Zeitzeugenberichte    - Familie und Gesellschaft -

   

Josef 


Ein Haus – errichtet von der Gemeinde für die Gemeinde

Der Ort, in dem wir 1966 nach langem Suchen und Abwägen ein Baugrundstück kauften, war weder Dorf noch Stadt. Es sei eine ländliche Gemeinde mit annähernd tausend Seelen, sagte man uns – warum die Körper der Einwohner nicht zählten, weiß ich nicht. Neben weit verstreuten mehr oder weniger großen Bauernhöfen gab es entlang der einzigen breiteren Verbindungsstraße zweier wichtiger Verkehrsadern ein paar Siedlungshäuser. Um die Wende ins 20. Jahrhundert hatte man hundert Meter von der Verbindungsstraße entfernt eine Schule gebaut, zwei Klassenräume und eine Lehrerwohnung. Nach dem zweiten Weltkrieg schenkte ein Bauer der Kirchengemeinde, der die Ortschaft zugeordnet war, ein Stück von seinem in unmittelbarer Nähe zur Schule liegenden Acker. Böse Zungen behaupteten, er habe damit gleich zwei Eisen geschmiedet: für sein Seelenheil gesorgt und dafür, dass neben Schule und Kirche sein weitläufiger Acker bald Bauland wird. Letzteres jedenfalls traf bald ein. Nach dem Bau einer kleinen neuen Kirche 1960 siedelten hier viele Angestellte und Arbeiter aus den Nachbarorten. Die politisch selbständige Gemeinde hatte eine Gemeindevertretung mit einem Bürgermeister, die Verwaltung lag in den Händen des Stadtdirektors der vier Kilometer entfernt liegenden Stadt.

Die Gemeinde expandierte, die Schule war bald zu klein, unmittelbar nach dem Kirchbau wurde angrenzend ein Schulneubau errichtet, modern und jetzt mit vier Klassen- und einigen Nebenräumen. Es folgte ein Lehrerhaus mit zwei geräumigen Wohnungen. Und, da noch genügend Ackerfläche zur Verfügung stand, kaufte die Gemeinde aus dem Erlös des Verkaufs der alten Schule ein angrenzendes Areal, das zum Gemeindeplatz ausgestaltet wurde. Hier spielte sich öffentliches Leben ab, die Kinder spielten und bolzten, die Schützen feierten usw. Der Acker an seiner Längsseite gegenüber von Kirche und Schule wurde 1966 als weiteres Bauland ausgewiesen, sein hinterer Teil grenzte an ein Landschaftsschutzgebiet. Wir konnten einen Bauplatz auswählen, da wir zu den ersten Anwärtern gehörten und bekamen so ein relativ großes Stück, abgelegen, wie wir es wollten, ruhig und mit viel Platz für unsere Kinder.

Unser Neubau sollte spätestens dann bezugsfertig sein, wenn unser ältester Sohn eingeschult wurde. Das gelang uns mit großer Mühe, und so konnten wir ihm lästiges Umschulen ersparen. Wir waren sehr froh, ihn in einer Grundschule untergebracht zu haben, in der eine angenehme Lernatmosphäre herrschte. Wir kannten inzwischen alle vier Lehrpersonen der Schule, sie wohnten in unserer Nähe. Sie verkörperten eine Ausgewogenheit von Zuneigung und Anforderung. Als ein Jahr später unser zweiter Sohn seine Schullaufbahn begann, waren wir sicher, auch ihm einen guten Start zu ermöglichen. Es war fast gar nicht zu umgehen, dass ich in die Schulpflegschaft gewählt wurde. Sie konnte sich kümmern um günstige Voraussetzungen für den Unterricht und das Umfeld des Schullebens. Der alte Schulgarten wurde gepflegt. Im alten Schulstall, der im Besitz der Gemeinde geblieben war, als das alte Schulgebäude verkauft wurde, hielt der Rektor viele Kleintiere, die den Biologieunterricht anschaulich machen konnten. Spielgeräte (auch für den Sportunterricht) konnten gebaut oder hergerichtet werden. Die Offenheit der Lehrkräfte ließ auch Gespräche über geeignete Unterrichts- und Erziehungsmethoden zu. Wir hatten – wie alle im Ort glaubten – gute Voraussetzungen für die Bildung und Erziehung unserer Kinder.

Kluge Reformer glaubten allerdings, dass in Zwergschulen eine zeitgemäße Bildungsarbeit nicht zu leisten sei, Grundschulen sollten mindestens zweizügig sein. Und eifrige Verwaltungsbeamte setzten ihre Energie ein – oft im vorauseilenden Gehorsam -, diese neuen Ideen schnell in die Praxis umzusetzen. Jedenfalls hatte sich unsere Schulpflegschaft mit einem derartigen Ansinnen zu befassen. Im Frühjahr 1971 wurde sie einberufen, der Amtsdirektor erschien und erklärte, dass zum neuen Schuljahr unsere Grundschule aufgelöst würde und die Schülerinnen und Schüler von verschiedenen Schulen in der Stadt aufgenommen würden. Sie würden mit Bussen zu ihren neuen Schulorten gefahren. Für die Elternvertreter kam diese Ankündigung nicht überraschend, sie waren vom Lehrpersonal informiert worden und konnten sich auf ihren Protest vorbereiten. Offensichtlich hatte auch der Amtsdirektor mit dem Aufbegehren der Versammlung gerechnet. Es kamen sachliche Argumente gegen eine Schließung und, als die sture Haltung des Angesprochenen immer deutlicher wurde, folgten wüste Beschimpfungen, sozusagen als Ausdruck der Hilflosigkeit. Ich hatte den Erlass, der nach Aussagen des Leiters der Verwaltung keine andere Wahl als die Schließung zuließ, kopiert, zog demonstrativ das Papier aus der Tasche und zitierte nur einen kleinen Nebensatz: „.... wenn die räumlichen Verhältnisse es zulassen."

Dass ein eigentlich Nicht Befugter mit Anweisungen an Amtspersonen hantierte, war ihm offensichtlich neu und ungeheuerlich. Seine sichtbar werdende Nervosität zeigte, dass für ihn eine neue Situation eingetreten war. Jetzt musste er aufpassen, mit Sturheit und striktem Überhören aller noch so treffenden Argumente konnte es nicht weitergehen, denn jetzt ging es um Anweisungen seines Dienstherrn und um die anweisungsgemäße Umsetzung. Alle im Raum wussten, das geplante Schulzentrum in der Stadt war noch im Bau, und solange es nicht bezugsfertig war, konnte die Aufnahme unserer Schüler in der Stadt nur notdürftig erfolgen. Er war zur Offenlegung der räumlichen Möglichkeiten gezwungen, und er wusste genau, dass er sich in eine Falle begab. Kurz: Es kam zum einstimmigen Beschluss der Elternpflegschaft.

Die Schließung der Grundschule sei zu verschieben, bis die räumlichen Verhältnisse (Fertigstellung des Schulzentrums) es zuließen. Als unser zweiter Sohn sein viertes Schuljahr beendete, wurde die Schule geschlossen, zwei Jahre später, als der eilfertige Amtsdirektor es wollte.

Der Teilerfolg machte allen Gemeindemitgliedern deutlich, dass ein gemeinsames Vorgehen Erfolg versprach, selbst gegenüber Behörden und Amtspersonen. Das lähmende Bewusstsein der Ohnmacht war lange Zeit gerade von der gewählten Gemeindevertretung mit ihrem Bürgermeister verstärkt worden. Sie hatte sich zurückgehalten in kontroversen Diskussionen zum Teil aus Unfähigkeit, einen eigenen Standpunkt zu formulieren und durchzusetzen, zum Teil aber auch aus einer Autoritätsgläubigkeit höher gestellten Persönlichkeiten gegenüber. Die Schließung der Schule betreffend wollte sie nicht vorpreschen. Damit die Behörden nicht zu Feinden würden, müsse man mit ihnen an einem Strang ziehen. Diese Einstellung hatte sich nun als nicht zutreffend erwiesen, und ihre Befürworter mussten um ihre Anerkennung kämpfen. Auf einem Fest in der Gemeinde, als wir in froher Runde unser Bier tranken, sprach mich der Bürgermeister an, ob er mich etwas fragen dürfe. Er war in Begleitung eines jüngeren Mannes, den ich nicht kannte. Ich sei doch als Neubürger sicher an einer erfolgreichen Entwicklung unseres Ortes interessiert. Ob ich denn nicht seiner Partei beitreten wollte, damit wir gemeinsam.... Wir brauchen interessierte und aktive junge Leute ..... Er habe gehört, ich sei an einer Schule in der Trägerschaft des Kreises beschäftigt. Er sei Mitglied des Kreistages..... Und wie ja bekannt sei, wasche eine Hand die andere usw.

Ich war erbost und viel zu stolz, dass mich eine berufliche Hilfestellung, dazu auf krummen Wegen, hätte locken können. Obwohl der junge Begleiter meine Haltung zu verstehen schien und das Gespräch auf andere Themen zu lenken versuchte (er ist übrigens derzeitig Mitglied des Deutschen Bundestages), hat dieser plumpe Versuch einer Vereinnahmung dazu beigetragen, dass ich bis heute keiner Partei angehöre oder hörig bin. Er zeigte mir aber, dass die Nerven der seit vielen Jahren unveränderten Gemeindevertretung (niemand konnte mir genau sagen, wie lange der Bürgermeister schon im Amt war) blank lagen. Die Zeit des apathischen Hinnehmens neigte sich dem Ende zu. Die Bezirksreform von 1973 beschleunigte und verstärkte das Aufbegehren. Wir wurden Teil der Stadt, hatten keine eigene Gemeindevertretung mehr. Auf Grund der geringen Bevölkerungsdichte in unserem so entstandenen Ortsteil und unserer Wählerstimmen für nur eine Partei (die Wenigen, die eine nicht mehrheitskonforme Partei wählten, waren bekannt und standen im Ansehen eines Außenseiters) schickten wir lediglich einen Vertreter in das vergrößerte Stadtparlament. Er hätte die Belange unseres Ortes stichhaltig und selbstbewusst vorbringen müssen, wenn er die große Mehrheit im Rat auf seine Seite ziehen wollte. Unsere Gemeinde schickte ihren ehemaligen Bürgermeister ins Parlament, obwohl seine Haltung der oberen Behörde gegenüber hinreichend bekannt war und ihm von vielen Gemeindemitgliedern Misstrauen begegnete.

Als die Bautätigkeit in dem Gebiet, in dem wir längst wohnten, fast abgeschlossen war, wurde die Errichtung eines Kanalsystems für Abwässer beschlossen und zügig durchgeführt. Die bis dahin Bautätigen hatten mit einem aufwendigen Dreikammersystem ihre Abwässer zu klären versucht. Diese Systeme wurden mit der Errichtung hinfällig. Während der Verlegung der Kanalrohre fiel auf, dass Abzweigstutzen in den Gemeindeplatz gelegt wurden. Nach hartnäckigem Nachfragen stellte sich heraus, dass der Gemeindeplatz als Bauland eingeplant war. Der teure Kanalbau sollte also mit dem Verkauf des in Baugrundstücke parzellierten Gemeindezentrums finanziert werden. Das Bekanntwerden dieser Planungen, die der Gemeindevertreter verschwiegen hatte, brachte das Fass zum Überlaufen.

Immer wieder konnte man Gruppen von Gemeindemitgliedern auf dem Gemeindeplatz stehen und diskutieren sehen, die fassungslos die ausgebaggerten Gräben für die Abwasserleitungen betrachteten. Erdwälle störten den Betrieb auf dem Platz, das nachmittägliche Fußballspiel war genau so unmöglich geworden wie das Ponyreiten auf einem provisorisch eingerichteten Dressurviereck, das an Beliebtheit gewonnen hatte, seit auf den Bauernhöfen die Liebe zum Pferd wieder entdeckt wurde. Aus dem Unmut entstand immer deutlicher die Frage: Was können wir noch retten? Was können wir tun? Die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der offiziellen Vertretung unseres Ortsteils war offensichtlich, sollten also unmittelbar Betroffene tätig werden. Das waren die Eltern der spielenden Kinder, die Gruppen und Vereine, die den Platz für Veranstaltungen und Feste nutzten. Als Vertreter der Reiter wurde ich ins Boot geholt, unsere Kinder gehörten zu den eifrigsten Ponyreitern. Ich möchte doch den Unmut der Gemeinde schriftlich in Worte zu fassen versuchen, evtl. Anträge formulieren zum Stop der Kanalarbeiten auf dem Platz und zur Erhaltung des Platzes der Intention der früher selbständigen Gemeinde entsprechend. Ich war an der Erhaltung interessiert, formulierte und stellte mich in die Reihe der Protestierenden. Es gab ein großes Gedränge, als unser Protestbrief gelesen und unterschrieben werden konnte. Mit langen Unterschriftslisten versehen begab sich eine Delegation, zu der ich gehörte, zum Rathaus. Wir wurden vom Stadtdirektor, ein neuer junger, ehrgeiziger Mann, empfangen und konnten unser Anliegen vortragen.

Nach nur wenigen Tagen wurden die schon verlegten Rohre abgedichtet, die Gräben zugeschüttet. Der übliche Spielbetrieb war wieder möglich. Wir waren stolz auf das Erreichte, wollten uns aber mit ihm noch nicht zufrieden geben, es gab da noch das leerstehende Schulgebäude nebenan, mit seinen zwölf Jahren noch als Neubau zu bezeichnen. Wir waren misstrauisch, das Gerücht ging um, das Anwesen solle an eine Textilfabrik verkauft werden. Wie konnten wir das verhindern? Und wie sollte das große Gebäude besser genutzt werden als zur Herstellung von Konfektionsware? Wir hatten noch keine klaren Vorstellungen. Und doch wurden die Bedürfnisse in der Gemeinde klarer erfasst und mit dem langsam verkommenden Schulgebäude in Verbindung gebracht. Die Jugendlichen hatten zwar einen Bolzplatz, aber eine organisierte Gruppenarbeit , wie sie gewünscht wurde, scheiterte am dafür geeigneten Raum. Ein Antrag an die Stadt, zur geordneten Jugendarbeit räumliche Möglichkeiten in dem leerstehenden Gebäude zur Verfügung zu stellen, wurde geprüft . Das ehemalige Lehrerzimmer durfte benutzt werden. Die Landfrauen beantragten einen Raum für wöchentliche Treffs. Die Reiter wollten einen Club- und Geräteraum im ehemaligen Schulstall einrichten. Als der Schützenverein einen Schießstand in der ehemaligen Fahrradhalle einrichten wollte und dafür eine Umbaugenehmigung beantragte, musste der Rat der Stadt befasst werden. Die Antwort des Stadtparlamentes lautete: Entweder die frühere Gemeinde und der jetzige Ortsteil übernimmt das leerstehende Schulgebäude komplett, oder es wird verkauft.

Die erregte Diskussion, die nun auf der Straße, in Kneipen und Läden geführt wurde, brachte zwei ganz unterschiedliche Standpunkte zu Tage. Dieses Angebot können wir uns nicht entgehen lassen, sagten die Mutigen. Die komplette Übernahme wäre eine Nummer zu groß für unseren kleinen Ortsteil, sagten die Zögerlichen. Die schon einmal erfolgreich tätig gewordene Abordnung soll die Bedingungen aushandeln, unter denen eine Übernahme erfolgen könnte, erst wenn sie bekannt sind, kann entschieden werden, so der von allen gemeinsam vertretene nächste Schritt. Ein Verhandlungsmarathon begann und brachte erste erfolgversprechende Neuigkeiten. Das Land Hessen förderte die Einrichtung von sogenannten Bürgerhäusern z. B. in leerstehenden Schulgebäuden, und das Land NRW schickte sich an, es ihm nachzutun. Und eine weitere: Unser junger, aufstrebender Stadtdirektor erkannte, dass er mit der Verwirklichung unseres Projektes als Erster im Land Aufsehen erregen konnte. Er stellte sich auf unsere Seite, organisierte Besichtigungsfahrten nach Hessen, um Maß zu nehmen, und er drängte den Rat der Stadt zu einem positiven Beschluss.

Ein Gremium musste gebildet werden, in dessen Hände die Trägerschaft des Hauses gelegt werden konnte. Kommunalpolitisch hatte es inzwischen, ganz im Sinne der aufbrechenden Erneuerungsbewegung, Veränderungen gegeben. Im Wissen um die Aussichtslosigkeit, eine andere politische Partei als die im Ort fast ausschließlich gewählte zu einem Ansehen zu verhelfen, um ein Gegengewicht zu schaffen, hatte sich eine freie Wählergemeinschaft gebildet, sowohl im Ortsteil als auch im übrigen Stadtgebiet. In ihr stellten sich angesehene Bürger unserer Gemeinde zur Wahl, so dass unser einziger, bisher abgeordneter Ratsvertreter seine Konkurrenten ernsthaft fürchten musste. Unter diesem Druck wurde er von seiner Partei nicht mehr aufgestellt. Sein Nachfolger, ein zwar ruhiges, aber geachtetes Gemeindemitglied, schaffte gerade noch den Sprung ins Rathaus, er bekam aber einen „Freien Wähler" zur Seite. Genau das war beabsichtigt. In unseren Ortsteil zog noch ein weiterer Vertreter des Rates für eine Minderheitenpartei, er war – für mehrere Ortsteile aufgestellt – über die Liste ins Parlament gekommen.

Die Frage der Trägerschaft des Gemeindehauses konnte zunächst im kleineren Kreis diskutiert werden: Die schon öfter erwähnte Abordnung der Vereine und Gruppen im Ort hatte sich inzwischen als Wortführer etabliert. Sie beriet mit den drei Ratsherren einen Vorschlag für eine Gemeindeversammlung, in der gewählt und abgestimmt werden sollte. Ein sogenannter Dachverband sollte gegründet werden, er sollte bestehen aus einem auf mehrere Jahre gewählten Vorstand und den Beisitzern, die sich aus je zwei Mitgliedern eines jeden Vereins und jeder Gruppe des Ortsteils rekrutierten. Die Ratsmitglieder sollten dazu gehören, allerdings nur mit beratender Stimme. Natürlich musste auch die personelle Besetzung vorbedacht werden. Vorschläge sollten der Versammlung gemacht werden, damit nicht Unbedachtes eintrete - man erinnerte sich an Wahlen, bei denen willkürlich und oft aus Jux Namen genannt wurden, deren Träger dingfest gemacht wurden, bevor überhaupt Einwendungen gemacht werden konnten. Zur Schnelligkeit trieben nicht zuletzt Versammlungsteilnehmer aus Angst davor, dass der eigene Name genannt würde. In den Vorüberlegungen wurde sachlich argumentiert, grundlegende Frage war, wer kann was? Neben dem geborenen Organisator kam der handwerklich Geschickte in Betracht; neben dem kaufmännisch Versierten der taktisch kluge Verhandlungsführer usw. Flexibel sollten die Vorstandmitglieder sein, und da in einem kleinen Ort jeder jeden kennt, waren Namenslisten schnell erstellt. Motiviert sollten sie sein, deshalb mussten Ansprachen erfolgen, Gespräche geführt werden usw.

Von den Verhandlungsergebnissen mit der Stadt, die in einem Vertragsentwurf einflossen, waren vor allem die Aussagen über die Beteiligung des Dachverbandes an den Umbau- und den Unterhaltungskosten wichtig, denn deren Höhe würde natürlich die Gemeindeversammlung bei ihrem Abstimmungsverhalten genau abwägen. Die Planungsrunde drängte mich, die Versammlung zu leiten. In der Anfangsphase, so ihre Argumentation, komme es vor Organisation und Geschick auf Wortgewandtheit an, und die sei mir als Lehrer vor allem zuzumuten. Mir war klar, wenn ich zustimmte, wäre damit eine Vorentscheidung für die Wahl des Vorsitzenden getroffen. Ich stellte meine Bedingungen: Arbeit im Team, dem jeweiligen Können entsprechend, keine weiteren Aufgaben in der Gemeinde, meine Bereitschaft für höchstens zwei Wahlperioden.

Die ersehnte Versammlung lief unseren Vorstellungen entsprechend: Der Dachverband wurde konstituiert. Zuerst als Versammlungsleiter, später als Vorsitzender leitete ich das offene Gespräch. Mir sind in lebendiger Erinnerung die Beiträge zur Frage, wie denn unser Anteil an den Kosten aufgebracht werden sollte. Die nutznießenden Vereine und Gruppen sollten einen angemessenen Betrag zahlen. Einer der vielen Räume sollte als Feierraum auch an Privatpersonen gegen Gebühr vermietet werden können. Und es sollte ein Gemeindefest gefeiert werden jährlich zu einem festgesetzten Termin. Trotz der klaren Absicht, Geld einzunehmen, sollten keine überhöhten Preise für Dienstleistungen angesetzt werden, die natürlich ehrenamtlich von den vielen Nutzern des Hauses zu leisten seien. Der Erlös solle in die Kasse des Dachverbandes fließen. Sachkundige aus der Versammlung rechneten vor, dass so der geforderte Beitrag zu leisten sei. Diese Aussage erschien den Anwesenden glaubwürdig, sie sprachen sich aus für die Übernahme des leerstehenden ehemaligen Schulgebäudes zur Förderung des Gemeindelebens. Der Vertrag mit der Stadt wurde verabschiedet und später unterzeichnet.

Die nun schnell folgende Umbauzeit gliederte sich in zwei Abschnitte: Zuerst wurden die größeren Umbaumaßnahmen unter Aufsicht des städtischen Bauamtes von heimischen Firmen auf Kosten der Stadt vorgenommen. Dann folgte die Eigenleistung. Soweit Räume fest vergeben werden konnten an Vereine oder Gruppen (Schützen, Landfrauen , Jugend, Sport, Reiter usw.) waren diese verantwortlich für deren Ausgestaltung und Einrichtung. Für den unterteilbaren großen Versammlungs- und Feierraum übernahm der Dachverband die Verantwortung. Niemand hatte erwartet, mit welchem Eifer, Zeitaufwand, Verantwortungsbewußtsein und welcher Gestaltungsfreude die Arbeiten erledigt wurden. Nach knapp einem Jahr Bauzeit konnte unter Teilnahme der ganzen Gemeinde, der Stadtvertreter, der Kirchen, der Abordnungen benachbarter Ortsteile die Einweihung gefeiert werde. Sie begann am Sonntagmorgen im Spätsommer 1980 mit einem Gottesdienst auf dem festlich geschmückten alten Schulhof vor dem neugestalteten Eingangsbereich des Gemeindehauses. Der Pfarrer sagte in seiner Ansprache, dass Kirche dort sei, wo Gemeinschaft gelebt, wo man miteinander achtungsvoll umgeht, wo das um Verstehen bemühte Gespräch gepflegt wird. Er vollzog so eine Einbindung in das Gemeindeleben, die die Festversammlung sich wünschte. Nur wenige Jahre später verlegte sein Nachfolger den Gottesdienst in das Kirchengebäude, das dafür – wie er sagte – gebaut und gesegnet sei, und zog (wieder) die Grenze zwischen Heiligem und Profanem. Der große Teil der Gemeindemitglieder kam daraufhin erst zum gemeinsamen Frühstück oder zum Frühschoppen in das Gemeindehaus, in dem von der Einweihung an jährlich zum gleichen Termin gefeiert wurde.

Ich will noch kurz von den monatlich stattfindenden Versammlungen des Dachverbandes erzählen. Sie dauerten manchmal bis spät in die Nacht, denn in einem geschützten Raum, in dem es kein hierarchisches Gefälle gab, wagten alle ausnahmslos ihren Beitrag zum Leben und zur ständigen Verbesserung der Ordnungsstrukturen im Haus zu leisten. Es wurde deutlich, dass die einzelnen Mitglieder froh und auch ein wenig stolz waren, wenn sie den Mut zur Meinungsäußerung aufgebracht hatten und merkten – ganz gegen die von allen Seiten eingetrichterte Doktrin, dass man im öffentlichen Raum ja doch nichts bewirken kann – hier wird mein Beitrag gehört und bedacht und auf seine Anwendbarkeit geprüft. Das Bereden bekam seinen Sinn und machte das Leben im neuen Haus vielgestaltig und abwechslungsreich.

Nachdem der Stadtdirektor in der Planungs- und Bauphase auf unserer Seite gekämpft hatte, stellte er sich gegen uns, wenn es um das Leben im Haus ging, vor allem in Bezug auf Ordnung und Sauberkeit. Nicht, als ob wir diese Werte nicht auch angestrebt hätten! Wir erlebten aber fast täglich, wie unser Haus zum Vorzeigeobjekt für seine Kollegen und Gäste wurde. Seine Ordnungsvorstellungen hatten demnach eine ganz andere Wichtigkeit, die für uns höchstens zweitrangig war. Wenn es zum Streit kam, spielte er den Mächtigen, der uns jederzeit den Geldhahn abdrehen könnte. Da der stellvertretende Vorsitzende, ein hervorragender Organisator und Macher, wegen noch fehlender Anschaffungen nach der Einweihung häufiger mit ihm zu tun hatte und mit seiner Meinung keineswegs zurückhaltend war, kam es zu erheblichen Spannungen. Selbst die Ratsherren kuschten vor ihrem mächtigen Direktor. Als dieser in seiner Verwaltung durchdrückte, dass die Fenster- und Türenfabrik, die dem Stellvertreter gehörte, keine Aufträge aus öffentlichen Ausschreibungen mehr bekam, eskalierte der Streit. Es blieb unserem erfolgreichen Mitstreiter keine andere Wahl, als sein Amt nieder zu legen. Das war ein erheblicher Rückschlag in unserer regen Teamarbeit schon vor Ende der ersten Wahlperiode. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchten wir die Lücke zu schließen und weiter zu machen, in der Hoffnung, dass unser Haus bald das große öffentliche Interesse verliere und wir in unserem Sinne weiter schalten und walten könnten zum Wohle einer lebendigen Gemeinde.

Ich stellte mich 1984 noch einmal zur Wahl und erhielt das Vertrauen der Gemeindeversammlung. Viele Arbeiten im Gemeindehaus waren zur Routine geworden. Es gab immer wieder personelle und räumliche Veränderungen, schon weil die Gegebenheiten den jeweiligen Bedürfnissen angepasst werden mussten. Zudem hatte das gemeinsame Gestalten in den Bauzeiten Nachwirkungen. Der Ideenbörse war noch immer gefüllt, und besonders reizvolle Pläne wurden entwickelt und umgesetzt. Die Jugend baute eine Grillhütte in den alten Schulgarten, wieder entdeckte alte Schulbänke wurden restauriert und dann in passende Räume gebracht und – ein schon lange gehegter Wunsch vor allem der älteren Gemeindemitglieder – mit Hilfe eines ansässigen Künstlers wurde ein Mahnmal für die Opfer der beiden Weltkriege aus unserem Ort gestaltet. Die mit beratender Stimme an den Sitzungen teilnehmenden Ratsherren konnten uns über den Stand der Debatten im Rat informieren, wir hatten immer mehr den Eindruck, dass sie sich umgekehrt die Wünsche und Vorstellungen der Basis anhörten, um daraus ihre Schlussfolgerungen für die Ratsarbeit zu ziehen. Eine Kandidatin oder ein Kandidaten für meine Nachfolge war in den eigenen Reihen nicht zu finden, wie ich es gewünscht hätte. Es war in der Gemeinde nicht üblich zurückzutreten, wenn man nicht über achtzig Lebensjahre zählte. Ich blieb konsequent bei meiner Absprache, auch wenn die weitere Arbeit nicht in gewohnter Weise fortgeführt werden würde. Nach längerem Suchen erklärte ein jüngerer Verwaltungsbeamter aus unserem Ort seine Bereitschaft, sich zur Wahl zu stellen. Ich ging 1989 zum ersten Mal in den Ruhestand, jedenfalls was meine nebenberufliche Tätigkeit betraf.

Jahre später traf ich meinen Nachfolger zufällig, und natürlich redeten wir über den Dachverband. Das Haus der Gemeinde sei nach wie vor mit Leben gefüllt. Einmal habe die Stadt den zu leistenden Beitrag für die Unterhaltung geringfügig erhöht. Es sei aber nie zu finanziellen Engpässen für den Ortsteil gekommen. Zum Schluss unseres Gespräches sagte er: „Unsere monatlichen Versammlungen dauern jetzt nur noch höchstens eine Stunde." Er sagte das verschmitzt und ein wenig stolz. Mir tat es weh!

 

 

November 2003