Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Ingeborg

 

Das Schweigen

Ich war 2 Monate alt, als der 2. Weltkrieg begann. Meine Eltern - Jahrgang 11 und 12 - hatten als Kleinkind schon den 1. Weltkrieg miterlebt und - beide in Essen aufgewachsen - auch die „Franzosenzeit" (Besetzung des Ruhrgebietes nach dem Krieg, weil Deutschland die „Schulden" des Krieges nicht beglichen hatte). Als Jugendliche (Gymnasiastin) hatte meine Mutter sich den „Wandervögeln" angeschlossen; von den Wanderungen in Gemeinschaft hat sie öfter begeistert erzählt. Dass diese Bewegung später von den Nazis vereinnahmt wurde, muss sie geschmerzt haben; aber sie hat nie darüber gesprochen.

Meine Eltern heirateten 1936 und zogen 1938 nach Eckernförde, weil mein Vater als Bauingenieur bei den „Torpedoversuchsanstalten" eine Anstellung bekam. Wegen dieser Arbeit wurde er erst „relativ spät" (wie meine Mutter immer sagte) eingezogen. Er war erst in Russland, dann in Griechenland und ist dann im April 1945 auf dem Rückzug in der Steiermark mit seiner Kompanie noch auf die Russen gestoßen und ist dort erschossen worden.

Meine Eltern hatten 3 Kinder ( April 37, Mai 39 (ich), Dez. 41; danach noch eine Totgeburt). Meine Mutter hat nicht mehr geheiratet und ihr Leben lang ehrenamtlich im Roten Kreuz gearbeitet. Finanziell unterstützt wurde sie durch ihren Bruder, der die väterliche Gerberei in Essen übernommen hatte.

An die Kriegszeit habe ich wenig Erinnerungen. Ich höre wohl noch die Sirenen und weiß noch, dass wir dann ganz schnell in den Keller mussten. Manchmal - das muss gegen Ende des Krieges gewesen sein - haben wir uns abends gar nicht richtig ausgezogen, damit wir schnell in den Keller konnten. Im Keller war es ganz eng; wir saßen sonst nie so eng zusammen, und die „Hahns" in der Wohnung oben waren auch da. Meine Mutter hat mich ganz fest in den Arm genommen; das mochte ich sehr und war dann fast enttäuscht, als wir wieder in die Wohnung gingen - und: es war auch unheimlich; man hörte die Flugzeuge ganz laut, und die Erwachsenen sprachen wenig. Wenn die Entwarnungssirene kam, gingen alle wieder rauf. Manchmal durften wir dann auf die „Koppel" gehen und die riesengroßen Gasballons angucken, die nach der Entwarnung auf der Wiese landeten.

Ich kannte nur „Krieg". Und irgendwann hatte ich meine Mutter mal etwas gefragt, und sie hatte gesagt „....wenn der Krieg zuende ist, dann..."Da hatte ich mir irgendwie vorgestellt: wenn Frieden ist, dann lachen alle mehr, dann darf man mehr, dann gibt es mehr Bonbons oder. Und ich war sehr enttäuscht und habe es nicht verstanden, dass meine Mutter kurz danach sagte: jetzt ist der Krieg zuende - und sie hat gar nicht gelacht. Alles war wie vorher.

Es muss kurz nach diesem Tag gewesen sein, als ein Mann bei uns klingelte und nach meiner Mutter fragte. Ich weiß noch, dass wir sie überall gesucht haben; denn irgendwie merkten wir, dass es sehr wichtig war; aber wir fanden sie nicht. Er kam dann am nächsten Tag noch mal. Ich weiß noch, dass meine Mutter danach weinte (ich hatte sie noch nie weinen gesehen), und sie hat uns gesagt, dass unser Vater jetzt tot sei und nie mehr wiederkomme..

Meinte Tante (Schwester meines Vaters) wohnte damals bei uns im Haus und hat dann für uns gesorgt. Aber am übernächsten Tag war meine Mutter wieder da, und ich erinnere mich nicht, dass sie noch was von meinem Vater erzählt hat; und geweint hat sie auch nicht mehr.

Erst etwa 40 Jahre später habe ich von unserer Nachbarin erfahren, dass der Mann, der die Todesnachricht brachte, am nächsten Tag noch mal kommen wollte, um ausführlicher zu erzählen. Doch in der Nacht wurde er von Polen (es gab viele Zwangsarbeiter in Eckernförde) umgebracht..

Die Zeit der Flüchtlinge, die dann kamen, habe ich in guter Erinnerung: auf einmal gab es ganz viele neue Kinder; da machte das Versteckspielen viel mehr Spaß, und die Nachbarn, die vorher immer schimpften, wenn wir auf den Rasen gingen oder wenn wir in der Mittagsstunde Krach machten, sagten nichts mehr. Und direkt in unserer Wohnung war ein Ehepaar aus Schlesien einquartiert, das wir Kinder sehr liebten. Besonders gemütlich war es , wenn abends  „Sperrstunden" waren und wir alle in ihrem Zimmer „Mensch ärgere dich nicht" spielten, weil ihre Petroleumlampe eine Zeitlang abends die einzige Beleuchtung war. - Die Flüchtlinge kamen „wegen der Polen und der Russen" (in Eckernförde waren fast so viele Flüchtlinge wie Einheimische);  sie erzählten immer wieder von ihrer Heimat und den Gräueltaten der Russen und Polen - so dass ich bis weit ins Schulalter hinein dachte, denken musste, dass die Russen die „eigentlich Bösen" seien, denn die Lehrer schwiegen auch.

1946 - 1959 ging ich in Eckernförde zur Schule (Grundschule und Gymnasium). Und kein Lehrer sprach über die Nazizeit, und kein Schüler hat gefragt. Das Fach „Geschichte" hörte nach dem 1. Weltkrieg auf und „Gegenwartskunde" begann 1949. Exemplarisch sehe ich noch immer unseren Geschichts- und Klassenlehrer in der Oberstufe des Gymnasiums, der aus dem Geschichtsbuch vorlas und statt den Inhalt zu diskutieren fragte: „finden Sie das positiv oder negativ?" - und dann las er weiter.

Auch im Studium (Graz, Freiburg, Tübingen) war die Nazizeit kein Thema. Zwei von mir besonders geschätzte Professoren waren in die Nazizeit verwickelt gewesen, wie ich später erfuhr.

Eine Art Nachwehe der „Entwertung" von Menschen in der Nazizeit habe ich eindrücklich noch erlebt, als ich 1967 - 1969 als Psychologin in einem Landeskrankenhaus arbeitete. In den „Langzeit-Abteilungen" waren die PatientInnen in 60-Betten-Sälen untergebracht; jede(r) hatte nur ein Bett und einen Nachttisch; keine eigene Kleidung nur „Anstaltskleidung"). Da Zahnersatz Mangelware war, gab es ihn in erster Linie für Leute, die „arbeiteten". Als ich einmal nachfragte, ob nicht wenigstens die Frauen eigene Kleider bekommen könnten, bekam ich zur Antwort:" Früher hatten die Frauen gar keine Unterhosen; sie können froh sein, dass sie jetzt Unterhosen haben."

Diese Erfahrung (und natürlich die Bewegung der 60er Jahre) hat mich „wach gemacht". Im Rahmen der Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, die Anfang der siebziger Jahre gegründet wurde, habe ich mich mit der „Entwertung" der Menschen in der Nazizeit befasst und mich für ein menschenwürdiges Leben für psychisch Kranke eingesetzt. So konnte ich wenigstens in einem kleinen Bereich mit dazu beitragen, das Schweigen zu brechen.