich für unsere Klassen vorgeschrieben, bevor auch nur annähernd genügend Turnhallen zur Verfügung standen. Wir mussten Hallen benachbarter Schulen benutzen, die für Auswärtige natürlich erst am Nachmittag zur Verfügung gestellt wurden – damit entstand eine erhebliche Verschlimmerung unseres Notstandes. Es kam teilweise zu erbosten Boykottmaßnahmen der Schülerinnen und Schüler, die wegen fehlender Fahrmöglichkeiten zur elterlichen Wohnung erst gegen Abend gar nicht in der auswärtigen Turnhalle erschienen. Es bot sich also für den stellvertretenden Schulleiter ein geeignetes Feld zu demonstrieren, wohin eine zu rücksichtsvolle Pädagogik führen könne. Er ließ mich, wenn Sportlehrer mal wieder mit nur einer Handvoll Schülern ihren Unterricht in abgelegenen fremden Hallen durchgezogen hatten, aus meiner Klasse holen und machte Stunden lang seinem Ärger Luft, ohne dass wir zu Ergebnissen kamen, denn nur er redete. So fiel mein Unterricht aus, während er die unannehmbare Situation des Boykotts von Unterricht von Seiten einiger Schüler geißelte. Vermittlung aus einer Position zwischen allen Stühlen konnte von einem Vertrauenslehrer immer wieder neu versucht werden, meistens aber ergebnislos mit einem Aufwand von viel Zeit und Nerven.

Der Schulleiter wollte nicht in die Nähe eines Hardliners gerückt werden, er hatte offensichtlich große Angst, an den Pranger gestellt zu werden und in der Öffentlichkeit als Verhinderer von Schülerinitiativen, die zunehmend Gewicht bekamen, zu gelten. Er mischte sich in unsere Auseinandersetzung nicht ein. Vor allem, wenn es um die Durchsetzung von neuen öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen ging, zeigte er sich großzügig. Mitglieder des Schülerparlaments kamen mit einem uns unbekannten Erlass, der die Ausbildungstätigkeit im dualen System am Samstag begrenzte auf 12 Uhr am Mittag. Wir unterrichteten üblicher Weise über diesen Termin hinaus, unsere sechste Stunde z. B. endete erst um 12.30 Uhr. Sie konnte aber aus stundenplantechnischen Gründen nicht ganz gestrichen werde. Also fand der Vorschlag Gehör, am Samstag alle Stunden um fünf Minuten zu kürzen, so dass die 6. Stunde bereits um 11.55 Uhr endete. Schwierigkeiten bereitete unser Klingelsystem, das jede Woche umzustellen zu aufwendig gewesen wäre. Der Chef kam auf die geniale Idee, eine Handglocke anzuschaffen, mit der am Samstag Stundenanfang und –ende angezeigt werden sollte. Die Frage war, wer sollte und konnte diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen und zwölfmal am Vormittag wie ein Milchmann durch die weitläufigen Gebäude laufen, in denen mehrere hundert Schüler unterrichtet wurden? Der Schulleiter schlug den Verbindungslehrer vor. Obwohl ich diesen „ehrenvollen" Auftrag ablehnen konnte mit dem Argument, dass mein Unterricht noch weiter erheblich und deshalb unverantwortlich gekürzt würde, erntete ich den Spott meiner Kolleginnen und Kollegen über meine angedachte „Beförderung". Ich frage mich noch heute, ob insgeheim mein Vorgesetzter mit seinem Vorschlag den Verbindungslehrer als lästige und unnötig Unruhe bringende Person der Lächerlichkeit preis geben und damit ausschalten wollte oder ob er, ohne die Wirkung im Kollegium zu bedenken, voreilig und naiv versuchte, sein Ansehen im Schülerparlament aufzupolieren. Ob nun sein Handeln gedeutet wurde aus seinem nicht eindeutigen Taktieren oder aus fehlender Leitungskompetenz, er wurde von Schülern und Lehrern nicht ernst genommen, weil er „eierte", wie Schülervertreter es drastisch bezeichneten.

1969 feierten wir seinen 65. Geburtstag und verabschiedeten ihn dann in den Ruhestand. Es war schon vorher in der oberen Schulbehörde beschlossene Sache gewesen, dass nach seinem Ausscheiden die große Bündelschule geteilt würde. Die schülerreichste kaufmännische Abteilung wurde abgetrennt und eigenständige Schule unter der Leitung unseres bisherigen stellvertretenden Schulleiters. Ich blieb auf eigenen Wunsch in der Restschule, die immer noch die größere war und die Schwerpunkte Technik und Sozialpädagogik hatte. Da ein neuer Schulleiter noch nicht bestimmt war, der bisherige Stellvertreter wegen seines neuen Amtes nicht mehr zur Verfügung stand, wurde unsere überschaubar gewordene Anstalt 18 Monate lang vom ältesten Abteilungsleiter kommissarisch geleitet. Sein kollegialer Führungsstil, der hierarchische Ordnungsprinzipien vernachlässigte, und die Überschaubarkeit des kleiner gewordenen Kollegiums brachten eine Zeit der Besinnung. In welche Strukturen waren wir hineingeraten, welchen Umgangsformen konnten wir zustimmen, welche waren uns (unmerklich) aufgezwungen worden? Wie konnte auf die Forderungen aus den Reihen der Schüler reagiert werden? Was sollte in Folge unser Konzept sein, und was mussten wir tun, dass wir es auch umsetzen konnten, möglichst bevor eine uns unbekannte neue Führung unsere Pläne durchkreuzte? Fast hektisch wurde gearbeitet, zunächst ohne Schülerbeteiligung, Arbeitsgruppen gebildet, ein funktionierender Lehrerrat installiert. Wir merkten, dass vor allem wir gefordert waren, wenn wir authentisch antworten wollten auf die neuen Fragen unserer Schüler in der insgesamt unruhigen Zeit.

Auch äußerlich veränderte sich vieles in unserer Schule. Unsere jungen Damen aus der Hauswirtschaft erschienen neuerdings in modischen Hosen, was ihnen vorher untersagt war, die mutigsten Lehrer unterrichteten in offenem Hemd und Pullover – die standesgemäße Bekleidung wurde zum Relikt einer vergangenen Zeit und mit ihr ein wie auch immer geartetes Standesdenken. Türen blieben geöffnet, die vorher sorgfältig verschlossen bleiben mussten, z. B. zur Schulbibliothek. Klassenzimmer wurden umgeräumt, Tische und Stühle so angeordnet, dass offene Gespräche – auch unter Schülern – möglich wurden. Kurz – wir waren gut gerüstet, als der neue Schulleiter kam. Er kam nicht aus unserer Gegend, niemand kannte ihn vorher, natürlich hatte niemand von uns Einfluss nehmen können auf seine Berufung. Er nahm sich Zeit für uns und hörte uns gut zu, als wir ihm von unseren Vorstellungen erzählten. Er nannte uns seine Vorlieben und seine Grenzen. Er ließ uns weiter arbeiten nach den von uns entwickelten Vorstellungen – vorerst!!!

Jahre später habe ich zusammen mit unserem Fachlehrer für Psychologie eine Abmachung getroffen – allerdings beim Bier. Wir wollten nach unserer Dienstzeit in der Schule ein Buch schreiben über die Frage: Was macht das Amt mit seinem Träger? Er hat noch ein paar Jahre zu unterrichten.

 

Oktober 2003