Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Friedrich

 

Die Flucht Januar 1945

Vorbemerkung

Im Januar 1945 war ich 16 Jahre und 11 Monate alt. Ich wohnte auf dem Bauernhof meiner Eltern im Kreise Posen (damals Warthegau). Offiziell war ich Schüler des Schillergymnasiums in Posen. Doch seit Beginn des neuen Schuljahres Anfang September 1944 konnte ich nur etwa 4 Wochen lang die Schule (6. Klasse = Obersekunda) besuchen. Nebenbei war ich HJ-Führer (Gefolgschaftsführer) und hatte oft den Dienst zu leiten. Etwa ab Mitte September 1944 wurde ich nacheinander zu mehreren Dienstverpflichtungen einberufen, u. a. auf der Banndienststelle in Posen in den Führungsstab. Nach Neujahr 1945 fing wieder mein Dienst in Posen an. So fuhr ich auch am 20. Januar früh am Morgen mit der Eisenbahn nach Posen (es war ein Samstag).

Und hier beginnt meine Geschichte der Flucht mit sehr dramatischen Begebenheiten: Auf der Banndienststelle angekommen, erfahre ich, daß das Büro geräumt werden müsse und viele Akten verbrannt werden sollen, da die Sowjettruppen die deutschen Stellungen durchbrochen hatten und sich u. a. auf dem Vormarsch Richtung Posen befinden. Am späten Nachmittag haben wir unsere Arbeit geschafft. Der Bannführer gibt uns den Auftrag, nach Hause zu fahren, um Kleidung und Proviant zu holen. Wir sollen am Sonntag 21. Januar oder spätestens am Montag nach Posen zurückkehren. Sollte eine Rückkehr nicht mehr möglich sein, dann sollen wir uns dem Volkssturm anschließen und den Treckbegleitschutz übernehmen, u. a. wegen möglicher Partisanenüberfälle.

Ich mache mich mit einem Kameraden gleichen Dienstranges auf den Weg zum Posener Hauptbahnhof. Zu unserem Entsetzen treffen wir auf eine riesige Menge von Zivilisten - Frauen, Kinder und alte Leute -, ein Durchkommen bis in die Bahnhofshalle scheint unmöglich. Plötzlich entdecke ich eine Wehrmachtstreife, „Kettenhunde" genannt. Ich sage ihnen unseren Auftrag. Sehr mühsam machen sie uns eine Gasse frei bis zur Bahnhofshalle. Dort erfahre ich, daß mein Zug in nördlicher Richtung (Gnesen) nicht mehr fährt. Doch erstaunlicherweise erfahre ich, daß der Zug Richtung Osten (Schwersenz-Kostschin) noch fährt. Das ist eigentlich die Richtung meines Kameraden. Ich steige mit in diesen Zug ein, denn er bringt mich etwas näher an meinen Kleinstadtbahnhof  heran. Mein Kamerad steigt in Schwersenz aus. Ich muß noch weiter nach Kostschin. Auf den letzten Kilometern dieser Strecke sehe ich beiderseits der Bahnstrecke deutsche Infanterie in Stellung gehen. Darüber bin ich sehr erstaunt, denn am frühen Morgen schien die Welt noch einigermaßen in Ordnung zu sein, und nun das!

Als ich in Kostschin ankomme, ist es schon dunkel. Ich hoffe, dort ein Wehrmachtsfahrzeug anzutreffen, das mich nach P. mitnehmen könnte. Doch nichts dergleichen: Ich sehe weder Militärfahrzeuge noch ein Zivilfahrzeug. Also mache ich mich zu Fuß auf den ca. 13 km langen Weg.

Mir ist bekannt, daß sich in einem größeren Wald kurz vor P. schon seit dem Sommer Partisanen befinden. Bewaffnet bin ich nur mit einer Minipistole Kaliber 6,35. Damit habe ich keine Chance, mich erfolgreich zu wehren. So reiße ich zunächst meine leuchtende Armbinde ab, um nicht aufzufallen. Ich finde ein Fahrrad und fahre damit ein Stück in Richtung Wald. Kurz vor dem Wald steige ich ab und gehe etwa 60 bis 70 m in den Wald hinein, und zwar so, daß ich zur Orientierung noch die Straße erkennen kann. Ich nehme an, daß sich Partisanen jetzt wohl im Straßengraben aufhalten werden. Auf jeden Fall erreiche ich unbelästigt den Bahnhof. Dort befindet sich mein Fahrrad, mit dem ich die letzten 8 km nach Hause zurücklegen will. Auf dem Bahnhof wimmelt es ebenfalls voller Menschen. Kurz vor Mitternacht erreiche ich mein Zuhause. Meine Angehörigen haben auf mich gewartet, deshalb wollen sie erst am frühen Sonntagmorgen losfahren, ein verhängnisvoller Fehler. Der Räumungsbefehl kam allerdings auch erst am Nachmittag des 20. Januar. Ein früheres Abreisen war verboten. Ein Verbrechen der Parteibehörden!

Inzwischen hatten meine Angehörigen 2 Pferdewagen vorbereitet, und zwar einen Proviantwagen und einen Wagen für die Familie. Zu allem Unglück litt meine 23-jährige Schwester an einer Gallenblasenentzündung. Ärztliche Hilfe war nicht mehr möglich. Außerdem hatte ich noch eine 15-jährige Schwester. Mein Bruder war bereits 1943 als Fahnenjunker gefallen, ein sehr schmerzlicher Verlust für die Familie. Er war gerade 20 Jahre alt geworden.

Nun heißt es Abschied nehmen von dem sehr vertrauten Zuhause. Wann werden wir wohl wieder zurückkönnen, und wie wird es dann hier aussehen?? Ich gehe auch noch einmal in den Pferdestall und  verabschiede mich von meinem sehr schönen, temperamentvollen Reitpferd. Auf dieser beschwerlichen Fahrt können wir es nicht gebrauchen.

Bei sehr schönem, sonnigen Winterwetter geht es am frühen Morgen auf die Reise. Zwei polnische Kutscher lenken jeweils einen Wagen. Unsere polnischen Arbeiter winken uns noch lange nach, sie haben Tränen in den Augen. Zunächst geht die Fahrt recht zügig voran. Am späten Abend machen wir auf einem verlassenen Gutshof Rast. Meine kranke Schwester muß unbedingt versorgt werden. Kanonendonner ist noch nicht auszumachen. Doch an Schlaf ist auch in dieser Nacht nicht zu denken.

Am Montag früh, 2. Januar, geht es bei wieder sehr schönem aber kaltem Wetter weiter Richtung Warthe. Angeblich soll es hinter der Warthe eine gewisse Sicherheit geben. Abends erreichen wir ein einsam stehendes Schulgebäude, in dem sich unter Führung eines Feldwebels eine vorgeschobene Feldwache befindet. Der Flüchtlingstreck stockt andauernd. Ich spreche mit dem Feldwebel und frage nach dem Grund. Er sagt mir, daß der leichte Anstieg zur Warthebrücke sehr glatt sei, so daß die Pferdegespanne nur sehr mühsam dieses Hindernis überwinden können. Er bietet uns eine kurze Rast an. Wir können uns etwas zum Essen kochen. Ihm ist zu dieser Zeit nicht bekannt, daß sich schon russische Panzer nähern. Über Feldtelefon hat er Verbindung zum Bataillonsstab in der Stadt Obornik an der Warthe. Über dieses Telefon werden Männer angefordert, die sich zur Brücke begeben sollen, um die Flüchtlingswagen durch Schieben schneller hinüber zu befördern.

Auch mein Vater und ich kommen dieser Aufforderung nach, denn von nahenden Russenpanzern ist nichts bekannt. Es ist inzwischen knapp 23 Uhr, als wir uns auf den Weg begeben. Mein Vater hat ein Jagdgewehr bei sich, ich lediglich eine größere Pistole (7,65). Wir gehen durch einen mehrere hundert Meter breiten Wald Richtung Warthebrücke in der Stadt Obornik, die ca. 3 km entfernt ist. Wir erreichen das Waldende und kommen auf eine freie Fläche. Die Straße ist vollgestopft mit Flüchtlingswagen. Inzwischen haben wir den Wald etwa 200 m hinter uns gelassen, als plötzlich im Wald oder am Waldrand einige Gewehrschüsse fallen. Wir bleiben stehen und lauschen .Ich sage zu meinem Vater: „Ob das wohl Partisanen sind? Ausgerechnet jetzt haben wir die Wagen mit unserer Familie verlassen." Plötzlich fallen vom Waldrand her viele Schüsse. Auch aus der anderen Richtung fallen Schüsse. Pferde scheuen und brechen mit den besetzten Wagen seitlich aus. Frauen und Kinder schreien um Hilfe. Ein entsetzliches Durcheinander entsteht. Mein Vater springt hinzu, um ein ausbrechendes Gespann aufzuhalten. Ich rufe meinem Vater zu:" Ich laufe zurück zu unseren Wagen." Ich hatte kaum 30 m zurückgelegt, da bemerke ich, daß ich gezielt beschossen werde, und zwar nicht nur mit einem Gewehr, sondern auch mit einem MG. Um die Lage erst einmal zu beobachten, werfe ich mich in den Schnee. In meiner dunklen Kleidung bin ich natürlich gut zu sehen. Plötzlich erkenne ich einen Panzer, der mich beschießt. Also kann es nur ein russischer Panzer sein.

Inzwischen wird auch das Schießen von der anderen Seite stärker. Das muß demnach die deutsche Stellung sein. Wir sind zufällig zwischen die Fronten geraten. Ich liege im Feuer beider Seiten. Von meinem Vater sehe ich nichts. Ich bemerke nur, daß die Flüchtlingswagen in alle Richtungen rasen, höre Frauen und Kinder schreien. Als sich der Russenpanzer langsam auf mich zubewegt, mache ich auf dem Bauche kehrt und robbe so schnell ich kann in Richtung deutscher Stellung. Das Robben hatte ich vorher zur Genüge gelernt, so daß ich ziemlich schnell vorankomme. Der Russenpanzer schießt schon wieder. Welch ein Glück habe ich, daß ich noch nicht getroffen worden bin! Plötzlich höre ich vor mir ein Rufen. Es sind deutsche Soldaten, die mir aus ihrer Stellung (HKL) hinter dem Panzergraben zurufen, ich solle mich sehr beeilen, um den noch nicht gesprengten Übergang über den Panzergraben zu überwinden.

Die Soldaten wollen den Übergang gleich sprengen, denn der oder die Russenpanzer schieben sich ständig schießend immer näher heran. Endlich kann ich mich in den rettenden Schützengraben werfen. Ich bin ganz außer Atem. Auch ohne Handschuhe habe ich bei etwa 10 Grad Frost ganz warme Hände. Der Soldat neben mir bemerkt, daß ich kein Gewehr habe. Er wirft mir das Gewehr eines soeben verwundeten Kameraden zu. Ich sehe Männer vor mir hin und her rennen. Sind es Russen? Sind es Deutsche? Es können auch Hiwis sein (russische Hilfskräfte in der deutschen Armee). Sie befanden sich ebenfalls in diesem Treck, denn sie hatten sehr viel Angst vor ihren Landsleuten. Ich traue mich nicht zu schießen, denn mitten in der Nacht kann man kaum erkennen, ob es Deutsche sind oder ob auch russische Soldaten, die mit den Panzern gekommen waren, sich schon vor der deutschen Stellung befinden. Jedenfalls laufen sehr viele Menschen vor der deutschen Stellung umher. Der tiefe Panzergraben ist ein riesiges Hindernis. Für viele wird er zur Todesfalle. Im Oktober 1944 habe ich mit vielen anderen Kameraden diesen Panzergraben hergestellt. Er war damals allerdings als Schutz gedacht und nicht als Falle.

Nachdem ich etwas zur Ruhe gekommen bin, überdenke ich die soeben eingetretene Situation: Von meiner Familie befinde ich mich alleine hier in der deutschen Stellung. Meinen Vater kann ich bei diesem starken Geschieße im Vorfeld nicht suchen gehen. Ich wäre in Sekunden tot. Meine Mutter mit den beiden Schwestern kann in diese Schießerei nicht hineingeraten sein, denn sie müßten sich noch am östlichen Waldrand befinden. Allerdings sind sie nun auf der russischen Seite. Man kann nur beten, daß sie dieses Desaster einigermaßen überstehen mögen.

Der Kampf geht unerbittlich weiter. Ein russischer Panzer wird von einer Panzerfaust getroffen und brennt. Ein weiterer russischer Panzer schießt unaufhörlich in die deutsche Stellung hinein. Dabei erwischt es auch mich. Etwa 20 m vor mir platzt eine russische Panzergranate. Ich hatte eben den Kopf wohl etwas zu hoch gehoben. Von dem aufgewirbelten Dreck und von kleinen Steinsplittern bekomme ich einiges ins Gesicht. Ich verspüre ein starkes Brennen, aber mit dem rechten Auge kann ich noch sehen. Auch etwas Blut rinnt mir übers Gesicht. Ein Sani klebt mir ein Pflaster drauf.

Ich will die Stellung nicht verlassen und hoffe auf ein Nachlassen des Feuers, denn bei etwas ruhigerer Front will ich unbedingt nach meinem Vater suchen. Gegen 3 Uhr morgens am 23. 01. 45 wird es tatsächlich ruhiger, es fallen nur noch vereinzelt Schüsse. Ich laufe in beiden Richtungen die Stellung ab, treffe auf viele Verwundete, aber mein Vater ist nicht darunter. Auch Befragungen helfen mir nicht weiter. Mein Vater hat ein markantes Äußeres, nämlich einen sogenannten „Kaiser-Wilhelm-Bart". Doch kein Soldat kann sich an ihn erinnern. Ich gebe das Suchen an der Front auf und begebe mich in Richtung Stadt bzw. zum Fluß Warthe. Am Bahnübergang treffe ich auf einen Doppelposten und dann noch auf einen Doppelposten an der Warthebrücke. Ich beschreibe meinen Vater und sage ihnen, daß ich zum Bataillonsgefechtsstand gehen will. Ein Verbandsplatz, auf dem ich suchen könnte, ist nicht vorhanden. So habe ich noch eine vage Hoffnung, meinen Vater evtl. auf dem Gefechtsstand anzutreffen.

Auf dem Bataillonsgefechtsstand angekommen, melde ich mich beim Posten und schildere ihm meine verzweifelte Situation . Ich frage nach meinem Vater, doch keiner weiß etwas von ihm. Schließlich werde ich zum Kommandeur, einem Major, vorgelassen. Ich trage ihm in kurzer Form das Geschehene vor. Dann frage ich ihn, ob für den frühen Morgen ein Gegenstoß geplant sei. Für den Fall würde ich dringend darum bitten, vorne mit eingesetzt zu werden. Der Major schaut mich müde lächelnd an und sagt wörtlich: „Mein lieber junger Freund, dafür haben wir weder die Kräfte noch die Waffen, um russische Panzer angreifen zu können." Ich bin maßlos enttäuscht und wütend auf unsere Führung. Da zogen sie im Dezember die besten Divisionen von der Weichselfront ab und verheizten sie in der Ardennenoffensive. Und nun sind wir nicht in der Lage, ein paar vorgepreschte Russenpanzer auszuschalten. Diese Gedanken behalte ich aber für mich.

Ich frage den Major, ob ich auf dem Gefechtsstand bleiben könne. Sehr gerne würde ich für ihn als Melder tätig werden. Er sagt zu mir: „Laß Dir erstmal was zu essen und zu trinken geben, und danach ruhe Dich aus, Du bist ja total übermüdet." Damit hat er natürlich recht, denn ich habe schon 3 Nächte so gut wie gar nicht geschlafen. Nachdem ich dann kurz geschlafen habe, melde ich mich wieder bei dem Major. Er gibt mir tatsächlich einen Meldeauftrag zum Kompaniegefechtsstand an der Front. Mit den entsprechenden Papieren ausgestattet, kann ich nun dabei gleichzeitig nach meinem Vater suchen. So führe ich am Vormittag 2 Meldegänge aus, aber den Vater kann ich nicht finden. Inzwischen liegt die Stadt unter Beschuß von russischen Granatwerfern.

Am Nachmittag begebe ich mich auf den 3. Gang zur Front. Jetzt liegt die Hauptstraße, die zur Brücke führt, unter sehr schwerem Beschuß. So wähle ich nun einen der vielen Nebenwege. Dabei komme ich an mehreren Fahrzeugen, meistens kleine LKW, vorüber. Vor mir steht wieder ein geschlossener Wehrmachtslastwagen. Einen Fahrer sehe ich nicht. So gehe ich ein paar Meter weiter. Plötzlich höre ich hinter mir in dem Wagen ein leises Stöhnen. Ich achte nicht weiter darauf, denn es gibt überall verwundete Soldaten und Zivilisten. Ich bin schon ca. 10 m weitergegangen, da kommt mir der Gedanke, mal in den LKW hineinzusehen. Ich gehe zurück, die Hintertür läßt sich tatsächlich öffnen, und wen sehe ich da: Meinen Vater! Er sitzt mit heruntergezogener Hose bei etwa 8 Grad Frost auf einer Munitionskiste. Überall sehe ich verkrustetes Blut an ihm, er sieht aus wie ein Toter. Wahrscheinlich war er aus einer Art Koma wach geworden und hatte dabei gestöhnt. Er erkennt mich noch und sagt: „Ach, mein Junge!" Dann fällt er wieder in Ohnmacht. Wie soll ich ihm hier helfen? Eine Hilfe ist dringend nötig und müßte schnellstens erfolgen. Da sehe ich plötzlich einen mit Pferden bespannten Leiterwagen angefahren kommen. Darauf sitzen mehrere verwundete Soldaten völlig apathisch im Heu. Mit Hilfe des Kutschers schaffe ich es, den Vater auf den Wagen zu heben. Ich steige dazu. Die Fahrt geht viel zu langsam weiter. Der Verbandsplatz soll in einer etwa 20 km entfernten Kleinstadt (Samter) sein. Bis wir bei diesem Zuckeltrab dort hinkommen, ist mein Vater längst tot, geht es mir durch den Kopf.

Nach einigen Minuten nähert sich ein Militärpritschenwagen. Ich winke ganz wild. Tatsächlich, der Fahrer hält. Ich bitte ihn dringend, meinen Vater und mich mitzunehmen und zum Verbandsplatz zu fahren. Welchen Auftrag der Fahrer wirklich hatte, ist mir im Moment egal. Die Hauptsache ist, daß er uns zum Verbandsplatz fährt. Und er tut es! Mein Vater wird auf den LKW umgeladen und auf etwas Heu gebettet, damit er mir nicht erfriert. Alles, was ich erübrigen kann, decke ich auf den Vater. Ich friere schrecklich; denn ich bin dem Fahrtwind voll ausgesetzt. Das bekommt meinem Gesicht überhaupt nicht, es schmerzt sehr. Endlich kommen wir in Samter an. Doch welch eine Enttäuschung! Der Hauptverbandsplatz ist bereits aufgelöst. Er soll sich in der etwa 30 bis 40 km entfernten Stadt Birnbaum befinden. Der Fahrer läßt sich abermals erweichen, er fährt uns nach Birnbaum. Ich denke, hoffentlich hat er auf der Rückfahrt keine Schwierigkeiten mit der Feldgendarmerie. Das könnte für ihn übel werden . Doch ich behalte meine Gedanken für mich . Als wir das zum Militärlazarett umgewandelte Krankenhaus in Birnbaum erreichen, ist es schon dunkel. Wir werden aufgenommen und ärztlich versorgt. Auch Betten in warmen Zimmern stehen uns zur Verfügung.

Wie hat mein Vater das nur überlebt?! Er muß ja schon seit knapp 20 Stunden so schwer verwundet sein, und das bei kaltem Frostwetter.

Epilog

Hätten wir beide nicht im letzten Augenblick einen Schutzengel gehabt, wäre meine Vater innerhalb kurzer Zeit gestorben. Meine Gegenwart gab ihm neuen Lebensmut, so daß er die Fahrt zum Lazarett überstanden hat. Ich selbst wäre trotz meiner Verletzung ohne den Vater nicht aus der verteidigten Stadt hinausgegangen, denn allein wollte ich nicht überleben. Die sprichwörtliche Suche nach einer Nadel im Heuhaufen wäre leichter zu erfüllen gewesen, als meinen Vater unter diesen Umständen zu finden.

Am nächsten Tag erfolgte die Verlegung mit einem Hilfslazarettzug (Güterwagen) in ein großes Krankenhaus in Frankfurt/Oder. Dort wurde mein Vater etwas gründlicher operiert. Ich hatte mir durch die Kälte während der Fahrt auf dem LKW eine leichte Lungenentzündung zugezogen. Zwei Tage später wurden wir in einen richtigen Lazarettzug gebracht und nach Naunhof bei Leipzig gefahren. Ich kam auf die Augenstation und mein Vater in die Chirurgie. Er bekam starkes Wundfieber und kämpfte noch mehrere Tage mit dem Tode. Doch er überstand auch diese Krise.

Es kamen in den folgenden Woche noch viele Gefahren auf mich zu, so daß ich noch öfter einen Schutzengel benötigte. Aber das ist dann eine andere Geschichte. Kurz möchte ich noch erwähnen, daß meine Mutter und die ältere Schwester mit sehr viel Glück die Beschießung des Trecks durch russische Panzer überstanden haben. Nur meine jüngere Schwester wurde dabei schwer verwundet. Sie ist von sehr großen Qualen, die 24 Stunden dauerten, durch den Tod erlöst worden.

Hätten die Russen uns Männer an dem Wagen angetroffen, wären wir sofort erschossen worden. So hat es meine Mutter bei anderen Flüchtlingswagen mit ansehen müssen. Der Kutscher fuhr den Wagen in den Heimatort zurück. Meine andere Schwester wurde eine Woche später in ein Arbeitslager nach Rußland verschleppt. Sie hat dort Schreckliches durchgemacht und nur mit sehr viel Glück die Gefangenschaft überlebt. Die meisten ihrer Bekannten sind dort elendig umgekommen. Ende Februar 1947 ist sie nach Deutschland zurückgekehrt. Auch das war sehr dramatisch und wäre einer Beschreibung wert.

Meine Mutter kam im Dezember 1945 aus dem nun wieder polnischen Posen als (freiwillig) Vertriebene nach Deutschland. So fand letztendlich doch noch eine Art von Familienzusammenführung statt. Auch über diese z. T. dramatischen Jahre möchte ich demnächst in einem weiteren Bericht schreiben; denn noch war die Zeit des Umherirrens nicht abgeschlossen.