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Zeitzeugenberichte - Familie und Gesellschaft - Josef
1959 Ein ehemaliger
Klassenkamerad aus unserer zweiklassigen Volksschule eröffnet ein
Fuhrunternehmen mit zwei gebrauchten Lastwagen. Er ist – wie ich – 22 Jahre
alt, hat nach seiner Schulentlassung eine Tätigkeit als Hilfsarbeiter ausgeübt.
Platz für seine Wagen bietet ihm der elterliche Kotten, dessen Erbe er sein
wird. Er liegt ganz in der Nähe meines Elternhauses. Für einen Wagen stellt er
einen hauptamtlichen Fahrer an. Den zweiten will er selber fahren. Er schließt
Verträge mit Tiefbaufirmen, für die er seine Wagen zum Bewegen von Aushub bei
Schachtarbeiten während der normalen Arbeitszeiten zur Verfügung stellen muss.
Für die Zeit nach Arbeitsschluss bis in die Nacht übernimmt er alle möglichen
Transportarbeiten, vor allem für Baufirmen, die wegen des Baubooms Höchstleistungen
erbringen. Nach gut einem Jahr kauft er einen neuen Mercedes LKW 322 mit großem
Dreiachserhänger. So bekommt er zusätzlich die Möglichkeit, während der
Nachtstunden Weserkies zu
transportieren. Ich konnte diese
Entwicklung aus der Nähe beobachten. Ich war Student und musste mir
eingestehen, nichts Vergleichbares zu Wege gebracht zu haben. Was zählten schon
Examen in Mittelhochdeutsch oder in neuerer Philosophie. Ich hatte zwar in den
Semesterferien regelmäßig bei einer Baufirma gearbeitet. Mich hatte von
Kindsbeinen an die Entwicklung von motorisierten Fortbewegungsmitteln
interessiert, von Fahrradhilfsmotoren über Motorräder, Roller, Kabinenroller
bis hin zu Treckern und Autos. Ich hatte deshalb ohne Schwierigkeiten und damals
ohne großen materiellen Aufwand Führerscheine
erworben. Ich hatte auch in meiner Baufirma für kurze Zeiten LKW gefahren, aber
was bedeutete das im Vergleich zum Inhaber eines Fuhrgeschäftes. Der Beneidete kam
eines Tages in den Semesterferien und fragte mich, ob ich nicht bei ihm als Aushilfsfahrer
einspringen könnte. Er bot mir einen Stundenlohn von DM 5,-- (ohne Abzüge).
Von einer solch reichlichen Entlohnung hatte ich bisher nur träumen können. So
fuhr ich stunden-, tage-, manchmal wochenweise, tagsüber, aber auch nachts,
manchmal tags und nachts. Ich verdiente Geld, wie ich es bis dahin nicht zur
Verfügung gehabt hatte. Der Tagdienst bei einem Tiefbauunternehmer verlief
meistens ruhig. Ein Baggerfahrer belud meinen Lastwagen, während ich träumen
konnte. Ich hatte den Aushub zu der angegebenen Stelle zu fahren, die manchmal
nur 100 Meter, manchmal einige
Kilometer entfernt lag. Ich kippte
ab, fuhr zurück, und der Vorgang wiederholte sich 50 oder 100mal am Tag. Ich
begann, die Baggerfahrer bei ihrer Arbeit zu beobachten, wie sie mit winzigen
abgezirkelten Finger- oder Armbewegungen ungeheure Kräfte da einsetzten, wo sie
größtmögliche Wirkungen hervorriefen. Ich bewunderte ihr präzises Arbeiten.
Dann fiel mir die Gestalt auf, die eigentlich nie fehlte. Sie stand
augenscheinlich an dritter und letzter Stelle der an der Baustelle Arbeitenden:
der Baggerfahrer als der Dominante, ohne den nichts lief, der bestimmte, wann
gearbeitet wurde und wann nicht, der seine Pausen machte und sie den anderen
aufzwang, der LKW-Fahrer als der Dienstleister und sie, die kleine Gestalt in
der Grube. Ich habe sie immer nur klein in Erinnerung, wobei ich nicht weiß, ob
sich die Kleinheit auf den Körperwuchs bezog, auf die kleine Wirkung, die sie
hervorrief mit ihrem Spaten als einzigem Arbeitsgerät oder ob die Kleinheit nur
auffiel im Vergleich zur immer größer werdenden Baugrube. Sie hatte die
Aufgabe, da nachzubessern, wo der Bagger nicht greifen konnte. Sie musste
richtig arbeiten, körperlich malochen, mit dem Spaten abstechen und die
herunterfallende Erde dahin tragen, wo die Maschine sie aufnehmen konnte. Man sprach nicht
miteinander, der Maschinenlärm und die Entfernung voneinander waren zu groß,
bis ich merkte, dass eine Verständigung über den Arbeitsvorgang hinaus nicht möglich
war wegen fehlender Sprachkenntnisse. Das ließ mein Interesse an diesen
Gestalten wachsen. Ich bekam bald heraus, dass Gastarbeiter aus südlichen europäischen
Ländern angeheuert wurden, die uns im Nachkriegsdeutschland beim Wiederaufbau
helfen sollten und so das sich abzeichnende Wirtschaftswunder mit in Gang
brachten. Meine Neugier trieb mich, jede Gelegenheit zu einem
Informationsaustausch mit dem Fremden zu nutzen, soweit er überhaupt wegen der
Sprachschwierigkeit in Gang kommen
konnte. Immerhin kannte ich bald seinen Herkunftsort, seine wirtschaftlichen
Grenzen, den derzeitigen Arbeitslohn, die provisorische Unterkunft usw.
Ich lud nach Feierabend sein
rostiges Fahrrad auf meinen Wagen und machte mit ihm einen kleinen Umweg in die
Nähe zu seinem „Zuhause“. Morgens fuhr ich den gleichen Weg in umgekehrter
Richtung, er stand pünktlich am Weg, stieg ein und ersparte sich so die mühsame
Fahrt mit dem Fahrrad. Unsere Verständigung machte Fortschritte. Wenige Tage
unserer gemeinsamen Fahrten waren vergangen, als mir der Baggerfahrer schon vor
Arbeitsbeginn seinen Unwillen kundtat: Lass ihn mit seinem Fahrrad fahren. Die müssen
selber sehen, dass sie hier fertig werden, wenn sie mit uns gleichgestellt sein
wollen. 1969 Wir wussten
genau, was uns, eine junge Familie, von der Stadt aufs Land zog. Weniger bedacht
hatten wir, dass wir in unserer neuen Umgebung
neugierig und zum Teil auch argwöhnisch beobachtet wurden. Was suchte
eine junge Lehrerfamilie in einer noch rein landwirtschaftlich orientierten
Umgebung? Begriffe wie Integration und Anpassung
bekamen Bedeutung, und als wir mit kleinen Andeutungen unsere
Bereitschaft bekundeten, häuften sich die Angebote zur Mitarbeit in Vereinen
und Ortsgruppen der Parteien, in Kirchenparlamenten und Elternpflegschaften. In einem nur
wenige Kilometer entfernt liegenden Dorf stand die alte ehrwürdige Kirche, der auch unsere
Landgemeinde zugeordnet war, und neben ihr ein altes, lange Zeit leerstehendes
Hotel, in dem einst Goethe übernachtet haben soll. Dieses vergessene Gemäuer rückte
in das allgemeine Interesse, als die Leitung der größten Fabrik des Ortes es
anmietete und ganze Scharen von Türken in ihm unterbrachte, die neuerdings in
dem Betrieb arbeiteten. Die neuen Gäste fielen auf, nicht nur wegen ihres ungewöhnlichen
Erscheinungsbildes. Sie standen in Gruppen vor dem Haus auf der Straße,
palaverten in unverständlicher Sprache, nahmen von dem Geschehen um sie herum
kaum Notiz. Die Einwohner des Dorfes wiesen auf sie hin, beobachteten das
fremdartige Verhalten, sprachen auch offen oder versteckt von Skandal. Eine
erste ernsthafte Auseinandersetzung mit dem neuen Phänomen muss wohl im
Pfarrgemeinderat erfolgt sein.
Jedenfalls sprach mich dessen Vorsitzender an. Man habe schon längere Zeit
beobachtet und erkannt, eine Veränderung dieses stummen Nebeneinanders sei nur
zu bewirken, wenn man miteinander reden könnte. Ob ich denn nicht, da doch
Lehrer, Sprachkurse anbieten könnte für wenigstens eine kleine interessierte
Gruppe, deren Mitglieder dann wieder als Multiplikatoren wirken könnten, so
dass wenigstens ein Minimalkontakt möglich sei. Das Bild, wie es sich seit
einiger Zeit böte, sei doch für beide Gruppen beschämend. In der Firma gäbe
es einen Kontaktmann für die Arbeitsbelange, über den könnte ein Sprachkurs
angeboten werden. Vierzehn Tage später
saß ich mit zwölf Türken mittleren Alters in einem Raum des kirchlichen
Gemeindehauses und versuchte mich verständlich zu machen. Meine Tätigkeit
wurde nicht bezahlt, wir arbeiteten motiviert, aber ohne einen vorgegebenen Plan
und ohne Leistungsdruck. So entwickelte sich langsam eine Atmosphäre, in der
ein pünktliches Schließen der auf neunzig Minuten verabredeten Arbeitszeit pro
Woche immer seltener wurde. Unüberlegt lud ich die Gruppe zum Bier in die
Gaststube des Hauses. Aber sie lehnte ab aus verständlichen Gründen, die mir
erst später einsehbar wurden. In der folgenden Woche bat mich ein Teilnehmer
mit wohlüberlegten Worten, nach der Arbeit mit in ihre Behausung zu kommen. Ich
willigte ein und bekam Einblick in die Enge und Bedürftigkeit ihrer Unterkunft.
Ich wurde in ein relativ großes ehemaliges Hotelzimmer geführt, in dem vier
Etagenbetten aufgestellt waren. In der Mitte des Raumes standen ein paar Stühle
um einen kleinen Tisch. Auf einigen der acht Betten lagen Männer und schliefen
oder lasen in Zeitungen. Sie hätten Nachtschicht von 10 Uhr abends bis 6 Uhr
morgens. Unbeeindruckt von dem fremden Besucher blieb alles in den gewohnten
Bahnen. Ein Teilnehmer brachte Tee, den er für seine Mitbewohner in Becher
goss. Mir stellte er eine Flasche Bier hin und ein Glas. Alle fanden Platz,
entweder auf den bereitgestellten Stühlen oder auf den umstehenden Betten. Es
begann ein stockendes Gespräch, das von hervorgekramten Fotos gelenkt in ihre
Heimat führte. Ich spürte ihr Heimweh und ihr Bestreben, mir von ihrem Leben
in der Türkei zu erzählen. Dieses im Alltag
verdeckte Anliegen förderte die Sprachkompetenz, und ich ließ gerne geschehen,
was sich als inneres Bedürfnis immer deutlicher herauskristallisierte. Ich hörte
auf, in erster Linie Deutschlehrer zu sein, wurde ihr aufmerksamer Zuhörer, der
sich immer besser in die radikalen Veränderungen
ihres Lebens hineindenken konnte. Wir studierten Landkarten, maßen
Entfernungen, träumten von gemeinsamen Fahrten oder Flügen in ein mir
unbekanntes Land, das ihre Heimat war. Es ist nie dazu gekommen. Ich frage mich
heute, was sich uns hinderlich in den Weg gestellt hat. Meine persönliche Erklärung
ist schnell parat: Ich wurde beruflich immer mehr in Anspruch genommen. Ich
glaubte meine verbleibende Zeit besser mit meiner Familie verbringen zu sollen.
In der Gemeinde gewöhnte man sich an die fremden, oft herumstehenden Männer,
sie hörten auf, Ärgernis zu sein. Und so schlief das Bedürfnis, sich kümmern
zu müssen, langsam ein. Auf der Seite der fremden Arbeiter wechselte die Trauer
über die verlassene Heimat mit dem Eifer, sich hier in Deutschland so
einzurichten, dass die neue Umgebung einen
Ersatz bieten konnte. Sie träumten nicht mehr in erster Linie von baldiger Rückkehr.
Der sichere Verdienst, die Aussicht auf eine angemessenere Wohnung, in der sie
vielleicht einmal auch mit Frau und
Kindern leben könnten, verdrängten
mehr und mehr Gedanken an die Heimat. 1985 In meiner
beruflichen Tätigkeit hatten sich inzwischen Veränderungen ergeben. Ich
arbeitete an zwei Dienstorten: der Schule wie eh und je und dem Studienseminar für
die praktische Ausbildung von Referendaren. Es war und ist üblich, dass die
Seminarleiter zum Teil im Unterricht ihrer Schule verbleiben, damit der
Praxisbezug nicht verloren geht. Die Regelung in der Aufteilung des Stundensolls
war so, dass für jeden auszubildenden Referendar eine Unterrichtsermäßigung
gewährt wurde, also viele Referendare gleich wenig Unterricht und umgekehrt.
Immer aber sollten mindestens fünf Stunden Unterricht
pro Woche gegeben werden. Die Studienseminare quollen über, wir bildeten
in der angegebenen Zeit mehr Lehrer aus, als sie später in Schulen
untergebracht werden konnten. Die Regierung, die einen Numerus clausus ablehnte,
verschob statt dessen die Einstellungstermine. Die Zeiten zwischen erstem
Staatsexamen und dem Eintritt ins Studienseminar und dem 2. Staatsexamen und dem
Beginn der Lehrertätigkeit wurden verlängert. Die ausgebildeten Lehrer konnten
sich, so hoffte man, in einem schulfremden Betätigungsfeld bewerben, und wenn
sie dort Erfolg hatten, würden sie auch dort bleiben. Wenn nicht, wäre
immerhin Zeit gewonnen, in der die Lehrerschwämme abebben konnte. Uns
Seminarleitern bescherte diese Regelung ausbildungsfreie Zeiten, in denen wir
mit unserem gesamten Stundensoll den Schulen zur Verfügung standen. Als ich mich in
meiner Schule meldete, in der ich
vorher höchstens ein oder zweimal in der Woche zur Arbeit erschien, und meinen
vollen Einsatz für kurze Zeit einforderte, schüttelte zuerst der Stundenplaner
den Kopf. Für kurze Zeit den laufenden Plan zu verändern, sei völlig
illusorisch. Meine Reaktion, ich wolle keine Umstände machen, vielleicht könnte
die Lösung sein, dass ich meine Schule in Ruhe ließe und dafür die Schule
mich, fand keine Gegenliebe. Und so landete mein „Fall“ auf der Tagesordnung
der Direktorenkonferenz, dem Leitungsgremium der Schule, vom Kollegium kurz
Elefantenrunde genannt. Die Besprechung führte zu einer Bestandsaufnahme: Können
wir mit unserer Arbeit zufrieden sein? Wo müsste nachgebessert werden? In den
vermeintlich anspruchsvolleren Klassen (gymnasiale Oberstufe, Fachoberschule, Höhere
Berufsfachschule) konnte kein zusätzlicher Unterrichtsbedarf festgestellt
werden. Geradezu chaotisch stellte sich die Situation in sogenannten Vorklassen
dar, in denen sich Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss
sammelten, die deswegen weder in Fachklassen untergebracht werden konnten noch
einen Ausbildungsvertrag in Handwerk oder Industrie erhielten. Sie sollten bei
uns Schulabschlüsse nachholen und an die Praxis bestimmter Ausbildungsberufe
herangeführt werden. Was aber tun, wenn in den Klassen kaum eine Verständigung
möglich war. Eine große Anzahl dieser Schülerinnen und Schüler befand sich
erst seit kurzer Zeit in Deutschland. Jeden Tag wurden uns z. B. neue Türkenkinder
zugeführt, die von ihren als Gastarbeiter arbeitenden Eltern nach Deutschland
geholt worden waren. Sie saßen apathisch, oft eingeschüchtert in den Klassenräumen,
ohne dem Unterrichtsablauf folgen zu können. Andere machten ihrer Langeweile
Luft, indem sie störten. Mir
wurde nach dieser Bestandsaufnahme schnell klar, wo ich meine Haupttätigkeit
in den nächsten Monaten finden würde. Folgendes Vorgehen wurde vereinbart: Aus
den beschriebenen Klassen sollten die Schülerinnen und Schüler mit den
geringsten Deutschkenntnissen herausgenommen werden und eine neue Lerngruppe
bilden, Gruppengröße 15. An vier Tagen der Woche sollte ich mit dieser Gruppe
arbeiten ( meine restliche Unterrichtsverpflichtung konzentrierte sich auf die
restlichen Tage). Einziges Ziel der Arbeit: schneller Spracherwerb. Die Dauer
der täglichen Arbeit richtete sich
nach den Fahrplänen der öffentlichen Verkehrmittel (in der Regel von 7.30 bis
13.00 Uhr). Unsere Arbeit war weder an Zeittakte (45Minuten) noch an einen
bestimmten Ort (Klassenraum, Schule) gebunden. Auf Leistungsnachweise in diesen
Monaten der Projektarbeit sollte verzichtet werden. Zu Beginn
meiner neuen Arbeit erlebte ich eine erste Überraschung. In dem Raum, in dem
sich die ausgesuchte Gruppe versammeln sollte, fand ich nicht nur fünfzehn Schülerinnen
und Schüler, sondern auch vier
erwachsene Männer, die klar erkennbar ihre Töchter schützten. Ich begann
meinen Unterricht, ohne die unerwartete Situation laut zu reflektieren. Ich hätte
mich gar nicht verständlich machen können. Ich konnte nur hoffen, dass ein
normaler Unterrichtsablauf – ob mit Verständigungsmöglichkeiten
oder ohne blieb eine offene Frage – das Misstrauen der Väter ihren gefährdeten
Töchtern gegenüber langsam abbauen konnte. Tatsächlich erschienen nach etwa
einer Woche die Töchter ohne ihre Väter zum Unterricht. Ich hatte den
Eindruck, dass die damit erfolgte Elternzustimmung
unser Projekt betreffend einen bemerkbaren Motivationsschub in der
Lerngruppe brachte. Wir arbeiteten in der Folgezeit
ohne Stress und doch ernsthaft und angestrengt. Wir entdeckten die
Einrichtungen des Klassenraumes und konnten sie bald benennen. Wir krochen in
alle Winkel des Schulgebäudes, ließen uns von Fachleuten erklären, was wir
sahen. Wir verließen das Schulgrundstück und entdeckten Plakatwände, Fahrpläne,
Gedenktafeln, Bekanntmachungen usw., die mit vereinten Kräften bald entziffert
werden konnten. Und langsam und unbemerkt entdeckten wir uns mit unseren Eigentümlichkeiten.
Neugierig und mit zunehmender Anteilnahme stellten wir unsere Fragen .
Bereitwillig gaben wir unsere Antworten. Und als nach fünf Monaten meine Arbeit
mit Referendaren wieder gefragt
war, musste das Projekt abgebrochen werden. Niemand fragte, was es
gebracht hatte. Für mich auffällig noch über längere Zeit
war ein ungewöhnlich häufiges und
lautes Grüßen sogar über Entfernungen hinweg. Offensichtlich erinnerten sich die Gruppenmitglieder noch gern an unsere
freie und wenig geordnete Zusammenarbeit. 1999
(es könnte auch gestern gewesen sein) Das duale
Ausbildungssystem ist eine eigentümlich deutsche Erfindung. Dass junge Menschen
in Betrieb und Schule auf ihren Beruf vorbereitet werden, gilt als eine
vielgepriesene Synthese von Theorie und Praxis, die das nötige Rüstzeug
für die Berufsausübung bietet. Meine Arbeit in berufsbildenden Schulen
begann 1962, und seither kenne ich die andauernde Auseinandersetzung, welcher
der beiden Ausbildungspartner für welche Ausbildungsinhalte verantwortlich ist.
Wenn Vereinbarungen über Inhalte getroffen waren, stand eine noch wichtigere
Entscheidung an: Ein wie großer Anteil der rund vierzigstündigen
Wochenarbeitszeit der Lehrlinge sollte den Ausbildungspartnern zugestanden
werden? Die Betriebe beanspruchten und beanspruchen die Lehrlinge
für den Löwenanteil der Zeit. Gleichzeitig
wird ein Jammern über fehlende elementare Kenntnisse bei den jungen Menschen - z. B. in den Grundrechnungsarten
und der Rechtschreibung - immer lauter vernehmbar und im Gefolge der Anspruch an
Schulen, für die Beseitigung der Defizite zu sorgen. Also muss die betriebliche
Arbeitszeit gekürzt werden zugunsten des Unterrichts. Es gibt einen unsäglichen
Erfindungsreichtum, wie man dieses
Problem lösen will (Die Betriebe sitzen natürlich am längeren Hebel, sie können
eine Ausbildung verweigern, wie viele Schulabsolventen leidvoll erfahren müssen). Ich will erzählen
von einer Mittelstufenklasse aus der Versorgungsabteilung einer gewerblichen
Berufsschule. In ihr sitzen ausschließlich Jungen, die Klempner und
Heizungsinstallateure werden wollen. Ihre Lehrzeit beträgt drei Jahre. Die
Klasse hat 26 Schüler, von denen etwa ein Drittel Deutsche, ein Drittel
Türken und ein Drittel Aussiedler (aus Russland und Polen) sind. Der
Berufsschulunterricht findet in der Unter- und Mittelstufe an zwei Tagen der
Woche mit je acht Stunden statt. In der Oberstufe schrumpft er auf sechs bis
acht Stunden, so dass die schon selbständiger arbeitenden Lehrlinge nur noch an
einem Wochentag in den Betrieben fehlen. Der vorgeschriebene berufsübergreifende
Unterricht (Deutsch, Politik, Sport, Religion oder Praktische Philosophie) wird
in fast allen Schulen verkürzt nur in den ersten beiden Ausbildungsjahren
erteilt. In der oben erwähnten Klasse habe ich ein halbes Jahr lang
eine Doppelstunde Deutsch zu erteilen, und zwar nach der Mittagspause von
13.00 bis 14.30 Uhr, für die Schüler sind das die 7. und 8. Stunde Unterricht
des Tages. Im zweiten Halbjahr wechsele ich die Klassen mit dem Politiklehrer. Eine Möglichkeit,
die Schüler zu motivieren in der ungünstigen Nachmittagszeit nach schon
anstrengenden sechs Unterrichtsstunden, besteht z. B., wenn es gelingt, mittels
Text in eine aktuelle Lebenssituation zu führen, die auf verschiedenen Wegen zu
bewältigen ist. Der Lehrer kann die Lösung genau so wenig benennen wie ein Schüler,
er steht mit in der Reihe, hat vielleicht für eine kurze Zeit die Möglichkeit
auf Besonderheiten in der Orthographie und den Satzbau hinzuweisen,
kleine Übungsaufgaben erledigen zu lassen. Das, was eigentlich erst Spaß
macht, ist die Diskussion um die Lösungen eines Problems aus verschiedenen
Gesichtspunkten. Ich hatte einen kleinen Zeitungsausschnitt vervielfältigt mit
Angaben über Wohnungsgrößen in Neubauten. Ich konnte die Schüler einbinden,
als ich sie nach ihren Erfahrungen am Bau befragte. Der Tatbestand, dass
zunehmend mehr Single-Wohnungen gebaut werden, führte schnell zu einer
Bewertung des Zusammenlebens mehrerer Generationen und des Zusammenhalts in den
Familien. Sprecher aus dem Kreis der Türken bekundeten schnell und vehement,
dass sie niemals ihre Oma oder ihren Opa in ein Altenheim schicken würden.
Sprecher der deutschen Schüler taten sich schwerer, Argumente für die Trennung
der Generationen zu formulieren. Sie fühlten sich in die Enge getrieben. Aus
der Gruppe der Aussiedler kamen selten dezidierte Meinungsäußerungen, sie
wehrten sich auch gegen Aufforderungen zu persönlichen Stellungnahmen. Eine Äußerung
kennzeichnete ihre Haltung: Wir können mit dieser Art Unterricht nichts
anfangen, weil wir nicht wissen, was die Lehrer eigentlich von uns wollen. So
waren erkennbar nur zwei Gruppen an der Auseinandersetzung beteiligt, sie
reagierten gereizt. Ein deutscher Schüler glaubte für seine Gruppe punkten zu
können: Ihr braucht keine Single-Wohnungen, ihr bleibt lieber in euren
Familien, in denen ihr euch wie Machos von Müttern und Schwestern bedienen
lasst. Es wurde spannend, selbst die schon schläfrig gewordenen Schüler wurden
wieder wach. Es entstand ein heftiger Schlagabtausch, in dem Begriffe wie
Emanzipation, Rückständigkeit und Heuchelei häufig verwendet wurden. Mit der
Frage eines Türken kehrte Ruhe ein: Wo gibt es denn bei euch noch so etwas wie
Familie? Ich hatte mich über
längere Zeit zurückgehalten. Jetzt musste ich reagieren, damit die Ruhe zum
Bedenken und nicht zur Entwicklung weiterer Aggressivitäten genutzt wurde. Ich
wollte mich nicht auf eine Seite stellen. Eine kurze Zusammenfassung des
Diskussionsstandes lenkte die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen
Argumentationsstränge. Mit einer simplen Bemerkung (eine bessere fiel mir nicht
ein) konnte ich die Stunde abschließen: Ihr seht, wie viel gerade eurer
Generation noch zu tun bleibt. Das Wort „Parallelgesellschaft“ war noch nicht gebräuchlich. Wir waren seinem Gehalt bedrohlich nah. Als ich nach Stundenschluss beobachtete, wie die verschiedenen „Lager“ miteinander umgingen und sozusagen inoffiziell weiter diskutierten, wusste ich: Es wird nicht das letzte Wort sein, das gesprochen wird. |
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