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Zeitzeugenberichte - Kriegs- und Nachkriegszeit -
Einmarsch
der Alliierten
Im April 1945 war ich 6 Jahre alt. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind
lückenhaft. Einzelne Erlebnisse haben sich mir allerdings tief eingeprägt.
Seit Herbst 1943 war ich bei einer Polizistenfamilie in Bünde-Spradow
evakuiert. Diese sehr ländlich strukturierte Gegend blieb von Großangriffen
der Engländer und Amerikaner verschont. Um so unangenehmer waren die
ständigen Tieffliegerangriffe. Da unterhalb des Hauses, das auf einer kleinen
Anhöhe lag, eine der
Hauptbahnlinien Deutschlands entlang führte, flogen die Flugzeuge direkt
über unser Haus die Bahnlinie an, um in Höhe dieses mit dem Beschießen zu
beginnen. Für mich als kleiner Junge war das mit Ängsten und Schlaflosigkeit
verbunden.
Anfang April 1945 hörten diese ständigen Angriffe auf. Ich kann mich gut an
die ungewöhnliche Stille und doch Unruhe erinnern. Tante Erna, für mich wie
meine zweite Mutter, war die Frau des Polizisten, bei dem ich evakuiert war.
Onkel Paul, der Polizist, war seit Tagen verschwunden, obwohl er während
meiner ganzen Zeit, die ich dort verbracht habe, immer da gewesen war.
Morgens war Tante Erna mit mir zu einem Bauern gefahren, wobei ich auf dem
Gepäckträger des Fahrrades Platz nehmen durfte, denn es ging herrlich
bergab. Auf dem Rückweg musste das Fahrrad geschoben werden. Wenige hundert
Meter, bevor wir unser Haus erreicht hatten,
sahen wir ein sehr kleines Flugzeug ständig über uns kreisen. Es sah
eigentlich recht harmlos aus, die wir doch die großen grauen schnellen
Flugzeuge, die die Bahn angriffen, gewöhnt waren. Und doch war es unheimlich. Tante Erna und ich rannten so schnell wir konnten auf unser
Haus zu. Als das Flugzeug immer niedriger flog und nicht weit von uns landete,
sind wir in einen Graben gesprungen. Zwei Fremde entstiegen dem Flugzeug und
gingen auf einen nahen Bauernhof zu. " Es ist der Feind " mit
dieser, für mich heute noch eingeprägten Aussage, schnappte sie ihr Fahrrad
und wir rannten so schnell es ging zum Haus und in den Keller. Getan hat sich
weiter nichts.
Am
nächsten Tag, es war weiterhin unheimlich still, sind wir, Tante Erna, der
Sohn Rolf und ich in den Keller eines Nachbarhauses gegangen, das etwas weiter
von der Straße entfernt lag. Die Tür zum Kellerausgang zeigte zur Straße
und war von uns offen gelassen worden. Ich spielte draußen vor dem
Kellereingang. Plötzlich hörten wir Motorenlärm und wenig später fuhr eine
Vielzahl von Lkws, in einer uns fremden Art und Farbe, die Straße hinunter.
Hinten auf den Ladeflächen standen gedrängt Soldaten, die fröhlich sangen
und zu uns rüber winkten. Ich winkte zurück, da für mich nichts
Gefährliches zu sehen war. Von meiner Tante Erna wurde ich barsch
ausgeschimpft und sie verbot mir zurückzuwinken mit dem Hinweis: Das ist der
Feind. Danach
wurde vieles anders. Es begann damit, dass die vielen hundert Flugzeuge, die
sonst jeden Tag über alle Monate hin hoch über uns wegflogen, verschwunden
waren. Auch Tiefflieger gab es keine mehr. Fremde Soldaten waren auch nicht zu
sehen. Es waren jedoch viele zerlumpte Männer unterwegs. Nach Aussage von
Tante Erna Fremdarbeiter. Zwei von denen drangen Tage später in unser Haus,
durchsuchten dieses und fragten uns nach Onkel Paul, den Polizisten. Ganz
aufgelöst rannte Tante Erna mit mir in das Nachbarhaus, um dort über das
Eindringen zu berichten. Die Männer zogen aber, nachdem sie Onkel Paul nicht
gefunden hatten, wieder ab. Von da an wurden Haustür und die Tür zum Garten
ständig abgeschlossen.
Mitte
Mai 1945 sagte mir Tante Erna, dass meine Mutter käme, um mich abzuholen.
Diese erschien am nächsten Tag zu Fuß, gemeinsam mit meiner Schwester.
Hinter sich her zogen sie einen Fahrradanhänger. Beide sahen sehr erschöpft
aus. (Die Entfernung zwischen
Bielefeld und Spradow, von mir viel später festgestellt, beträgt knapp 30
Kilometer.) Nachmittags wurde mein Koffer gepackt und am frühen Morgen des
nächsten Tages der Koffer, mein Dreirad, und auf Teilstücken des Weges auch
ich, auf den Anhänger gepackt und endlich ging es nach Hause. Nachmittags
hatten wir Bielefeld erreicht. Dabei führte unser Weg durch die Straße
" Am Stadtholz ". Auf der einen Seite der Straße liegt das große
Werk 2 der Anker Werke AG, auf der anderen das ehemalige Luftwaffendepot. Vor
dem Depot standen wieder diese mir unbekannten Lkws, aber auch kleinere
Fahrzeuge, die wir später als Jeep kennen lernen sollten. Aus allen Fenstern
schauten Soldaten. Dabei habe ich zum ersten Mal im Leben Neger gesehen, die
mich ungeheuer beeindruckt haben. Ich schaute ständig fasziniert zu den
Soldaten hinüber, die lachten, winkten und etwas in ihrer Sprache riefen, was
wir nicht verstehen konnten. Beide, sowohl meine Mutter als auch meine
Schwester, riefen mir zu, nicht ständig zu den Soldaten zu sehen. Und dann
hörte ich wieder die gleiche Aussage: Es sind unsere Feinde.
Ich
kann mich erinnern, dass ich die erste Zeit meiner Evakuierung großes Heimweh
hatte. Darum war ich froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Unser Haus war
zwar teilbeschädigt aber voll bewohnbar.
Die Wochen nach meiner Rückkehr konnten wir, soweit etwas zu
beschaffen war oder wir spielen wollten, dies nur tagsüber tun. Es bestand
strenges Ausgehverbot nach 19 Uhr. Da es in unserem Hause üblich war,
miteinander zu sprechen und zusammen zu sitzen, haben wir diese
Zusammenkünfte in den Hinterhof verlegt. In diesem stand eine Laube, in der
sich abends bei gutem Wetter die Hausbewohner trafen und miteinander redeten. Zu
erwähnen ist, dass es sich um ein 8-Familien-Haus handelte und in der Laube
ständig etwas los war. Für uns Kinder war das sehr interessant. Um in
die Laube zu kommen, haben wir den Kellerdurchgang benutzt, der von der
Straße nicht eingesehen werden konnte. Ein Tor zur Straße wurde zu Beginn
des Ausgangverbotes von meinem Vater mit einer Kette abgeschlossen, so dass
niemand in den Hof gelangen konnte.
Tagsüber
haben wir Kinder auf der Straße und den näheren Trümmergrundstücken
gespielt. Es war üblich, die amerikanischen Soldaten anzusprechen und um ein
Kaugummi zu betteln. Meine erster englischer Satz, den ich nie vergessen habe,
war: "Have you a chewinggum for me." An den Ecken der Straßen drückten sich
ständig Soldaten rum, mit denen alles Mögliche getauscht werden konnte. Für
uns Kinder war das Tauschprodukt immer ein Streifen oder auch mehrere
Kaugummi, das dann viele Tage gekaut wurde, wobei man dieses abends in
einen Eierbecher mit Zucker legte, um es am Morgen erneut zu kauen. Einmal
sah ich, wie ein amerikanischer Soldat für eine deutsche Pistolentasche ein
ganzes Paket Kaugummi gab. Da ich wusste, dass wir im Schlafzimmer etliche
Pistolentaschen liegen hatten, woher auch immer, habe ich mir eine geholt und
eingetauscht. Mein Vorrat an Kaugummi war über viele Wochen gesichert.
Die
für uns Kinder größte Errungenschaft nach Einmarsch der Alliierten war die
Schulspeisung. Im Herbst 1945 hatte sich das Leben soweit normalisiert, dass
wir eingeschult werden konnten.( Wobei man hinzufügen muss, dass die
Einschulung nach dem Krieg bis in die 70er Jahre eigentlich im Frühjahr war.
) Damit begann für uns die Zeit,
dass wir einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekamen, die von den größeren
Schülern ausgeteilt wurde. Einen Henkelmann, im Regelfall war das ein
Militärkochgeschirr, brachte jeder mit. Ich erinnere mich, dass es sogar
einmal mehrere Tafeln Schokolade gab, die ich bis dahin nicht kannte. Es war
herrlich eine sofort zu essen. Allerdings wurde mir wenig später davon so
übel, dass die weiteren Tafeln, streng rationiert von meiner Mutter, über
Tage von mir, und sicher auch von meinen Geschwistern, stückchenweise
gegessen wurde. Es schmeckte wunderbar.
Aufgezeichnet
aus der Erinnerung im Dezember 2002 |
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