Zeitzeugenberichte    - Familie und Gesellschaft -

 


Karin 

 

Sprachreisen und mehr – Unsere selbstverständlichen Kontakte zum Westen

Ich selbst konnte mir bis zu meinem 22. Lebensjahr keinerlei Urlaubsreise leisten, auch keine Sprachreise. Dabei war uns Schülerinnen doch England, insbesondere London, in unseren „English Lessons“ verlockend nahe gebracht worden. Mein Englisch war und blieb ein Schulenglisch. Trotz des neunjährigen Unterrichts traute ich mich bei unserem ersten Londonbesuch nicht, einen Briten anzusprechen. 

Das sollte unseren Söhnen nicht passieren. Darum schickten wir sie – zusammen mit vielen Klassenkameraden – mit 14 Jahren (1977 und 1981) auf eine dreiwöchige Sprachreise nach Großbritannien. Hier lebten sie in Familien, mit denen sie nur Englisch sprechen konnten, und besuchten vormittags Sprachkurse. Diese Familien waren damals froh, sich mit der Unterbringung eines Gastschülers ein Zubrot verdienen zu können. Gelegentlich war die wirtschaftliche Situation der Gastgeberfamilien so schlecht, dass nicht nur die Unterkunft und Verpflegung miserabel waren, sondern auch die Freundlichkeit auf der Strecke blieb. So erging es unserem jüngsten Sohn. Er hat sich nicht wohl gefühlt.

Unserem ältesten Sohn ging es besser. Er wurde freundlich aufgenommen und fürsorglich behandelt. Er hatte es allerdings auch nötig. Denn er war eines Tages von einer englischen Jugendlichenbande so heftig attackiert worden, dass sein Nasenbein gebrochen war. Da brauchte er den Beistand seiner Gastgeberfamilie beim Krankenhaus- und Polizeibesuch dringend. Und er bekam ihn auch.

Galt das positive Bild, das uns Schülern von Großbritannien vermittelt worden war, eigentlich noch?

Davon überzeugte uns Cathryn, eine hübsche, selbstbewusste, 21jährige englische Studentin. Sie musste im Rahmen ihres Studiums ein Jahr in Deutschland arbeiten. Durch Kontakte fand sie eine Stelle in einer Fabrik in unserem Ort. Nachdem sie ein halbes Jahr allein in einer Wohnung gelebt hatte, suchte sie per Inserat Anschluss an eine deutsche Familie. Wir hatten immer noch Lust auf englischsprachige Kontakte und luden sie ein. Sie aber sprach gut und lebhaft Deutsch und war uns gleich sympathisch. Also zog sie zu uns und wohnte für den Rest ihrer Deutschlandzeit bei uns. Freimütig und charmant adoptierte sie uns als ihre Vize-Eltern, stellte ihre großen Cornflakes-Packungen in unsere Küche, lud uns zu der „einzig guten“, englischen Teemischung ein, die ihre Eltern regelmäßig schickten, diskutierte mit uns über gemeinsam gelesene ZEIT-Artikel, über das englische  Königshaus und über die Vor- und Nachteile unserer jeweiligen Länder, wobei ihr mit der Zeit die deutsche Zuverlässigkeit immer besser gefiel (besonders die Pünktlichkeit der Bahn! Damals!). Und sie ließ uns am Wohl und Wehe ihrer Beziehung zu ihrem Verlobten teilnehmen. Dieser befand sich während des gesamten Jahres auf einer Weltreise, die er sich überwiegend unterwegs durch Gelegenheitsarbeiten selbst verdiente.

Als ihr Studienjahr hier abgelaufen war und sie wieder nach Hause zurück musste, war sie uns längst ans Herz gewachsen. Und wir brachten es nicht über uns, sie mit ihrem umfangreichen Gepäck (darunter zwei billig erworbene Schreibmaschinen) allein fahren zu lassen, obwohl sie immer wieder behauptete, dass sie das schon schaffen würde. Bloß wie? Das war uns ein Rätsel. Darum begleiteten wir sie lieber nach London und setzten sie dort in ihren Bus nach Blackburn. Zwei Jahre später haben wir sie und ihre Eltern während einer Rundreise durch Großbritannien besucht. Wir wurden herzlich willkommen geheißen und mussten – obwohl unser Wohnmobil vor der Tür stand – im Schlafzimmer der Eltern übernachten. Mitte der 80er Jahre haben wir auf der Hin- und Rückreise nach Irland in ihrem Reihenhäuschen in London übernachtet. Und als sie mit ihrer Familie nach einem jahrelangen Aufenthalt in Kiribati, einer Inselgruppe im Pazifischen Ozean, wieder nach England zurückgekehrt war, haben wir sie 1997 an ihrem neuen Wohnort in Südengland ebenfalls besucht. Der Kontakt ist bis heute nicht ganz abgerissen.

Neben Großbritannien hatten wir aber auch die USA als Ziel für einen Auslandsaufenthalt unserer Söhne ins Auge gefasst.

Und Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, suchten wir dann nach einer Möglichkeit, einen Amerikaaufenthalt für sie zu organisieren. Wir wandten uns an den American Field Service. Der machte es zur Bedingung, zunächst selbst amerikanische Jugendliche für zwei Monate oder ein ganzes Jahr bei sich aufzunehmen. Zwei Monate – unter Ausnutzung der Sommerferien – waren uns recht. Wir wurden daraufhin sorgfältig unter die Lupe genommen und bekamen unseren ersten amerikanischen Gastschüler: Louis, genannt Lou. Lou kam aus Philadelphia von der Ostküste der USA. Er war italienischer Abstammung, ziemlich klein, dunkel, mit hier noch unbekannter, fest sitzender Zahnspange: Er entsprach also so gar nicht dem Bild eines amerikanischen jungen Mannes, aber er war freundlich und anpassungsfähig. Wir zeigten ihm natürlich unsere Umgebung. Er wunderte sich über die vielen kleinen, übers Land verteilten Ortschaften, von Amerika her kannte er viel mehr freien Raum zwischen den Siedlungen. Und er war erstaunt, dass wir hier so ruhig leben konnten, für ihn war die Grenze zur DDR und damit zum bedrohlichen Feindesland in nur 100 Meilen Entfernung gleich nebenan.

Zu unserem Pflichtprogramm mit unserem Gast gehörte auch ein Berlinbesuch. Welche Überraschung für ihn, als wir in Ostberlin mit einer DDR-Bürgerin an einem Tisch saßen und uns mit ihr unterhielten! „Wir haben mit einer echten Kommunistin gesprochen“, wiederholte er später oft, obwohl sie sich gar nicht als solche zu erkennen gegeben hatte. Alle Menschen hinter dem Eisernen Vorhang waren halt Kommunisten für ihn.

Im darauf folgenden Jahr machte unser ältester Sohn zusammen mit einem Freund seine USA-Reise, ausgestattet mit großem Rucksack und wenig Geld. Anlaufstation war Lous Elternhaus. Hier wurden die beiden gut aufgenommen. In der großen Familie wurde dann beratschlagt,  wie die beiden 18jährigen am besten die USA kennen lernen könnten. Lous Onkel gelang es, einen fahrtüchtigen, allerdings nicht klimatisierten Wagen für 700 Dollar zu erstehen, die notwendige Versicherung übernahm er selbst. Und los ging es in Richtung Westen. Jetzt waren sie auf sich allein gestellt. Sie lebten hauptsächlich von Haferflocken und Milchpulver (andere Lebensmittel konnten sie wegen der Hitze nicht transportieren) und schliefen nachts oft unter freiem Himmel. Handys gab es noch nicht, und so erreichten uns nur seltene Anrufe. Doch unser Vertrauen war groß. Erst nach ihrer Rückkehr erfuhren wir, wie barsch sie einmal von Polizisten in Wild-West-Manier angehalten worden waren und wie glücklich sie waren,  in einem klimatisierten Spielcasino in Las Vegas eine freie Mahlzeit zu bekommen.

Am Ende ihrer Reise konnten sie in der Nähe von San Franzisko bei Verwandten des Freundes Rast machen und sich ein paar Tage von den Strapazen erholen. Die gastfreundlichen Menschen waren deutschen Ursprungs, und der Sohn hieß prompt Siegfried. Sie lebten streng christlich und taten alles für ihre Deutsche Gemeinde.

Hier konnten die beiden Freunde das Auto für 700 Dollar wieder verkaufen, hatten also keinen Verlust.

Im Jahre 1983 besuchte uns der zweite amerikanische Gastschüler: diesmal aus Milwaukee am Michigansee. Er war groß und blond, aber auch nicht typisch amerikanisch, sondern zurückhaltend, höflich und leise. Unser jüngster Sohn und er waren gern und mehr als unser erster Gast mit Freunden und Klassenkameraden unterwegs. Eines Tages luden sie die hier in der Umgebung lebenden anderen amerikanischen Jugendlichen ein. Und plötzlich stand auf unserer Matte ein tief schwarzer, riesengroßer junger Mann. Nach dem ersten Erschrecken merkten wir, dass er herzlich, laut und lustig war, aber einen Dialekt sprach, den wir kaum verstehen konnten. Es war ein lebendiger, fröhlicher Nachmittag, an dem wir uns vorwiegend mit Händen und Füßen verständigten.

Nun wollte auch unser jüngster Sohn mit einem Freund im darauf folgenden Jahr Amerika bereisen. Sie flogen nach Chicago, wurden bei der Familie unseres amerikanischen Freundes bestens aufgenommen und beschenkt, danach machten sie noch einmal bei seiner Tante Station, und dann ging es wieder  auf eigene Faust weiter. Diesmal aber nicht mit dem Auto – der Führerschein war noch nicht bestanden - sondern mit den Greyhound-Bussen. Dabei fuhren sie meistens nachts und konnten so die Übernachtungskosten einsparen. Diese Busse wurden v. a. von Schwarzen benutzt. Sie waren freundlich und hilfsbereit. Wenn die beiden aber doch einmal eine Nacht an einem Ort verbringen wollten, schliefen sie in preiswerten Jugendherbergen. Während der ganzen Reise haben sie keinerlei unangenehme Erfahrungen gemacht.

Die begeisterten Schilderungen unserer Söhne steckten uns an. Auch wir wollten nun endlich den „Wilden Westen“ der USA kennen lernen.

Im Jahre 1985 war es dann so weit. Zusammen mit drei Freunden hatten wir ein großes Wohnmobil in San Franzisko gebucht und fuhren nun – oft auf den Spuren unserer Söhne – mitten hinein in all die großartigen Landschaften der USA. Eine davon war das Monument-Valley, das wir alle von der Zigarettenreklame her kannten. Es liegt im Land der Navajo-Indianer, von denen es hieß, dass sie einem bei einer Panne nicht helfen würden. Als ich dort in einem kleinen Laden einkaufte, meinte ich, die ablehnende Haltung spüren zu können. Die Stimmung war mir unheimlich. Überhaupt war die Begegnung mit den echten Indianern bedrückend. In einer größeren Ortschaft verkauften sie Souvenirs. Einige wirkten alkoholisiert und verwahrlost. Auf einem anderen Campingplatz dagegen habe ich wiederum eine gute Erfahrung gemacht: Eine Indianerin warnte mich vor einer offenbar gefährlichen Spinne hinter der Waschmaschine.

Für uns alle war die Begegnung mit der großartigen Natur der USA einfach überwältigend.

Deutschland wirkte anschließend auf uns puppenstubenhaft kleinkariert, aber auch hübsch.

Später sollten ergänzende Erfahrungen folgen.

Unser ältester Sohn arbeitete von 1995 bis 1997 in Chicago und von 1997 bis 1999 in Nordengland. Nun lernte er (und lernten wir durch ihn) das Alltagsleben in diesen Ländern kennen. Und wir entdeckten, dass es bei allem scheinbar Vertrauten auch Fremdartiges gab. Und viel mehr sichtbare Armut als in Deutschland.

Insgesamt hat uns unser familiäres Konzept der Weltoffenheit viele und faszinierende Erlebnisse ermöglicht. Erst ziemlich spät sind wir dann doch an schmerzhafte Grenzen der Verständigung gestoßen.