Zeitzeugenberichte    - Familie und Gesellschaft -

   

Josef 


Begegnungen mit Gastarbeitern

 

1959

Ein ehemaliger Klassenkamerad aus unserer zweiklassigen Volksschule eröffnet ein Fuhrunternehmen mit zwei gebrauchten Lastwagen. Er ist – wie ich – 22 Jahre alt, hat nach seiner Schulentlassung eine Tätigkeit als Hilfsarbeiter ausgeübt. Platz für seine Wagen bietet ihm der elterliche Kotten, dessen Erbe er sein wird. Er liegt ganz in der Nähe meines Elternhauses. Für einen Wagen stellt er einen hauptamtlichen Fahrer an. Den zweiten will er selber fahren. Er schließt Verträge mit Tiefbaufirmen, für die er seine Wagen zum Bewegen von Aushub bei Schachtarbeiten während der normalen Arbeitszeiten zur Verfügung stellen muss. Für die Zeit nach Arbeitsschluss bis in die Nacht übernimmt er alle möglichen Transportarbeiten, vor allem für Baufirmen, die wegen des Baubooms Höchstleistungen erbringen. Nach gut einem Jahr kauft er einen neuen Mercedes LKW 322 mit großem Dreiachserhänger. So bekommt er zusätzlich die Möglichkeit, während der Nachtstunden  Weserkies zu transportieren.

Ich konnte diese Entwicklung aus der Nähe beobachten. Ich war Student und musste mir eingestehen, nichts Vergleichbares zu Wege gebracht zu haben. Was zählten schon Examen in Mittelhochdeutsch oder in neuerer Philosophie. Ich hatte zwar in den Semesterferien regelmäßig bei einer Baufirma gearbeitet. Mich hatte von Kindsbeinen an die Entwicklung von motorisierten Fortbewegungsmitteln interessiert, von Fahrradhilfsmotoren über Motorräder, Roller, Kabinenroller bis hin zu Treckern und Autos. Ich hatte deshalb ohne Schwierigkeiten und damals ohne großen materiellen Aufwand  Führerscheine erworben. Ich hatte auch in meiner Baufirma für kurze Zeiten LKW gefahren, aber was bedeutete das im Vergleich zum Inhaber eines Fuhrgeschäftes.

Der Beneidete kam eines Tages in den Semesterferien  und fragte mich, ob ich nicht bei ihm als Aushilfsfahrer einspringen könnte. Er bot mir einen Stundenlohn von DM 5,-- (ohne Abzüge). Von einer solch reichlichen Entlohnung hatte ich bisher nur träumen können. So fuhr ich stunden-, tage-, manchmal wochenweise, tagsüber, aber auch nachts, manchmal tags und nachts. Ich verdiente Geld, wie ich es bis dahin nicht zur Verfügung gehabt hatte. Der Tagdienst bei einem Tiefbauunternehmer verlief meistens ruhig. Ein Baggerfahrer belud meinen Lastwagen, während ich träumen konnte. Ich hatte den Aushub zu der angegebenen Stelle zu fahren, die manchmal nur 100 Meter,  manchmal einige Kilometer  entfernt lag. Ich kippte ab, fuhr zurück, und der Vorgang wiederholte sich 50 oder 100mal am Tag. Ich begann, die Baggerfahrer bei ihrer Arbeit zu beobachten, wie sie mit winzigen abgezirkelten Finger- oder Armbewegungen ungeheure Kräfte da einsetzten, wo sie größtmögliche Wirkungen hervorriefen. Ich bewunderte ihr präzises Arbeiten. Dann fiel mir die Gestalt auf, die eigentlich nie fehlte. Sie stand augenscheinlich an dritter und letzter Stelle der an der Baustelle Arbeitenden: der Baggerfahrer als der Dominante, ohne den nichts lief, der bestimmte, wann gearbeitet wurde und wann nicht, der seine Pausen machte und sie den anderen aufzwang, der LKW-Fahrer als der Dienstleister und sie, die kleine Gestalt in der Grube. Ich habe sie immer nur klein in Erinnerung, wobei ich nicht weiß, ob sich die Kleinheit auf den Körperwuchs bezog, auf die kleine Wirkung, die sie hervorrief mit ihrem Spaten als einzigem Arbeitsgerät oder ob die Kleinheit nur auffiel im Vergleich zur immer größer werdenden Baugrube. Sie hatte die Aufgabe, da nachzubessern, wo der Bagger nicht greifen konnte. Sie musste richtig arbeiten, körperlich malochen, mit dem Spaten abstechen und die herunterfallende Erde dahin tragen, wo die Maschine sie aufnehmen konnte.

Man sprach nicht miteinander, der Maschinenlärm und die Entfernung voneinander waren zu groß, bis ich merkte, dass eine Verständigung über den Arbeitsvorgang hinaus nicht möglich war wegen fehlender Sprachkenntnisse. Das ließ mein Interesse an diesen Gestalten wachsen. Ich bekam bald heraus, dass Gastarbeiter aus südlichen europäischen Ländern angeheuert wurden, die uns im Nachkriegsdeutschland beim Wiederaufbau helfen sollten und so das sich abzeichnende Wirtschaftswunder mit in Gang brachten. Meine Neugier trieb mich, jede Gelegenheit zu einem Informationsaustausch mit dem Fremden zu nutzen, soweit er überhaupt wegen der Sprachschwierigkeit  in Gang kommen konnte. Immerhin kannte ich bald seinen Herkunftsort, seine wirtschaftlichen Grenzen, den derzeitigen Arbeitslohn, die provisorische Unterkunft usw.  Ich lud  nach Feierabend sein rostiges Fahrrad auf meinen Wagen und machte mit ihm einen kleinen Umweg in die Nähe zu seinem „Zuhause“. Morgens fuhr ich den gleichen Weg in umgekehrter Richtung, er stand pünktlich am Weg, stieg ein und ersparte sich so die mühsame Fahrt mit dem Fahrrad. Unsere Verständigung machte Fortschritte. Wenige Tage unserer gemeinsamen Fahrten waren vergangen, als mir der Baggerfahrer schon vor Arbeitsbeginn seinen Unwillen kundtat: Lass ihn mit seinem Fahrrad fahren. Die müssen selber sehen, dass sie hier fertig werden, wenn sie mit uns gleichgestellt sein wollen.

1969

Wir wussten genau, was uns, eine junge Familie, von der Stadt aufs Land zog. Weniger bedacht hatten wir, dass wir in unserer neuen Umgebung  neugierig und zum Teil auch argwöhnisch beobachtet wurden. Was suchte eine junge Lehrerfamilie in einer noch rein landwirtschaftlich orientierten Umgebung? Begriffe wie Integration und Anpassung  bekamen Bedeutung, und als wir mit kleinen Andeutungen unsere Bereitschaft bekundeten, häuften sich die Angebote zur Mitarbeit in Vereinen und Ortsgruppen der Parteien, in Kirchenparlamenten und Elternpflegschaften.

In einem nur wenige Kilometer entfernt liegenden Dorf  stand die alte ehrwürdige Kirche, der auch unsere Landgemeinde zugeordnet war, und neben ihr ein altes, lange Zeit leerstehendes Hotel, in dem einst Goethe übernachtet haben soll. Dieses vergessene Gemäuer rückte in das allgemeine Interesse, als die Leitung der größten Fabrik des Ortes es anmietete und ganze Scharen von Türken in ihm unterbrachte, die neuerdings in dem Betrieb arbeiteten. Die neuen Gäste fielen auf, nicht nur wegen ihres ungewöhnlichen Erscheinungsbildes. Sie standen in Gruppen vor dem Haus auf der Straße, palaverten in unverständlicher Sprache, nahmen von dem Geschehen um sie herum kaum Notiz. Die Einwohner des Dorfes wiesen auf sie hin, beobachteten das fremdartige Verhalten, sprachen auch offen oder versteckt von Skandal. Eine erste ernsthafte Auseinandersetzung mit dem neuen Phänomen muss wohl im Pfarrgemeinderat  erfolgt sein. Jedenfalls sprach mich dessen Vorsitzender an. Man habe schon längere Zeit beobachtet und erkannt, eine Veränderung dieses stummen Nebeneinanders sei nur zu bewirken, wenn man miteinander reden könnte. Ob ich denn nicht, da doch Lehrer, Sprachkurse anbieten könnte für wenigstens eine kleine interessierte Gruppe, deren Mitglieder dann wieder als Multiplikatoren wirken könnten, so dass wenigstens ein Minimalkontakt möglich sei. Das Bild, wie es sich seit einiger Zeit böte, sei doch für beide Gruppen beschämend. In der Firma gäbe es einen Kontaktmann für die Arbeitsbelange, über den könnte ein Sprachkurs angeboten werden.

Vierzehn Tage später saß ich mit zwölf Türken mittleren Alters in einem Raum des kirchlichen Gemeindehauses und versuchte mich verständlich zu machen. Meine Tätigkeit wurde nicht bezahlt, wir arbeiteten motiviert, aber ohne einen vorgegebenen Plan und ohne Leistungsdruck. So entwickelte sich langsam eine Atmosphäre, in der ein pünktliches Schließen der auf neunzig Minuten verabredeten Arbeitszeit pro Woche immer seltener wurde. Unüberlegt lud ich die Gruppe zum Bier in die Gaststube des Hauses. Aber sie lehnte ab aus verständlichen Gründen, die mir erst später einsehbar wurden. In der folgenden Woche bat mich ein Teilnehmer mit wohlüberlegten Worten, nach der Arbeit mit in ihre Behausung zu kommen. Ich willigte ein und bekam Einblick in die Enge und Bedürftigkeit ihrer Unterkunft. Ich wurde in ein relativ großes ehemaliges Hotelzimmer geführt, in dem vier Etagenbetten aufgestellt waren. In der Mitte des Raumes standen ein paar Stühle um einen kleinen Tisch. Auf einigen der acht Betten lagen Männer und schliefen oder lasen in Zeitungen. Sie hätten Nachtschicht von 10 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Unbeeindruckt von dem fremden Besucher blieb alles in den gewohnten Bahnen. Ein Teilnehmer brachte Tee, den er für seine Mitbewohner in Becher goss. Mir stellte er eine Flasche Bier hin und ein Glas. Alle fanden Platz, entweder auf den bereitgestellten Stühlen oder auf den umstehenden Betten. Es begann ein stockendes Gespräch, das von hervorgekramten Fotos gelenkt in ihre Heimat führte. Ich spürte ihr Heimweh und ihr Bestreben, mir von ihrem Leben in der Türkei zu erzählen.

Dieses im Alltag verdeckte Anliegen förderte die Sprachkompetenz, und ich ließ gerne geschehen, was sich als inneres Bedürfnis immer deutlicher herauskristallisierte. Ich hörte auf, in erster Linie Deutschlehrer zu sein, wurde ihr aufmerksamer Zuhörer, der sich immer besser in die radikalen Veränderungen  ihres Lebens hineindenken konnte. Wir studierten Landkarten, maßen Entfernungen, träumten von gemeinsamen Fahrten oder Flügen in ein mir unbekanntes Land, das ihre Heimat war. Es ist nie dazu gekommen. Ich frage mich heute, was sich uns hinderlich in den Weg gestellt hat. Meine persönliche Erklärung ist schnell parat: Ich wurde beruflich immer mehr in Anspruch genommen. Ich glaubte meine verbleibende Zeit besser mit meiner Familie verbringen zu sollen. In der Gemeinde gewöhnte man sich an die fremden, oft herumstehenden Männer, sie hörten auf, Ärgernis zu sein. Und so schlief das Bedürfnis, sich kümmern zu müssen, langsam ein. Auf der Seite der fremden Arbeiter wechselte die Trauer über die verlassene Heimat mit dem Eifer, sich hier in Deutschland so einzurichten, dass die neue Umgebung  einen Ersatz bieten konnte. Sie träumten nicht mehr in erster Linie von baldiger Rückkehr. Der sichere Verdienst, die Aussicht auf eine angemessenere Wohnung, in der sie vielleicht einmal auch mit  Frau und Kindern leben  könnten, verdrängten mehr und mehr Gedanken an die Heimat.

1985

In meiner beruflichen Tätigkeit hatten sich inzwischen Veränderungen ergeben. Ich arbeitete an zwei Dienstorten: der Schule wie eh und je und dem Studienseminar für die praktische Ausbildung von Referendaren. Es war und ist üblich, dass die Seminarleiter zum Teil im Unterricht ihrer Schule verbleiben, damit der Praxisbezug nicht verloren geht. Die Regelung in der Aufteilung des Stundensolls war so, dass für jeden auszubildenden Referendar eine Unterrichtsermäßigung gewährt wurde, also viele Referendare gleich wenig Unterricht und umgekehrt. Immer aber sollten mindestens fünf Stunden Unterricht  pro Woche gegeben werden. Die Studienseminare quollen über, wir bildeten  in der angegebenen Zeit mehr Lehrer aus, als sie später in Schulen untergebracht werden konnten. Die Regierung, die einen Numerus clausus ablehnte, verschob statt dessen die Einstellungstermine. Die Zeiten zwischen erstem Staatsexamen und dem Eintritt ins Studienseminar und dem 2. Staatsexamen und dem Beginn der Lehrertätigkeit wurden verlängert. Die ausgebildeten Lehrer konnten sich, so hoffte man, in einem schulfremden Betätigungsfeld bewerben, und wenn sie dort Erfolg hatten, würden sie auch dort bleiben. Wenn nicht, wäre immerhin Zeit gewonnen, in der die Lehrerschwämme abebben konnte. Uns Seminarleitern bescherte diese Regelung ausbildungsfreie Zeiten, in denen wir mit unserem gesamten Stundensoll den Schulen zur Verfügung standen.

Als ich mich in meiner Schule  meldete, in der ich vorher höchstens ein oder zweimal in der Woche zur Arbeit erschien, und meinen vollen Einsatz für kurze Zeit einforderte, schüttelte zuerst der Stundenplaner den Kopf. Für kurze Zeit den laufenden Plan zu verändern, sei völlig illusorisch. Meine Reaktion, ich wolle keine Umstände machen, vielleicht könnte die Lösung sein, dass ich meine Schule in Ruhe ließe und dafür die Schule mich, fand keine Gegenliebe. Und so landete mein „Fall“ auf der Tagesordnung der Direktorenkonferenz, dem Leitungsgremium der Schule, vom Kollegium kurz Elefantenrunde genannt. Die Besprechung führte zu einer Bestandsaufnahme: Können wir mit unserer Arbeit zufrieden sein? Wo müsste nachgebessert werden? In den vermeintlich anspruchsvolleren Klassen (gymnasiale Oberstufe, Fachoberschule, Höhere Berufsfachschule) konnte kein zusätzlicher Unterrichtsbedarf festgestellt werden. Geradezu chaotisch stellte sich die Situation in sogenannten Vorklassen dar, in denen sich Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss sammelten, die deswegen weder in Fachklassen untergebracht werden konnten noch einen Ausbildungsvertrag in Handwerk oder Industrie erhielten. Sie sollten bei uns Schulabschlüsse nachholen und an die Praxis bestimmter Ausbildungsberufe herangeführt werden. Was aber tun, wenn in den Klassen kaum eine Verständigung möglich war. Eine große Anzahl dieser Schülerinnen und Schüler befand sich erst seit kurzer Zeit in Deutschland. Jeden Tag wurden uns z. B. neue Türkenkinder zugeführt, die von ihren als Gastarbeiter arbeitenden Eltern nach Deutschland geholt worden waren. Sie saßen apathisch, oft eingeschüchtert in den Klassenräumen, ohne dem Unterrichtsablauf folgen zu können. Andere machten ihrer Langeweile Luft, indem sie störten.

Mir  wurde nach dieser Bestandsaufnahme schnell klar, wo ich meine Haupttätigkeit in den nächsten Monaten finden würde. Folgendes Vorgehen wurde vereinbart: Aus den beschriebenen Klassen sollten die Schülerinnen und Schüler mit den geringsten Deutschkenntnissen herausgenommen werden und eine neue Lerngruppe bilden, Gruppengröße 15. An vier Tagen der Woche sollte ich mit dieser Gruppe arbeiten ( meine restliche Unterrichtsverpflichtung konzentrierte sich auf die restlichen Tage). Einziges Ziel der Arbeit: schneller Spracherwerb. Die Dauer der täglichen Arbeit  richtete sich nach den Fahrplänen der öffentlichen Verkehrmittel (in der Regel von 7.30 bis 13.00 Uhr). Unsere Arbeit war weder an Zeittakte (45Minuten) noch an einen bestimmten Ort (Klassenraum, Schule) gebunden. Auf Leistungsnachweise in diesen Monaten der Projektarbeit sollte verzichtet werden.

 Zu Beginn meiner neuen Arbeit erlebte ich eine erste Überraschung. In dem Raum, in dem sich die ausgesuchte Gruppe versammeln sollte, fand ich nicht nur fünfzehn Schülerinnen und Schüler,  sondern auch vier erwachsene Männer, die klar erkennbar ihre Töchter schützten. Ich begann meinen Unterricht, ohne die unerwartete Situation laut zu reflektieren. Ich hätte mich gar nicht verständlich machen können. Ich konnte nur hoffen, dass ein normaler Unterrichtsablauf – ob mit Verständigungsmöglichkeiten  oder ohne blieb eine offene Frage – das Misstrauen der Väter ihren gefährdeten Töchtern gegenüber langsam abbauen konnte. Tatsächlich erschienen nach etwa einer Woche die Töchter ohne ihre Väter zum Unterricht. Ich hatte den Eindruck, dass die damit erfolgte Elternzustimmung  unser Projekt betreffend einen bemerkbaren Motivationsschub in der Lerngruppe brachte. Wir arbeiteten in der Folgezeit  ohne Stress und doch ernsthaft und angestrengt. Wir entdeckten die Einrichtungen des Klassenraumes und konnten sie bald benennen. Wir krochen in alle Winkel des Schulgebäudes, ließen uns von Fachleuten erklären, was wir sahen. Wir verließen das Schulgrundstück und entdeckten Plakatwände, Fahrpläne, Gedenktafeln, Bekanntmachungen usw., die mit vereinten Kräften bald entziffert werden konnten. Und langsam und unbemerkt entdeckten wir uns mit unseren Eigentümlichkeiten. Neugierig und mit zunehmender Anteilnahme stellten wir unsere Fragen . Bereitwillig gaben wir unsere Antworten. Und als nach fünf Monaten meine Arbeit mit Referendaren  wieder gefragt war, musste das Projekt abgebrochen werden. Niemand fragte, was es  gebracht hatte. Für mich auffällig noch über längere Zeit  war ein ungewöhnlich häufiges und  lautes Grüßen sogar über Entfernungen hinweg. Offensichtlich  erinnerten sich die Gruppenmitglieder noch gern an unsere freie und wenig geordnete Zusammenarbeit.

 1999  (es könnte auch gestern gewesen sein)

Das duale Ausbildungssystem ist eine eigentümlich deutsche Erfindung. Dass junge Menschen in Betrieb und Schule auf ihren Beruf vorbereitet werden, gilt als eine vielgepriesene Synthese von Theorie und Praxis, die das nötige Rüstzeug  für die Berufsausübung bietet. Meine Arbeit in berufsbildenden Schulen begann 1962, und seither kenne ich die andauernde Auseinandersetzung, welcher der beiden Ausbildungspartner für welche Ausbildungsinhalte verantwortlich ist. Wenn Vereinbarungen über Inhalte getroffen waren, stand eine noch wichtigere Entscheidung an: Ein wie großer Anteil der rund vierzigstündigen Wochenarbeitszeit der Lehrlinge sollte den Ausbildungspartnern zugestanden werden? Die Betriebe beanspruchten und beanspruchen die Lehrlinge  für den Löwenanteil der Zeit. Gleichzeitig  wird ein Jammern über fehlende elementare Kenntnisse  bei den jungen Menschen - z. B. in den Grundrechnungsarten und der Rechtschreibung - immer lauter vernehmbar und im Gefolge der Anspruch an Schulen, für die Beseitigung der Defizite zu sorgen. Also muss die betriebliche Arbeitszeit gekürzt werden zugunsten des Unterrichts. Es gibt einen unsäglichen Erfindungsreichtum, wie man  dieses Problem lösen will (Die Betriebe sitzen natürlich am längeren Hebel, sie können eine Ausbildung verweigern, wie viele Schulabsolventen leidvoll erfahren müssen).

Ich will erzählen von einer Mittelstufenklasse aus der Versorgungsabteilung einer gewerblichen Berufsschule. In ihr sitzen ausschließlich Jungen, die Klempner und Heizungsinstallateure werden wollen. Ihre Lehrzeit beträgt drei Jahre. Die  Klasse hat 26 Schüler, von denen etwa ein Drittel Deutsche, ein Drittel Türken und ein Drittel Aussiedler (aus Russland und Polen) sind. Der Berufsschulunterricht findet in der Unter- und Mittelstufe an zwei Tagen der Woche mit je acht Stunden statt. In der Oberstufe schrumpft er auf sechs bis acht Stunden, so dass die schon selbständiger arbeitenden Lehrlinge nur noch an einem Wochentag in den Betrieben fehlen. Der vorgeschriebene berufsübergreifende Unterricht (Deutsch, Politik, Sport, Religion oder Praktische Philosophie) wird in fast allen Schulen verkürzt nur in den ersten beiden Ausbildungsjahren erteilt. In der oben erwähnten Klasse habe ich ein halbes Jahr lang  eine Doppelstunde Deutsch zu erteilen, und zwar nach der Mittagspause von 13.00 bis 14.30 Uhr, für die Schüler sind das die 7. und 8. Stunde Unterricht des Tages. Im zweiten Halbjahr wechsele ich die Klassen mit dem Politiklehrer.

Eine Möglichkeit, die Schüler zu motivieren in der ungünstigen Nachmittagszeit nach schon anstrengenden sechs Unterrichtsstunden, besteht z. B., wenn es gelingt, mittels Text in eine aktuelle Lebenssituation zu führen, die auf verschiedenen Wegen zu bewältigen ist. Der Lehrer kann die Lösung genau so wenig benennen wie ein Schüler, er steht mit in der Reihe, hat vielleicht für eine kurze Zeit die Möglichkeit  auf Besonderheiten in der Orthographie und den Satzbau hinzuweisen, kleine Übungsaufgaben erledigen zu lassen. Das, was eigentlich erst Spaß macht, ist die Diskussion um die Lösungen eines Problems aus verschiedenen Gesichtspunkten. Ich hatte einen kleinen Zeitungsausschnitt vervielfältigt mit Angaben über Wohnungsgrößen in Neubauten. Ich konnte die Schüler einbinden, als ich sie nach ihren Erfahrungen am Bau befragte. Der Tatbestand, dass zunehmend mehr Single-Wohnungen gebaut werden, führte schnell zu einer Bewertung des Zusammenlebens mehrerer Generationen und des Zusammenhalts in den Familien. Sprecher aus dem Kreis der Türken bekundeten schnell und vehement, dass sie niemals ihre Oma oder ihren Opa in ein Altenheim schicken würden. Sprecher der deutschen Schüler taten sich schwerer, Argumente für die Trennung der Generationen zu formulieren. Sie fühlten sich in die Enge getrieben. Aus der Gruppe der Aussiedler kamen selten dezidierte Meinungsäußerungen, sie wehrten sich auch gegen Aufforderungen zu persönlichen Stellungnahmen. Eine Äußerung kennzeichnete ihre Haltung: Wir können mit dieser Art Unterricht nichts anfangen, weil wir nicht wissen, was die Lehrer eigentlich von uns wollen. So waren erkennbar nur zwei Gruppen an der Auseinandersetzung beteiligt, sie reagierten gereizt. Ein deutscher Schüler glaubte für seine Gruppe punkten zu können: Ihr braucht keine Single-Wohnungen, ihr bleibt lieber in euren Familien, in denen ihr euch wie Machos von Müttern und Schwestern bedienen lasst. Es wurde spannend, selbst die schon schläfrig gewordenen Schüler wurden wieder wach. Es entstand ein heftiger Schlagabtausch, in dem Begriffe wie Emanzipation, Rückständigkeit und Heuchelei häufig verwendet wurden. Mit der Frage eines Türken kehrte Ruhe ein: Wo gibt es denn bei euch noch so etwas wie Familie?

Ich hatte mich über längere Zeit zurückgehalten. Jetzt musste ich reagieren, damit die Ruhe zum Bedenken und nicht zur Entwicklung weiterer Aggressivitäten genutzt wurde. Ich wollte mich nicht auf eine Seite stellen. Eine kurze Zusammenfassung des Diskussionsstandes lenkte die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Argumentationsstränge. Mit einer simplen Bemerkung (eine bessere fiel mir nicht ein) konnte ich die Stunde abschließen: Ihr seht, wie viel gerade eurer Generation noch zu tun bleibt.

Das Wort „Parallelgesellschaft“ war noch nicht gebräuchlich. Wir waren seinem Gehalt bedrohlich nah. Als ich nach Stundenschluss beobachtete,  wie die verschiedenen „Lager“  miteinander umgingen und sozusagen inoffiziell weiter diskutierten, wusste ich: Es wird nicht das letzte Wort sein, das gesprochen wird.