Zeitzeugenberichte    - Familie und Gesellschaft -

 


Karin 

 

Unsere Asylantenkinder aus dem Kosovo

Schon seit 1970 waren wir Lehrer und Lehrerinnen in den Grundschulen, in denen ich tätig war, daran gewöhnt, in jedem Jahrgang ein paar ausländische, v. a. türkische Kinder unterrichten und integrieren zu müssen. Wir haben uns alle immer sehr bemüht, sie intensiv zu betreuen.

Anfang der 90er Jahre hatte ich es als Schulleiterin mit einer neuen Gruppe zu tun: Asylbewerber aus dem Kosovo. Sie waren vor den Gefahren des Bürgerkriegs geflohen und in der alten Schule am Rande unseres Stadtteiles untergebracht worden. Das Gebäude, das von Bäumen, Wiesen und Feldern umgeben war, hatte leer gestanden und sich daher als Asylantenheim angeboten. Es beherbergte jetzt zwei große Roma-Familien und eine albanische Familie. Da es in unserem Schul-Einzugsbereich lag, wurden alle Kinder dieser Familien bis zu 15 Jahren zu uns geschickt, obwohl sie – laut Gesetz – eigentlich gar nicht schulpflichtig waren.

Die Jüngeren verteilte ich nach ihrem Kenntnisstand und Alter auf unsere Jahrgangsstufen, die Älteren kamen alle in eine Klasse und wurden individuell beschult. Die Klassenlehrerin sah es als ihre persönliche Aufgabe an, sich um diese Jugendlichen besonders zu kümmern und für den ältesten nach einer Weile eine handwerkliche Anlernmöglichkeit beim Kolpingwerk zu organisieren. Leider erschien er dort zum vereinbarten Termin nicht. Die Fahrt dahin war ihm zu kompliziert. Allerdings wollte er – wie auch sein Bruder – gerne arbeiten. Doch kein Arbeitgeber wollte die beiden, die nur eine vorübergehende, lediglich immer wieder verlängerte Aufenthaltsduldung besaßen, einstellen. Mehrfach kamen sie zu mir, um mich um Hilfe zu bitten.

Während ich aber bei der Arbeitsuche nicht helfen konnte, so konnte ich doch den Schulbesuch der jüngeren Kinder beeinflussen. Gelegentlich fuhr ich nachmittags hin und redete mit dem Sprecher der beiden Familien. Er war ein äußerst höflich-charmanter Mann, der mich auch hin und wieder in der Schule aufsuchte, um dem Kollegium z. B. in der Adventszeit Pralinen und Blumen zu bringen. Unter uns nannten wir ihn den „Zigeunerbaron“.

Besuchte ich die Familien in der alten Schule, so bekamen nur der Vater und ich je einen Stuhl. Die Frauen brachten uns Tee und setzten sich dann devot auf den Fußboden. Oder sie arbeiteten weiter und breiteten ihren Fladenbrotteig zum Gehen auf den Betten aus. Ich versuchte, ihnen klar zu machen, dass – ganz gleich, wo sie bleiben würden – es wichtig für ihre Kinder sei, Lesen und Schreiben zu lernen. Das sahen sie auch ein. Aber sie handelten nicht immer danach. Hin und wieder musste ich morgens zum Heim fahren, um die schlafenden Kinder aus den Betten zu holen und in die Schule zu bringen.

Sie rochen anders als unsere Kinder, wurden mit der Zeit aber akzeptiert.

Das war zu Anfang allerdings ganz anders gewesen.

Zu Anfang hatte es unentwegt Klagen von den anderen Schülern und deren Eltern gegeben: Angeblich hätten die Asylantenkinder sie angegriffen und beklaut. Im Schulbus gäbe es ständig Theater mit ihnen. Auch der Busfahrer beschwerte sich.

Und wir Lehrerinnen sahen uns kaum in der Lage, diese Streitereien zu schlichten. Wir ärgerten uns über das neue Problemfeld. Für den Schulweg waren wir schließlich nicht verantwortlich!

Ich rief den Ausländerbeauftragten der Stadt an und forderte ihn auf, für eine Veränderung der Situation zu sorgen. Er blieb professionell ruhig und freundlich und lud uns alle ein, mit ihm zusammen und einem Übersetzer das Gespräch mit den Roma-Familien zu suchen. Zwei oder drei Kolleginnen und ich nahmen den vorgeschlagenen Termin wahr.

Das war unsere erste Begegnung mit der Situation eines Asylantenheimes. Von draußen sah alles ganz romantisch aus: Auf dem alten Schulhof waren Teppiche ausgebreitet, und die Kinder spielten Fangen. Innen jedoch erschütterten uns die Armseligkeit und die Zerstörungen an den sanitären Objekten. Dass die städtischen Ausstattungsgegenstände immer wieder zu Bruch gingen, sei ein Phänomen, das er auch nicht begreifen könne, erklärte uns unser Begleiter. Ansonsten sagte er nicht viel, sondern ließ die bedrückende Atmosphäre wirken. Die kleinen Räume waren in der Regel Wohnzimmer und Schlafzimmer für vier Kinder zugleich. Eine ältere Tochter hatte versucht, ihr Zimmer mit Stoffresten am Fenster und abgenutzten Sofas wohnlich herzurichten.

Die Roma-Familien begegneten uns freundlich. Sie schienen sich für die Zustände zu schämen.

Alle Kinder wurden gerufen und zu den Klagen gehört. Aus ihrer Sicht stellte sich die Sachlage allerdings anders dar: Sie wären beschimpft worden und hätten sich gewehrt.

Nachdenklich fuhren wir wieder weg. Aus unserem Problem waren Menschen geworden, die unser Mitgefühl hervorriefen. Das teilten wir den Kolleginnen, den Kindern und den Eltern mit. Ein Stimmungsumschwung setzte ein. Die Eltern fingen an, für die Familien Kleidungsstücke und für Klassenfahrten Geldspenden zu sammeln. Die Jungen wurden in den Sportverein geholt, wo sich einer als bester Trampolinspringer unentbehrlich machte. Und als aus dem Umkleideraum unserer Turnhalle einmal Turnschuhe und Leggins verschwanden, ersetzte die Kollegin sie wortlos aus unserem Fundsachen-Fundus.

Nur einmal noch gab es eine Situation, in der ein Roma-Junge von den Klassenkameraden des Diebstahls bezichtigt wurde. Einem Kind war die Geldbörse gestohlen worden, und sofort fiel der Verdacht auf eben diesen Jungen. Da haben wir Lehrerinnen die Kinder in der Pause nach draußen geschickt  und kurzerhand alle Schultaschen untersucht. Wir wurden in einer deutschen Tasche fündig.

Ein lehrreiches Beispiel für die Schüler!

Eines Tages fehlten alle Kinder der einen Roma-Familie. Sie waren abgeschoben worden, erfuhren wir. Die Lage in Jugoslawien habe sich stabilisiert, in Serbien, in dem Milosovic die Wahlen gewonnen hatte, seien die Flüchtlinge nicht mehr gefährdet.

Die jeweiligen Klassenlehrerinnen waren empört. Unsere Roma-Familien waren Moslems. Und wir wussten, wie sehr sich Serben und Moslems hassten und in Bosnien befehdeten. „Ich will es nicht zulassen, dass Kinder, die mir anvertraut sind, in ein Kriegsgebiet geschickt werden“, schimpfte eine Kollegin.

Jetzt wollten wir auf der Hut sein.

Und tatsächlich: Ein paar Wochen später kam eine Kollegin kurz nach 8.00 Uhr zu mir gelaufen: „Die andere Roma-Familie wird abgeschoben. Die Polizei ist schon da!“ Das hatten Kinder beobachtet.

Ich hatte in der 1. Stunde keinen Unterricht. Völlig aufgewühlt fuhr ich sofort los und stellte mich mit meinem Cabrio quer vor den Polizei-Bulli. Irgendwie glaubte ich, so die Abschiebung verhindern zu können. Die gesamte Familie saß schon im Wagen, die Kinder weinten teils laut, teils leise, nur der Vater fehlte noch. Er hatte sich versteckt und wurde von mehreren Polizisten gesucht. Ich schrie den wartenden Polizisten an: „Wie können Sie das tun?“ Er antwortete ganz ruhig: „Das ist eine Abschiebung. So ist das. Wir müssen die Anordnung durchführen. Und Sie können hier auch nichts machen. Wenden Sie sich an die Stadt!“

Ich sah die tief verzweifelten und resignierten Blicke der Mutter auf mir ruhen. Was konnte ich nur tun? Der Polizist redete weiter besänftigend auf mich ein. Ich musste los. In der 2. Stunde hatte ich Unterricht. In mir hämmerte es: „Nicht schon wieder. Nach der Verfolgung durch die Nazis nicht schon wieder!“

Zurück in der Schule erfuhr ich, dass der Flüchtlingsrat schon angerufen und darum gebeten hatte, ich solle mich den ganzen Tag bereithalten. Wir müssten in ständigem Dialog bleiben.

Er war von einem Helferkreis benachrichtigt worden.

Auf meine Nachfrage bei der Stadt erhielt ich die kaltschnäuzige Antwort, dass die Familie ja nicht ins Kosovo, sondern von Bonn aus nach Belgrad geflogen würde. Und in Belgrad sei die Lage ruhig.

In der ersten, kleinen Pause informierte ich alle Lehrerinnen. Aufgebracht beschlossen wir, alles zu unternehmen, was die Abschiebung verhindern könnte. In der 2. Stunde übernahm eine Kollegin  Unterricht und  Beaufsichtigung in zwei Klassen. So konnte unsere Konrektorin, die sich als Mitglied des Stadtrates in den Strukturen auskannte, zunächst einmal beim Rechtsamt anrufen und die Legalität der Maßnahme hinterfragen. Wir erfuhren, dass die Abschiebung der unvollständigen Familie ohne den Vater nicht in Ordnung war. Außerdem informierte sie als SPD-Mitglied alle Funktionsträger bis hinauf zum Innenministerium.

Das tat parallel auch der Flüchtlingsrat, mit dem ich mich immer wieder kurz schloss.

Die Botschaft erreichte den Innenminister Dr. Herbert Schnoor, der sich grundsätzlich – wie wir später erfuhren – für ein Bleiberecht der Roma einsetzte.

Inzwischen war unsere Roma-Familie auf dem Flughafen in Bonn angekommen. Das Flugzeug stand bereit. Da brauste wiederum ein Polizeiwagen heran, diesmal aber, um sie zurück zu bringen. Die Mutter erlitt daraufhin einen Schwächeanfall und musste zu Hause erst einmal ins Krankenhaus gebracht werden.

Der Flüchtlingsrat hatte alle Medien informiert, und der Fall wurde anschließend von der Presse und dem Rundfunk breit publiziert.

Etwa zwei Wochen später wurden zwei Helferinnen und ich von der Roma-Familie zum Essen eingeladen. Wir durften und mussten auf dem Sofa sitzen, die Frauen und viele Kinder saßen auf dem Fußboden. Sie bedankten sich, die dunklen Augen strahlten. Der Lammbraten schmeckte köstlich. Die eine Glühbirne beleuchtete den Raum nur spärlich, und ich kam mir irgendwie vor wie bei „Carmen“.

Nach dem Dayton-Abkommen (im November 1995 zu Bosnien-Herzegowina, Milosovic sollte danach sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen werden) drohte wieder einmal die Abschiebung. Die beiden ältesten Söhne erschienen in meinem Zimmer, um mich um Hilfe zu bitten. Diesmal schätzte ich die Sicherheitslage jedoch (fälschlicherweise!) als besser ein und war der Meinung, dass sie beim Aufbau des Landes mithelfen müssten, Ich erklärte ihnen auch, dass in einer solchen Situation die Belastung dem deutschen Steuerzahler nicht zuzumuten sei.

Doch das große Medienecho, das ihr Fall damals gefunden hatte, schützte sie weiterhin.

Noch nach meiner Pensionierung wollten sie mich zu meinem Geburtstag beschenken. Sie hatten meine Privatadresse ausfindig gemacht und brachten mir Blumen und Wein.

Diese Erfahrungen haben Spuren bei mir hinterlassen.

Ich verfolgte daher interessiert und aufmerksam die Entwicklung des Jugoslawien-Tribunals in Den Haag. Und wir nahmen im November 2004 gern das Angebot meiner Nichte an, einmal an der Anhörung eines Zeugen in diesem Tribunal teilzunehmen. Sie und ihr Mann arbeiten dort in der Staatsanwaltschaft. Sie sind Angestellte der UNO.

An unserem Besuchstag ging es um eine Anhörung für den Milotic-Prozess. Das Milotic-Gericht tagte oben, während Milosovic unten verhört wurde. Dessen Vernehmung wurde auf einen großen Monitor im Foyer übertragen.

Wir aber mussten über mehrere Treppen und Flure in die 1. Etage hinauf. Das bedeutete: ständige Begleitung eines Sicherheitsmannes, vier Sicherheitsschleusen, Auf- und Abschließen aller Türen, die wir durchschritten. Selbst in dem kleinen Zuschauerraum wurden wir eingeschlossen und blieben immer bewacht.

Welch angenehme Überraschung dann, als die Richter mit vornehmer Robe und Perücke, perfektem Zeremoniell und ausgesucht höflichen Umgangsformen die Befragung durchführten! Ein überzeugendes Bild von Rechtsstaatlichkeit.