Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

  Friedrich  

                              

          Nach meinem Bericht über die „Flucht im Januar 1945" nun die Fortsetzung :

1. Mein Lazarettaufenthalt in Naunhof bei Leipzig.

Um den 25. Januar 1945 traf unser Lazarettzug aus Frankfurt/Oder kommend in Naunhof ein. Schon am Bahnhof wurden wir in Empfang genommen und in eine Schule, die zu einem Kriegslazarett umfunktioniert worden war, gebracht. Mein Vater, der noch sehr schwach war und an einer Wundinfektion litt, wurde sofort in die chirurgische Abteilung verlegt. Ich und andere Soldaten, denen es nicht so schlecht ging, wurden zunächst auf die Flure verteilt, denn richtige Bettenplätze in den Zimmern sind anfangs nicht vorhanden gewesen.

Infolge der schweren Kämpfe an der Ostfront und auch an der Westfront waren im Januar alle Lazarette überfüllt. Aber trotzdem war auch unter diesen schwierigen Bedingungen eine gute ärztliche und pflegerische Versorgung der Verwundeten und Kranken gewährleistet.

Die Betreuung der Patienten klappte sehr gut, obwohl unter den Schwestern nur wenige Fachkräfte vorhanden waren. In unserem Lazarett arbeiteten viele Hilfsschwestern, die vorher Tänzerinnen im Leipziger Ballett waren. Sie sind in Schnellkursen ausgebildet worden und gaben sich danach alle Mühe, ihre neuen Pflichten voll zu erfüllen.

Diesen jungen Schwestern stand eine sehr couragierte und engagierte aber auch liebevolle ältere Oberschwester vor. Sie war der gute Geist dieses Nebenlazaretts. Da ich der jüngste Patient im Lazarett war, hat sie mir im Laufe der Zeit regelrecht Muttergefühle entgegengebracht. Sie hatte einiges von unserem Fluchtschicksal erfahren und hat sich daher auch intensiv um meinen noch sehr kranken Vater gekümmert. Als dann endlich ein Bett frei geworden war, kam ich auf die Augenstation. Hier war ein erfahrener Augenarzt aus Dresden tätig. Nach etwa zwei bis drei Wochen machte er mich zu seiner Ordonnanz. Ich kümmerte mich um seine Belange, servierte ihm das Essen und begleitete ihn oft zum Bahnhof, wenn dort wieder neue Verwundete eintrafen. So hatte ich nun im Lazarett einen zweiten Beschützer gefunden.

Dieses sah der Spieß (Schreibstubenchef) gar nicht gern. Er versuchte immer wieder, mich zu schikanieren. Das brachte mir schließlich sogar drei Tage Arrest ein, die ich aber nicht abzusitzen brauchte (ich hatte ja meine Beschützer).

Nach den sehr schweren Bombenangriffen auf Dresden Mitte Februar 1945 fand ich eines Tages im Sprech- und Behandlungszimmer meines Arztes eine Frau und ein junges Mädchen - etwa 16 Jahre alt - vor. Wie ich dann erfuhr, handelte es sich um die Ehefrau und die Tochter des Arztes. Sie konnten sich nur mit äußerster Mühe und Not aus dem zerbombten und brennenden Haus retten. Nun wurde das Behandlungszimmer vorübergehend zum Notaufnahmelager der Arztfamilie. So hatte ich für einige Tage eine ganze Familie mit Lebensmitteln zu versorgen. Für diese Tätigkeit erntete ich oft ein dankbares Lächeln.

Was man im Leben nicht alles lernen muß! Zu Hause vor der Flucht wurde mir bezw. wurde uns der Tisch von einer „Hausperle" gedeckt.

Aber bei dieser Tätigkeit hatte ich auch selber materiellen Nutzen, denn in der Lazarettküche fiel oft einiges an Lebensmitteln für mich ab. Ich teilte es dann mit meinen Kameraden im Zimmer. Auch meinem noch immer sehr schwachen Vater konnte ich hin und wieder einige Leckereien zustecken.

Bei meinen gelegentlichen Gängen als Begleiter des Arztes zum Bahnhof - wenn wiedermal ein Lazarettzug eingetroffen war - habe ich oft Schreckliches sehen müssen:

Verstümmelte Soldaten mit starken Gesichtsverletzungen oder Verbrennungen. Einen besonders drastischen Fall werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ein Soldat wurde auf dem Bahnhof vor Naunhof auf einer Bahre aus dem Lazarettzug getragen. Dieser Mann hatte kein Gesicht mehr. Sein Kopf sah aus wie ein großer Kürbis mit winzigen Einkerbungen. Das waren früher mal seine Lippen, Augen und die Nase. Alles sah aus wie gekocht. Vom Begleitpersonal haben wir erfahren, daß dieser Soldat den Rückstoßstrahl, der beim Abschießen einer Panzerfaust nach hinten hinausschießt, ins Gesicht bekommen hat. Das war also eine schreckliche Verletzung, die ihm unbeabsichtigt sein eigener Kamerad zugefügt hat. Von meiner eigenen Ausbildungszeit her wußte ich, daß man mit einer Panzerfaust äußerst vorsichtig umgehen mußte. In der Theorie war das alles richtig, nur in einem harten Gefecht können solche Mißgeschicke schon mal vorkommen. Über sein weiteres Schicksal habe ich nichts mehr gehört. Vermutlich hat dieser Soldat seine schwere Verletzung nicht mehr lange überlebt.

Eines Tages traf ich auf dem Korridor einen Soldaten, der mir bekannt vorkam. Ich sprach ihn an; dabei stellte es sich heraus, daß er in der Nacht vom 22. zum 23. Januar an der Front in Obornik einer des Doppelpostens am Bahnübergang war, mit dem ich über meinen vermißten Vater gesprochen hatte. Er konnte sich noch sehr genau an dieses Gespräch erinnerung und war sehr froh, als er von mir hörte, unter welch dramatischen und glücklichen Umständen ich meinen Vater gefunden hatte. Wir waren von Stund’ an „dicke Freunde", sehr zum Verdruß unseres Spießes, den wir oft ärgerten. Mein neuer Freund hieß Bruno.

Als wir dann später in der Lage waren, einige Streifzüge durch die Stadt Naunhof und näherer Umgebung zu unternehmen, gesellte sich uns beiden ein hochdekorierter (viele Kriegsauszeichnungen) Unteroffizier zu. Er stammte aus Österreich - damals „Ostmark" genannt - und war sicher ein sehr tapferer Unterführer. Wir führten gemeinsam viele Gespräche über die Kriegslage, Politik und andere Themen. Eines Tages, es war wiedermal ein größerer Fliegeralarm angekündigt, mußten alls Verwundeten und Kranken in den Luftschutzkeller. Wir beide blieben aber entgegen der Vorschrift in unserm Zimmer. Unser Freund, der Unteroffizier, war an diesem Tage UvD. (Unteroffizier vom Dienst). Was wir nicht wußten bezw. bedachten: Er klapperte alle Krankenzimmer ab, um sich zu überzeugen, daß auch alle Verwundeten im Luftschutzkeller waren.

Wir beide saßen am Radio und wollten die Luftlage hören, wir wollten also hören, wo sich der Bomberverband befand. Beim Herumstellen am Radio trafen wir auf einen Feindsender, den wir nun auch hören wollten. In diesem Moment ging die Tür auf, und unser Freund, der UvD., stand im Raum. Er hat auch sofort mitgekriegt, daß wir den Feindsender hörten. Daraufhin schrie er uns laut an, er würde das melden, dann kämen wir vor ein Kriegsgericht. Mein Freund Bruno wurde ganz blaß und brachte kein Wort mehr heraus. Er war älter als ich - 19 Jahre - und daher möglicherweise noch mehr gefährdet als ich mit inzw. gerade 17 Jahren.

Da der Unteroffiziert im Dienst war, hätten wir ihn siezen müssen. Ich sah aber nur eine Chance für uns, wenn ich ihn jetzt entgegen der Vorschrift mit „Du" ansprach. Nur ich sprach ihn nicht nur an, sondern ich schrie ihn geradezu an. Sinngemäß so: Halt endlich Deine Schnauze! Wenn Du hier so laut herumschreist und es andere hören, dann mußt Du uns sogar melden. Und was das für uns bedeutet, weißt Du wohl besser als wir, nämlich Erschießung oder zumindest ab ins Stafbatailllon, auch so gut wie ein Todesurteil. (Nur hätte man solch einen Tod dann als „Heldentod" bezeichnet). Im übrigen kennst Du ja unsere loyale Gesinnung.

Endlich wurde der „Kerl" ruhiger, und wir konnten aufatmen. Das hätte uns gerade noch gefehlt, von den eigenen Leuten umgebracht zu werden. Fortan wurden wir allerdings sehr viel vorsichtiger.

Was uns sehr störte, war der wöchentliche Appell im Versammlungsraum. Hier hielt ein Hauptmann - NSFO - nationalsozialistischer Führungsoffizier - markige Brandreden gegen alle Volksfeinde, Drückeberger und Verräter. Sie müßten mit dem Tode bestraft werden. Zu den Drückebergern zählte er auch verwundete Soldaten, die nicht gerade „ihren Kopf schon unterm Arm" trugen. Nur dieser Kerl war sehr beleibt, und die Front hat er nie gesehen. Ausgerechnet von solch einem Mistkerl mußte man sich so beschimpfen lassen. Seine Haßreden bewirkten allerdings das Gegenteil, die Kampfbereitschaft wurde dadurch nicht gefördert. Wahrscheinlich hat dieser NSFO. es doch zu sehr übertrieben, denn eines Tages tauchte ein neuer NSFO. auf. Das war ein junger Offiziert, hoch dekoriert, u.a. mit dem Ritterkreuz. Er war von sehr schweren Verwundungen genesen und versah nun seinen Dienst, in dem er die Truppe moralisch aufrüsten sollte. Dieser Offizier sprach sehr vernünftig, was uns natürlich sehr viel besser gefiel und uns letztendlich auch wieder mehr Zuversicht gab.

Wie schon erwähnt, gab es häufig Fliegeralarm. Doch nur, wenn Großverbände im Anflug waren, mußte der Luftschutzkeller aufgesucht werden. Die ständigen Besuche durch feindliche Jagdbomber (Jabos) gehörten schon zum Alltag und wurden nur am Rade registriert. Dabei habe ich zweimal aus dem Krankenzimmer beobachtet, wie sich Jabos sogar auf radelnde Frauen stürzten und sie mit Bordwaffen beschossen. In einem Fall fuhr eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Fahrrad. Wir sahen, wie ein Jabo ganz tief herabstieß und die Frau mit dem Kind beschoß. Beide wurden schwer verletzt; sie wurden von uns geborgen. Der Pilot hat ganz sicher sein „feindliches Ziel" erkannt und ohne Rücksicht auf Mutter und Kind seine Schießübungen vorgenommen. Wie leicht doch solch ein schrecklicher Krieg normale Menschen zu Bestien machen kann!

Ganz schlimm wurde Mitte Februar Dresden zugerichet. Die riesigen Bomberverbände sahen wir über uns hinwegfliegen. Sie warfen in ungeheuren Mengen Spreng- und Brandbomben auf eine unbewaffnete Stadt, die zudem noch mit Flüchtlingswagen aus dem Osten vollgestopft war Einige meiner Kameraden mußten zu Aufräumdungsarbeiten dorthin. Sie kamen völlig geschockt wieder und waren ganz entsetzt über das dort vorgefundene Vernichtungswerk.

Im Lazarett gab es auch viele angenehme Stunden; man konnte lesen - die Bücherei war gut ausgestattet -, Schach spielen, und auch einen gemischten Chor gab es, den ein Oberfeldwebel leitete, der im Zivilberuf Musiklehrer war. Zur Freude der bettlägrigen Soldaten haben wir fast täglich auf den verschiedenen Stationen gesungen.

Auch noch andere Annehmlichkeiten wurden uns in diesem Lazarett geboten: Oft kamen Zivilisten aus der Stadt Naunhof, meistens waren es Frauen, in unser Lazarett. Sie betreuten Verwundete, sprachen mit ihnen, versorgten sie mit Büchern und brachten mitunter sogar Lebensmittel mit. Für viele von uns war das eine schöne Abwechslung. Man schloß dabei sogar Freundschaften. So erging es auch meinem Vater und mir. Wir bekamen sehr engen Kontakt zu einer Lehrerfamilie und zur Familie des Bürgermeisters von Naunhof. Diese Freundschaft sollte wenige Wochen später für uns von unschätzbarem Nutzen sein.

Für meinen Vater waren diese Besuche von ganz besonderer Bedeutung, denn sie halfen ihm ein wenig über die sorgenvollen Gedanken über den Verlust unserer Mutter und den

beiden Schwestern hinweg. Er war immer noch ans Zimmer und an sein Bett gebunden und hatte somit kaum Abwechslung.

Mitte März hatte ich mich zum Entsetzen meines Vaters an die Front gemeldet. Als der Abend vor meiner Entlassung aus dem Lazarett nahte, ging ich zur Oberschwester, um mich von ihr zu verabschieden. Am Vortag hatte ich schon ein Kratzen und Brennen im Hals verspürt. An diesem Abend merkte ich, daß ich wohl Fieber haben könnte, doch ich sagte nichts davon. Aber die erfahrene Oberschwester sah sofort, was mit mir los war. Ich mußte Fieber messen. Die Messung ergab etwa 39 Grad Fieber. Die Oberschwester forderte sofort meinen Entlassungsschein zurück und schickte mich ins Bett.

Ich hatte eine schwere Angina, die mich ca. 2 Wochen ans Krankenbett fesselte. Die Oberschwester war froh, und mein Vater sogar glücklich über die damals durchaus nicht ungefährliche Krankheit.

Vermutlich hat diese Krankheit aber mein Leben gerettet, denn ich wäre in eine sehr gefährliche Gegend im westlichen Teil von Schlesien gekommen, und zwar in eine sogenannte Alarmeinheit - eine Art Himmelfahrtskommando.

So hat mir wieder einmal ein gütiges Geschick zur Seite gestanden. Jedoch um den 10. April 1945 wurde ich und viele andere aus dem Lazarett nach Leipzig kommandiert, um dort die nahenden amerikanischen Truppen aufzuhalten.

Nun stand uns wieder ein neues, sehr gefährliches Abenteuer bevor. So mußten wir aus

unserer vertrauten Umgebung, die uns schon fast zur neuen Heimat geworden war, hinaus „ins feindliche Leben" ziehen.

Über unseren „Endkampf" und das Kriegsende im nächsten Bericht.