Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

   Inge

Ende des Krieges

Leicht, fast beschwingt, atmete ich auf, wenn ich erwachte und so jeden Morgen erneut. Endlich war diese fortwährende Angst von mir genommen, von einem Tag zum anderen, denn die kleine Stadt hatte den amerikanischen Panzern eine weiße Flagge entgegengehalten, hoch nach rechts und links schwenkend. So rollten sie, ohne einen Schuß abzugeben, auch durch unsere Straße, zwar langsam, mit aufgerichteten Maschinengewehren und wachsam nach rechts und links spähenden Augen, so daß ich von meinem Fensterplatz in den Keller stürzte.

Noch am Tage zuvor war auf äußersten Widerstand vorbereitet worden. Alle halbwegs tauglichen Männer der Stadt wurden in einem Lager in der Nähe der Bahnlinie untergebracht, mußten schnellstens lernen, wie eine Panzerfaust im Krieg eingesetzt wird und erhielten den Befehl, mit dieser und ihren eigenen Kräften die amerikanischen Ungeheuer zu zerstören. Der extrem ,,braune" Stadtdirektor hatte sich zu dieser Verfügung verpflichtet gefühlt. Doch im entscheidenden, gefahrvollen Augenblick hatte ihn wohl, wie alle anderen, die Furcht erfaßt. Oder war er von einflußreichen Bürgern der Stadt gedrängt worden, sich für die weiße Fahne zu entscheiden?

Mein Vater mußte auch ins Lager der Panzerfäustler, es war Befehl, widersetzen konnte er sich nicht. Die Mutter schlief während der ganzen Nacht nicht, hörte ihn in ihrer Phantasie schreien. Doch am nächsten Abend lag er wieder ruhig in seinem eigenen, Bett, und sie schlief tief und lange wie nie zuvor.

Nachwehen des Krieges

Das Grausame des Krieges gab es jetzt nicht mehr bei uns, doch bald schlich neue Angst durch die Stadt, da sie britisches Hauptquartier wurde, während sich die Amerikaner in andere besetzte Teile Deutschlands zurückzogen. Hauptsächlich britische Offiziere und Verwaltungsbeamte würden künftig in der Stadt sein, und diese benötigten ihrem Rang angemessene Wohnungen. So zogen die britischen Quartiermacher durch die Straßen und suchten nach stattlichen Häusern, besichtigten sie. Erschrocken nahmen wir sie auch eines Morgens in unserer Straße wahr und beobachteten ängstlich, welchem Haus sie sich näherten. Doch nach qualvollen Minuten atmeten wir erleichtert auf: Wir gehörten nicht zu den von ihnen ,,Erwählten". Jedoch zwei Häuser mußten schnellstens geräumt werden, und die vier Familien durften nur das Nötigste mitnehmen, wurden in Notwohnungen für Jahre untergebracht. Daß unser Haus nicht beschlagnahmt wurde, hatte einen schwerwiegenden Grund: In unserer oberen Etage lebte eine krebskranke Frau, der man Wohnungsräumung und Notunterkunft nicht zumuten konnte. So durften auch wir im Hause bleiben.

Ab und zu bat mich die Kranke, eine bedeckte Stelle an ihrem Oberbauch zu berühren, und ich ertastete erschrocken eine übergroße Geschwulst. Vielleicht wollte sie meine kindliche Reaktion und mein unmittelbares Mitgefühl erfahren, das Erwachsene oft nicht mehr zum Ausdruck bringen können. Nachts weckte sie mich manchmal wegen heftiger Schmerzen, die sie in wehenartigen Schüben überfielen und bat mich, meine Mutter zu holen. Ihr Mann konnte ihr nicht mehr helfen, denn er war einige Monate zuvor, kurz nachdem er als Soldat heimgekommen war, gestorben. Vor seinem Tode hatte ich ihn noch im Krankenhaus gesehen, mit sehr schmalem Gesicht und einem nicht mehr irdischen, doch ruhigem Blick. Zutiefst berührte mich seine Verwandlung.

Meine Mutter half ihr immer, es war selbstverständlich, so wie sie auch sonst für ihre Sorgen offen gewesen war. Es herrschte eine große Vertrautheit, so daß sie uns sogar Feldpostbriefe ihres Mannes vorlas, ganz sachlich, denn er berichtete über manche Ereignisse ausführlich. Nur die ersten Worte las sie leise, fast ein wenig beiläufig, denn hierin lag etwas, was wir eigentlich nicht wissen sollten, aber wir hörten es doch, und auch an ähnlichen Stellen wurde ihre Stimme leiser, noch leiser, aber sie las jedes Wort, und wir hörten es, andächtig, ganz still saßen wir und lauschten, empfanden jeden Hauch ihrer Stimme intensiv.

Während ich diese Erinnerungen nachempfinde, tauchen neue Bilder in mir auf. Ich sehe ein junges Brautpaar in unsere oberen Räume einziehen, und mit ihnen schweben unbekannte Blütendüfte tagelang durch das Haus. Die Apfelbäume im Garten öffnen früher als sonst ihre Knospen, die Tannenspitzen vibrieren, verbreiten wohligen Balsam, und der Efeu an der Hauswand grünt mehr als je zuvor. Er hatte sie gegen den Willen seiner Eltern geheiratet, auch deren Geschäft verlassen und mit ihr ein neues gegründet. Morgens, bevor sie aus der Wohnung gehen, schweben immer die zarten Klänge zweier Namen auf dem Flur, denn mein Schlafzimmer liegt in der oberen Etage, die nicht von der unteren abgeschlossen werden kann, denn es ist eigentlich ein Einfamilienhaus. Nie dringen streitbare Töne an mein Ohr. Wenn er an seltenen Tagen geschäftlich verreisen muß, fürchtet sie sich so allein und bittet meine Mutter, mich neben ihr schlafen zu lassen. Ich erfülle ihre Bitte gern, genieße die trauliche Atmosphäre des Raumes und schlummre selig ein. Sie ist von allen Ängsten befreit. Seltsam, daß ein kleines Mädchen so beruhigend auf eine erwachsene Frau wirken kann. Später, als er nach einer erschütternden Abschiedsszene das Haus zum Einsatz in den Rußlandfeldzug verlassen muß, lernt sie, als sogenannte ,,tapfere Soldatenfrau" allein zu schlafen, und nur ab und zu, wenn die Einsamkeit zu unerträglich wird, muß ich sie allein durch meine Anwesenheit trösten. Als er am Ende des Krieges zurückkommt, beglückende Wiedersehensfreude bei beiden. Doch schon bald danach sitzt sie in unserer Küche und klagt, er sei völlig verändert, sie scheint zu fürchten, ihr einstiges Glück zu verlieren. Aber dann stellt sich seine Herzkrankheit heraus, die auch seine Stimmung niederdrückt. Als er gestorben war, liegt er im geschlossenen Sarg drei Tage in unserem größten Raum, nachts schleiche ich ängstlich an der Tür vorbei, denn Jahre zuvor hatte mich das Bild meines toten Großvaters sehr erschreckt, ich vergesse es nie.

Sie sieht in diesen Tagen sehr blaß aus, und zur Trauerfeier, die in unserem Hause stattfindet, legt sie einen Hauch Rouge auf ihre Wangen, um dem Toten noch einmal zu gefallen, vielleicht aber auch, um bei den Trauergästen nicht zu viel Mitleid zu erwecken. Zur Beerdigung auf dem Friedhof ist sie nicht mitgegangen. Auch ihre eigene schwere Krankheit ist schon in ihr. Aber daß sie ihm so schnell folgen würde, ahnt sie noch nicht. Zu ihrer Todesstunde ein Klopfen an unserer Haustür, ihre Schwägerin schaut nach, aber sie sieht niemanden. Immer wieder frage ich mich: ,,Wer hat dort geklopft?" Ich grüble in den Nächten und finde keine Antwort, nur ein ahnendes Schaudern in mir.

Der Tauschgeist

Wenige Tage nach dem Ende des Krieges. Zur Dämmerstunde erscheint er mit einem riesigen Paket in der Küche. Das ist ungewöhnlich, denn er kauft selten ein, nur vor dem Geburtstag der Mutter, oder er bringt gelegentlich Lebertran aus der Drogerie mit, den ich trinken muß und der mir äußerst zuwider ist. Was ist nur in diesem großen Paket? Er öffnet: Zigarren, Zigarren und nochmals Zigarren, verkauft von der Firma A., damit sie nicht von den Amerikanern beschlagnahmt werden. Eigentlich braucht er sie nicht, denn er raucht nur ab und zu schmale Zigarillos. Doch seine Frau freut sich: „Vielleicht etwas zum Tauschen?" fragt sie vorsichtig. Er antwortet weder mit Ja noch mit Nein und überläßt die Organisation ihr, ihr ganz allein. Kaum sind die einzelnen Zigarrenkästen an verschiedenen Stellen des Hauses versteckt worden, klingelt es zaghaft an unserer Gartentür. Ein völlig ungewöhnlicher Besuch! Es ist die Eigentümerin des kleinen Lebensmittelgeschäftes. Hatte ich vergessen, meine Zuteilungsmarken für das Brot bei ihr abzugeben? Aber nein, das ist es nicht. Sie fragt vielmehr vorsichtig an, ob wir vielleicht größere Mengen Zucker kaufen würden? Warum kommt sie gerade zu uns? Sie wußte wohl, daß wir sofort bezahlen würden und hatte sich nicht geirrt. Kurze Zeit später ist sehr viel Zucker im Haus, und es können die vielen Früchte im Garten, die ich wieder pflücken muß, ohne Probleme eingeweckt werden. So freudige wirtschaftliche Ereignisse hatten wir seit langem nicht erlebt.

In der ganzen Stadt eine friedselige Stimmung, dazu dieser gesteigerte Tauschgeist. Auch während der Kriegszeit war viel getauscht worden, aber plötzlich hat man größere Mengen anzubieten, denn auch andere Fabriken und Einzelhändler haben ihr Lager sehr

verkleinert. Es verbreiten sich auch Meldungen, wo man günstig eintauschen könnte. Bei uns wird offensichtlich, daß Wunstorf Abgeber für Zucker sei, denn dort waren große Mengen davon an die Einwohner verkauft worden. Und die Mutter kann noch weiteren Zucker gebrauchen, für die Verwandten, denn von ihnen bekommt sie dafür Milch, Eier und Speck. Wieder einmal werde ich für ein heikles Unternehmen erwählt! Warum immer gerade ich? Das halbe „schwarze" Schwein hatte ich damals mit dem Bollerwagen abholen müssen, in der Phantasie von Polizisten verfolgt, und zum Rühren wurde ich für eine Nacht in eine kleine Zuckerrübenfabrik geschickt, damit wir Rübenkraut als Brotaufstrich bekamen. Und jetzt auch noch nach Wunstorf! Es ist nicht leicht, das älteste Kind der Familie zu sein, der kleine Bruder ist immer begünstigt, auch bin ich wohl die Naivste, niemand würde mich einer bewußten Schuld anklagen. Und gehorchen muß ich. Zigarren werden mir in den Rucksack und in eine Einkaufstasche gepackt, und mir wird eingeprägt, wieviel Zucker, nicht Geld, ich für eine Kiste Zigarren eintauschen könnte. Warten auf dem Bahnhof, bis endlich ein Zug kommt, gerammelt voll. Die Leute stehen auf der Plattform, auf den Stufen, sich an der Tür festhaltend.

Vor der ersten Haustür in Wunstorf stehe ich und wage nicht zu schellen. Wie werden mich die Leute ansehen, wie würden sie auf meine vorsichtigen, sorgsam überlegten Worte, ob sie vielleicht Zucker gegen Zigarren eintauschen würden, reagieren? In meiner Phantasie sehe ich nur abweisende Gesichter. Und nach meinen ersten stotternden Worten ergeht es mir auch so. ,,Hier waren in den letzten Tagen schon mehrere Leute aus Bünde." Der Mann schlägt verärgert die Tür zu. Ich gehe zum Nachbarn, dieser hat keine Zeit, entrüstet sich aber heftig: ,,Warum schickt man überhaupt dich zum Tauschen? Du bist doch noch nicht geschäftsfähig." An der nächsten Haustür: ,,Wir haben schon so viele Zigarren im Haus, die alle mein Mann mit Vergnügen raucht, und mir fehlt der Zucker zum Einmachen. Eigentlich müßte ich auch wie du Zigarren gegen Zucker eintauschen. Tschüs!" Ich überlege. Vielleicht hätte ich am Ende der Straße, die auch noch bergan führt, mehr Glück. Hier würden wohl noch keine Zigarren erschienen sein. Meine Ahnung erfüllt sich. Eine alte Frau öffnet vorsichtig nur einen Spalt die Tür. Aber als sie mich sieht und meine verzagten Worte hört, zieht sie mich in ihre Küche, gibt mir warme Milch zu trinken und legt mir eine Wärmekruke unter die Füße. Ich taue sofort auf und bin glücklich, als sie mir erzählt, sie möchte eine Kiste Zigarren für den Geburtstag ihres Mannes, er sei oft überarbeitet und brauche dringend Entspannung. Ich packe aus, und schnell bringt sie mir die entsprechende Menge Zucker. Dann geht sie mit mir zu ihrer Schwester, die zwei Häuser weiter wohnt. Da dort die Tochter bald heiraten will und für die Feier Zigarrendüfte erwünscht sind, kann ich gleich zwei Kisten gegen Zucker eintauschen. Doch nun bin ich geschäftsmüde geworden, ich habe mich wirklich genug um ein gün-stiges Ergebnis der Tauschaktion bemüht, zumal ich auf diesem Gebiet keine Erfahrung gesammelt, auch nie ein Verlangen nach Geschäften verspürt hatte.

Wann geht ein Zug zurück? Warten, warten und nochmals warten bis zum frühen Morgen. Der Wartesaal überfüllt. Kein Landstreicher, vor dem man Angst haben muß, sondern ganz normale Bürger liegen auf dem Boden, die versuchen, einzunicken. Ich lege meinen Kopf auf den Zuckersack und döse halb wachend so dahin. Kaffee oder sonst etwas Warmes nicht zu kaufen, es gibt nur Wärme aus dem eigenen Innern, wenn dort überhaupt noch etwas ist. Aber hier lag meine eigene emotionelle Stärke, sie wuchs mit dem Verlust.

Endlich gegen Morgen wird ein Zug angekündigt. Wieder ein Gedränge, um einen halbwegs erträglichen Platz zu erwischen, ich lande in einem Güterwagen. Im Bummelzug-Tempo zurück, dabei an jeder kleinsten Station draußen und drinnen rücksichtsloses Geschubse. Ich, halb wachend, übermüdet, erschöpft, geduldig wartend auf das Ende der Fahrt, und dann noch den Zucker, der immer schwerer wird und die restlichen Zigarren den weiten Weg vom Bahnhof nach Hause geschleppt.

In der Nacht sehe ich die letzten Erlebnisse noch intensiv vor mir, kann die Bilder verschiedener Menschen, ihre Mienen nicht loswerden, spüre das Rattern des Eisenbahnzugs, das Drängen der Menge, höre ihr Murmeln, ihr Reden und Geschrei, in meiner Tasche nach Ohrwatte suchend. Doch endlich gegen Morgen schlafe ich ein und träume von Tabak- und Zuckerrohrfeldern, die aneinandergrenzen, deren vermischter, berauschend süßer Duft mich inspiriert und auf einen blauen Fels zu wundersamen Melodien entführt, um den Tauschgeist wieder auszulöschen.