Zeitzeugenberichte - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

 

     Carl Heinz

 

Kriegsende 1945, wie ich es erlebte

   

Wir, das waren meine Mutter, mein damals 3 Jahre alter Bruder Gotthard und ich, damals 6 Jahre alt, lebten in Naulin, einem Dorf südlich von Pyritz in Hinterpommern. Mein Vater war dort landwirtschaftlicher Oberinspektor auf dem 10.000 Morgen großen unter staatliche Leitung genommenen Rittergut und er wurde 1942 zum Kriegsdienst eingezogen, nachdem sein Vorgesetzter, der hoch in der NSDAP verankerte Administrator K. dank seiner Beziehungen sich hatte „uk.“. stellen lassen. Herr K. hatte meinem Vater jedoch beim Abschied versprochen, dass er seine schützende Hand über uns halten, und uns vor allen Unbilden beschützen würde.

Ich hatte bis dahin in Naulin eine unbeschwerte Kindheit verlebt: das große Gut bot mit seiner Gärtnerei, dem Wäldchen am See, den vielen Höfen und Gebäuden unendlich viele und interessante Spielmöglichkeiten für uns beide Brüder und unsere Freunde den beiden jüngsten Kindern der Eheleute K., die mit mir gleichaltrige Ute und ihr 3-jähriger Bruder Jörg. Ute und ich waren im Herbst 1944 eingeschult worden in die einklassige Nauliner Zwergschule mit 8 Jahrgängen gleichzeitig in einem Klassenraum und wir lernten mit viel Eifer und Spaß u. a. das damalige Liedgut schmettern. Wir nahmen auch keinen Anstoß an den armen hinter Stacheldrahtverhauen eingepferchten russischen Gefangenen. Uns gefielen ihre feiertäglichen und abendlichen  Gesänge heimischer Lieder und wir hielten uns gerne vor dem Gefangenenlager auf, was die K`s gar nicht gerne sahen. Wir hatten auch keine Ahnung von den Drangsalierungen, denen die Gefangenen durch Herrn K. ausgesetzt waren.

Inzwischen waren die Kriegshandlungen schon weit ins deutsche Reich eingebrochen; die russische Januar-Offensive bedrohte Ende Januar schon die Region Stettin, der deutsche Widerstand war nur noch punktuell vorhanden und kaum noch koordiniert. Herr K. war dank seiner Verbindungen trotz Nachrichtenunterdrückung über den aussichtslosen Stand der Dinge umfassend informiert, und lud uns am 30.Januar 1945. ein, die letzten Stunden vor dem Einmarsch der Russen bei Ihnen zu verbringen.

Nachmittags durften wir Kinder einen großen Teil der Wohnung in ein Spielparadies verwandeln, wie es zu den damaligen Zeiten andere Kinder gar nicht kennen konnten, weil ihre Eltern an solche Spielsachen gar nicht herankamen. Sogar eine elektrische Modell-Eisenbahn der Spurweite „0“ von stattlichem Umfang war vorhanden.

Abends wurde fast festlich diniert: es wurde nur vom Besten aufgetragen: alles, was es für den Normalbürger schon lange nicht mehr gab. Während des Essens macht Herr K. alle Anwesenden mit der genauen Kriegslage bekannt: in wenigen Stunden würden die Russen unseren Ort erreicht und eingenommen haben und er malte in düstersten Bildern das dann zu erwartende Leben aus, das einfach nicht mehr zu ertragen sein würde. Dank seiner Verbindungen hätte er jedoch einen Weg gefunden, dem zu entgehen, und er warb eindringlich darum, seinen „Ausweg“ als Chance zu sehen und diese zu ergreifen: Er hatte schon anspannen lassen und wollte mit uns ins 3km entfernte Pyritz zum Gaswerk fahren, wo uns noch ein Zeit-Fenster von einer knappen Stunde eingeräumt worden sei, um durch Freitod einer schrecklichen Zukunft unter russischer Herrschaft zu entgehen. Meine Mutter war empört und weigerte sich konsequent einen solchen Weg zu akzeptieren. Herr K. drang mit düstersten Zukunftsbildern in sie und erinnerte an das Versprechen, das er meinem Vater gegeben hatte, doch meine Mutter blieb bei ihrem entschiedenen „nein!“ So verstrich die Zeit; ohne uns wollten die K`s auch nicht fahren. Schließlich war es fürs Gaswerk zu spät geworden. Man ging aufgewühlt zu Bett.

Am anderen Morgen, es war der 31.Januar1945, wurden wir von Herrn K. geweckt mit der Nachricht, der Einmarsch der Russen stünde unmittelbar bevor. Schnell kleideten wir uns an und versammelten uns im Schlafzimmer der K`s. Herr und Frau K. schleppten dann eine Kiste herein und verschwanden damit im angrenzenden Badezimmer. Wir sahen neugierig aus dem Fenster und warteten auf das Erscheinen der ersten Russen, denn vereinzeltes Gewehrfeuer war schon ein Weilchen zu vernehmen. Dann plötzlich huschte eine Gestalt in fremder Uniform um eine Hausecke: „Die Russen sind da!“ Herr K. rief seinen jüngsten Sohn ins Bad. Ein lauter Knall peitschte in die angespannte Situation. Dann kam Frau K. ins Schlafzimmer zurück mit dem Ausruf: „Vati erlöse mich!“ Herr K. erschien mit einer Pistole in der Hand und schoss sie auf seine Frau ab. Sie sackte ohne einen Laut zusammen  In dem folgenden Wirrwarr schoss K. immer wieder und alle, auf die er angelegt hatte, fielen zu Boden. Ich versuchte zu flüchten und rannte ins Bad. Herr K. hinterher und dann plötzlich verspürte ich einen Schlag auf die rechte Wange. Ohne das ich realisieren konnte, was geschehen war, tat ich das, was ich bei den anderen gesehen hatte: ich ließ mich zu Boden fallen. Es knallte noch mehrfach und schließlich war alles sehr still. Ich verharrte am Boden. Aus dem Schlafzimmer war heftiges Stöhnen zu hören. Ich stand auf und sah mich um. Dort im Bad lag meine Mutter regungslos mit dem Kopf in einer Blutlache. Daneben mein Bruder mit Blut am Bauch und an der Stirn und dort lagen auch Ute und Jörg. Im Schlafzimmer lagen Herr und Frau K. und ihre älteren beiden Kinder. Inge (14 Jahre) hatte sich, Blutspuren hinterlassend, stöhnend durch das Zimmer geschleppt, lag nun aber still auf dem Bett. Es war nichts mehr zu hören. Auch bei einem Blick aus dem Fenster sah ich niemanden. Mir tat die rechte Wange weh und wenn ich den Mund bewegte, schmerzte der linke Mundwinkel. Schließlich legte ich mich wieder auf den Boden, denn dort lagen die anderen ja auch. Dass sie schwer verletzt oder tot waren, realisierte ich nicht: Für mich lagen sie da und schliefen. Nach einer längeren Zeit hörte ich Geräusche in den Nachbarräumen: dort kam jemand: Es waren Russen, die das Haus durchsuchten. Sie nahmen mich mit zur Wohnung einer Nachbarfamilie, wo ich von einem Russen verarztet wurde: ich hatte einen Munddurchschuß: Einschuß dicht vor dem rechten Kiefergelenk, Ausschuß im linken Mundwinkel. Nach einiger Zeit brachte man auch die beiden jüngeren K.-Kinder Ute und Jörg und später auch meine Mutter, die es sehr schwer im Bereich der linken Schläfe getroffen hatte: Sie hat damals zweieinhalb Tage ohne Bewusstsein gelegen und hatte sehr viel Blut verloren. Aber die Russen haben sie schließlich doch durchgebracht. Wir vier waren die Überlebenden dieser Torschlusspanik der Eheleute K. Sie selbst und ihre beiden älteren Kinder, wie auch mein kleiner Bruder Gotthart hatten nicht überlebt.

Ich kann es auch heute noch nicht fassen:  Selbst wenn ich unterstelle, dass eine intensive Propaganda über die Schrecken eines Lebens unter russischer Herrschaft (die ja eigentlich die Kraft zur Widerstandsleistung stärken sollte!) jemanden zum Selbstmord und zur Tötung der ihm Schutzbefohlenen treibt: wie konnte der Wahn der Durchführung Herrn K. so blenden, dass er seine eigenen Kinder (die beiden älteren, die sich noch lange nach den Schüssen stöhnend herumschleppten) so qualvoll sterben lässt. Aber es war natürlich meines und meiner Mutter Glück, dass Herr K. nicht mehr registriert hat, wen er und wen er nicht tödlich getroffen hatte.

Was wir in den ersten Tagen unter russischer Herrschaft, zumal noch unter Frontbedingungen erlebten, strafte die NS-Propaganda, soweit sie uns K. weitergegeben hatte, als Lüge: wir als Verletzte wurden bestens von den Russen versorgt. Das hätte möglicherweise für das Ehepaar K. anders ausgesehen, denn die befreiten russischen Gefangenen hätten sicher alles getan, um die Ihnen zugefügten Widerwärtigkeiten zu rächen.

Nachdem sich der Zustand meiner Mutter soweit stabilisiert hatte, dass sie sich wieder aufrecht halten konnte, brachten die Russen uns (auch Ute und Jörg),  in unsere Wohnung zurück, in die sich inzwischen eine Stabsstelle einquartiert hatte. Doch das Schlafzimmer stand uns voll zur Verfügung. Die Anwesenheit der Stabsstelle hatte den ungeheuren Vorteil, dass keine einfachen Soldaten zu uns vordringen konnten, d.h. meiner verletzten Mutter blieben die ständigen Überfälle und Vergewaltigungen durch die Frontsoldaten, unter denen die anderen Frauen im Ort zu leiden hatten, während dieser Zeit erspart.

Das nahe Pyritz und seine Umgebung blieb noch mehrere Wochen Frontgebiet, weil die Kreisstadt zwar eingeschlossen, aber verhältnismäßig stark befestigt war und der russischen Armee erbitterten Widerstand leistete. Wir spürten das insbesondere dadurch, dass nicht weit vor unserem Schlafzimmerfenster in der Gärtnerei eine Artillerie-Batterie mit Stalinorgeln in Stellung gegangen war, die Tag und Nacht in Richtung Pyritz feuerte. Diese Batterie zog natürlich auch die Aktivitäten der deutschen Verteidiger auf sich und so verlegten uns die Russen für die Zeit des Kampfes um Pyritz aus der Kampfzone zurück in die etwa 14 km südlich von Pyritz gelegene Stadt Lippehne. Als wir Anfang März von dort zurückkamen, wurde uns in Naulin in ein anderes Haus eingewiesen, wo aus zugewiesen, wo wir mit vielen anderen Frauen und Kindern zusammengepfercht wurden. Jeder hatte nur ein Matratzenlager auf dem Fußboden.

Die Front hatte sich wegverlagert. Trotzdem wurde nun für die Frauen jeder Abend zum Martyrium, denn dann kamen die Besatzungsrussen mit den Worten: „Frau, komm!“ und sie wurden schnell gewalttätig und schlugen mit den Gewehrkolben zu, wenn die Frauen sich ihrer Zudringlichkeit zu erwehren suchten. Es war furchtbar auch für meine noch  immer unter der schweren Schussverletzung leidende Mutter! Tags mussten die Frauen arbeiten: das in den Ställen der Bauern und des Gutes noch verbliebene Vieh war zu füttern und zu tränken und die vielen im Ort und der näheren Umgebung noch immer verstreut liegenden Leichen deutscher Soldaten, Volkssturmleute, und Hitlerjungen und auch die vielen Tierkadaver mussten vergraben werden. Für uns Kinder war die noch vielfach herumliegende Munition von besonderem Reiz. Wir brachen z. B. die Geschoßhülsen auf, um das Schwarzpulver zu sammeln und dann in kleinen Häufchen zu entzünden. Dabei kam es auch schon mal zu Unfällen (Verbrennungen), aber nicht zu größeren Explosionen, denn von Granaten hielten wir uns fern.

Die Russen trieben das verbliebene Vieh (Pferde und Rinder) zusammen, um es in größeren Herden ostwärts fortzutreiben. Sie sammelten außerdem alle möglichen Metalle und schmolzen sie ein, insbesondere an Blei kann ich mich schmerzhaft erinnern, weil ein Russe mich aufforderte die Hand auf die glänzende Oberfläche im Schmelzgefäß zulegen. Ich habe mir dabei natürlich heftige Brandverletzungen zugezogen. Aber die Russen haben gefeixt und lauthals gelacht über meine bestrafte Neugier. Sie lieferten aber auch selbst des Öfteren den Grund für so manche Lachnummer, etwa als sie Fahrräder gefunden hatten und dann unermüdlich versuchten, sie auch zweckentsprechend zu benutzen oder als ein Russe kurz nach dem Einmarsch eine Deutsche beschuldigte: sie hätte ihn per „Zappzerappmaschine“ (Spültoilette) bestohlen. Er hatte in der Toilettenschüssel etwas abwaschen wollen und dazu die Spülung betätigt und er war dann außer sich, als seine Sachen verschwunden waren.

Im Sommer gab es dann einen Herrschaftswechsel. Die Russen zogen ab und übergaben an polnische Soldaten: der Status „unter polnischer Verwaltung“ begann. Er dauerte für uns nur kurze Zeit. Es muß im Juli gewesen sein, da hieß es eines Tages: alle Deutschen hätten sich innerhalb einer Stunde mit kleinem Gepäck vor der Kirche zu versammeln; es ginge um eine vorübergehende Evakuierung von geringer Dauer. Meine Mutter sammelte die notwendigsten Sachen, soweit sie überhaupt noch vorhanden waren, in unserem alten Kinderwagen zusammen, -etwas anderes fahrbares hatten wir nicht-, und so begann für uns der Auszug aus unserer pommerschen Heimat.

Mutter nahm sich auch weiterhin der beiden K-Kinder Ute und Jörg an, denn die hatten nun wirklich niemanden mehr, der sich um sie kümmern konnte oder wollte.

In einem Treck, der mit jedem Ort und jeder Straßenkreuzung größer wurde, trieben uns die Polen in Richtung Oder. Über etwa 50 km ging es zu fuß in 3 Tagesetappen, teils ohne, teils mit unzulänglichem Schuhwerk über das schon verwaiste Städtchen Bahn nach Fidichow und dann über die Oder nach Schwedt. Unterwegs gab es kein Pardon, wenn ein Wagen kaputt gegangen war und das war mehrfach der Fall, denn die meisten Wagen waren ja Jahrelang nicht benutzt und auch nicht gepflegt worden. „Dawei, dawei“ war die alleinige Devise! Wenn ein Vehikel zu sehr hinderte, wurde es von den polnischen Soldaten einfach umgestoßen und vollends zerstört und die Eigentümerin ohne Ihre letzten Habe weitergetrieben. Bei einer Rast kurz vor der Oder kamen polnische Zivilisten und schütteten alle Behältnisse der Deutschen auf die Straße um sie zu durchstöbern und alles für sie interessante, insbesondere Wertsachen, zu beschlagnahmen. Den leidgeprüften und völlig entkräfteten deutschen Frauen und Kindern wurden hier auch noch ihre letzten Habe geraubt. Bei Widerstand waren sogleich die polnischen Wachsoldaten zur Stelle und stießen die deutschen zu Boden. Viele Dinge wurden einfach im Straßendreck vernichtet,  was häufig mit Fotos (insbesondere von Uniformierten) oder unwiederbringlichen Dokumenten geschah. In Schwedt (auf dem Westufer der Oder) angekommen, wurde der Treck den Russen übergeben, denn wir waren ja nun in der russischen Besatzungszone. Die Russen führten ihn zum Bahnhof. Hier gelang es meiner Mutter eine Hilfsstation, ausfindig zu machen, die sich um verloren gegangene Kinder bemühte und in deren Obhut gab sie Ute und Jörg, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sie hier in guten Händen waren, denn man war sehr freundlich und führte uns einen Wohn-Standart vor, den wir schon lange nicht mehr für möglich gehalten hatten: weiche, mollige Federbetten) und zu essen gab es köstliches und reichlich!. Die Trennung musste sein, denn die Versorgung von uns allen Vieren überstieg einfach Mutters Kräfte.

Schließlich verlud man den Treck (u.a. auch meine Mutter und mich) in bereitstehende Güterwagen, mit denen wir zu einem großen Auffanglager in Nauen bei Berlin transportiert wurden. Dort waren wir nun wieder in einem Gebiet mit wenigstens teilweise funktionierender Infrastruktur. Meine Mutter begann sofort an alle ihr noch in Erinnerung gebliebenen Adressen zu schreiben, um wieder Kontakt mit Verwandten zubekommen. Es vergingen bange Tage, doch dann bekamen wir Antwort von einer Tante aus Broda bei Neubrandenburg. Broda war schon Sammelpunkt von Verwandten väterlicherseits aus der Neumark  geworden. Doch so groß die Wiedersehensfreude war, es wuchsen auch die Probleme der Nahrungsbeschaffung. Wir mussten deshalb übers Land von Bauernhof zu Bauernhof ziehen und um Essen betteln. Wir bekamen  hier einen Knust Brot und dort ein paar Kartoffeln oder Gemüse. Aber nicht überall waren wir Willkommen, denn die Vielzahl der Bettelnden überforderten bald die noch wohlwollenden Bauern und es kam dann vor, dass man uns mit dem Hofhund verjagte, ehe wir überhaupt unser Anliegen vortragen konnten. Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass auch die Notleidenden häufig nicht zimperlich waren und sich nahmen was sie begehrten, ohne lange zu fragen: vom Feld, aus den Gärten und auch aus den Ställen! Trotzdem wurden wir ab und zu auch von einer Bäuerin an den Tisch geladen und wir konnten uns satt essen! Das waren für uns dann Festtage. Schließlich fand ich einen Bauern in der Nähe, dem die Pferde abgenommen worden waren und der Hilfe bei der Feldbestellung brauchte. Ich musste mit einem Handwagen Mist aufs Feld fahren und verstreuen. Als 7-jähriger hatte ich einen schwer mit Stallmist beladenen Handwagen 1,5 km über Feldwege und dann noch (teilweise entladen) über weichen Acker zu ziehen. Aber ich hatte wenigstens regelmäßig und satt zu essen!

Meine Mutter hatte sich inzwischen weiter bemüht, jemanden aus Ihrer Familie ausfindig zu machen und ihre Mutter in Spantekow bei Anklam gefunden, wohin sie aus der Nähe von Gollnow geflüchtet war. Wir zogen zu ihr in eine Dachgeschosswohnung im Pfarrhaus. Es war inzwischen Herbst geworden und der Winter stand vor der Tür: wir brauchten Brennmaterial für Herd und Ofen. Also ging es auf ins nächste Gehölz, einem wunderschönen und früher gepflegten Schlosspark. Dort wurden dann Bäume nach Brennholz-Gesichtspunkten zum Fällen ausgewählt und zerkleinert. Der Winter 45/46 war lang und hart( ich habe danach nie wieder so prächtige Eisblumen auf den Fensterscheiben gesehen) aber wir überstanden ihn gut und warm dank des „edlen“ Holzes aus dem Schlosspark. Nach Spantekow hatte es auch einen Universitäts-Professor aus Berlin verschlagen, der sich Sorgen um die Bildung der Kinder machte und so begann ich zum zweiten Male meine Schulzeit. Mit allerlei pädagogischen Mätzchen brachte er uns das Schreiben von Zahlen und Buchstaben bei, das Zusammenfügen letzterer zu Wörtern und natürlich auch das Rechnen.

Im Sommer 1946 brachten wir dann in Erfahrung, dass es Vaters Bruder gelungen war, aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Westdeutschland zu fliehen. Dorthin, nach Neustadt am Rübenberge waren inzwischen auch die Brodaer umgezogen. In regem Schriftwechsel gelang es ihnen schließlich, meine Mutter davon zu überzeugen, dass in der britischen Besatzungszone die besseren Lebensbedingungen gegeben seien und so übersiedelten wir, zunächst nur meine Mutter und ich im März 1947 in den Westen, natürlich schwarz über die Grenze unter der Führung eines dort ansässigen Schleußers.

In Neustadt a. Rbge. Wohnten wir weit außerhalb der Stadt, mitten im Toten Moor, also auf halbem Weg zum Weißen Berg, der Düne am Nordufer des Steinhuder Meeres. Mein Schulweg betrug etwa 5km und das zu Fuß, denn fahrbares gab es damals nicht. Selbst zum Einkaufen mussten die 5 km hin und auch wieder zurück mit Ware in der Handtasche gelaufen werden. Zudem gab es dort draußen weder Wasserleitung, noch elektrischen Strom und auch kein Telefon! An den kurzen Tagen im Winter, wenn es nach Schule und Schulweg schon bald wieder dunkel wurde musste ich häufig beim trüben Schein einer Petroleumlampe meine Schulaufgaben erledigen. Zum Lebensunterhalt musste meine Mutter im Moor arbeiten: Torf zum Trocknen auf- und umsetzen. Von den besseren Lebensbedingungen im Westen waren wir dort im Moor nicht mehr überzeugt.

1947 war es dann auch gelungen Kontakt zu meinem Vater in französischer Kriegsgefangenschaft herzustellen, aus der er dann im Frühsommer 1948 entlassen wurde.  Auch für ihn waren die Nachkriegsjahre voller Enttäuschungen. In Westdeutschland gab es nur sehr wenige größere Landwirtschaftsbetriebe, deren Bedarf an Leitungspersonal bis zur Heimkehr meines Vaters schon so gut wie gedeckt war und war doch mal eine Stelle zu besetzen, so gab es Waschkörbeweise Bewerbungen. Es fand sich also keine Möglichkeit für meinen Vater in seinem Beruf wieder Fuß zu fassen, obwohl er unzählige Bewerbungsschreiben absandte. Ihm blieb nur der Körperlich und psychologisch schwere Weg, sich über mehrere Jahre schwerster Arbeit im Tiefbau langsam wieder hochzuarbeiten. Unter größten Entbehrungen ermöglichten mir meine Eltern trotzdem den Besuch der Oberschule in Wunstorf, für den damals auch noch Schulgeld bezahlt werden musste, neben Bahnfahrkarte und Lehrmittelbeschaffung. Leider konnte mein Vater nicht mal mehr mein Abitur  miterleben, weil er 1958 ein halbes Jahr davor nach einem unverschuldeten Motorradunfall verstarb.