Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Josef

 

DIE ERBEN

Einen Kotten zu besitzen in der Kriegs- und Nachkriegszeit erleichterte das Überleben erheblich. Die später wieder aufkommende Bezeichnung „Quälkotten" verdeutlicht die veränderte Lebenssituation, in der schwere körperliche Arbeit als Last und aufkommender technischer Fortschritt als Befreiung verstanden wurde. Der Kotten in der Kriegs- und Nachkriegszeit blieb überschaubar im Vergleich zum großen Bauernhof, überschaubar auch für die Köttersfrau, die neben ihren Familienaufgaben im Haus auch im Stall und draußen auf den Feldern zu arbeiten hatte, denn die wenigen Morgen Land brachten auch nur für wenig Vieh das nötige Futter. Und als die Männer noch nicht in den Krieg gezogen waren, arbeiteten sie für den Unterhalt ihrer meist großen Familien tagsüber in den naheliegenden Fabriken. Ihre Frauen waren insofern daran gewöhnt, teilweise zu wirtschaften in Eigenverantwortung und Eigenregie, so dass der Kriegsdienst der Männer zwar eine schwere zusätzliche körperliche und seelische Belastung der Frauen darstellte, in die sie aber schon eher eingeübt waren. Vergleichsweise gut waren die Kötter gestellt, in deren Häusern noch alte Eltern oder Schwiegereltern wohnten. Sie konnten, soweit es ihre gesundheitliche Verfassung noch zuließ, leichtere körperliche Arbeiten verrichten oder auch nur Hinweise geben auf notwendige Arbeiten, Tipps für eine günstigere Handhabung von Maschinen und Geräten und zeitaufwendige Besorgungen machen.

Meine Eltern stammten beide von einem Kotten. Es gab Unterschiede in ihrer Größe, die auch damals schon ausschlaggebend für die soziale Stellung der Inhaber war. Aber es handelte sich in beiden Fällen um Kotten, nicht etwa um Bauernhof und Kotten, was die Ebenbürtigkeit meiner Eltern möglicher Weise in Frage gestellt hätte. Meine Mutter war das jüngste von acht Geschwistern, ihr Vater war schon gestorben, als sie noch Kind war. Den Kotten hatte längst einer ihrer Brüder übernommen, der in seinem Hauptberuf bei der Reichsbahn beschäftigt war. In der Kriegszeit musste seine Frau, meine Tante, allein für Haus und Hof und Kinder sorgen. Anders sah die Situation im Geburtshaus meines Vaters aus. Er war der älteste Sohn, galt also als der Erbe seines elterlichen Kotten, konnte aber nach seiner Heirat nicht sofort mit seiner Frau einziehen; das doch recht kleine Kötterhaus bot nicht Platz für meine Großeltern mit ihren nach meinem Vater noch zehn Kindern. Er wollte warten mit der Übernahme seines Erbes, bis seine jüngeren Geschwister aus dem Haus waren. Zum Kriegsdienst wurde mein Opa wegen seines Alters nicht eingezogen. Er konnte also mit Hilfe seiner Frau und der heranwachsenden Kinderschar den Kotten verwalten.

Meinen Eltern bot sich für die Zwischenzeit ein günstiges Wohnangebot. In der näheren Umgebung zum väterlichen Kotten baute ein Onkel meines Vaters auf einem zwei Morgen großen Grundstück ein Wohnhaus. Es sollte nicht sehr groß werden, lediglich für ihn und seine Frau Platz bieten, Kinder hatten sie nicht. Beide starben innerhalb eines Jahres, noch bevor das Haus fertiggestellt war. Das Anwesen erbte ein sechzehnjähriger Neffe, das Patenkind des verstorbenen Großonkels. Die Eltern des Erben hätten meinem Vater das Angebot gemacht, wenn er das Haus zuende bauen würde, könne er es mit seiner Familie zu einem günstigen Mietpreis bewohnen, bis der Erbe einmal heiraten und es dann selbst für sich in Anspruch nehmen würde. Bis es soweit wäre, hätten sich seine Geschwister meines Vaters sicher auch auf eigene Füße gestellt und den elterlichen Kotten verlassen, so dass dann Platz für ihn und seine Familie wäre und einem Umzug nichts mehr im Wege stünde. So, sagte mir meine Mutter später, wäre geplant und entschieden worden. Beim Einzug in das neue Haus sei ich ein Jahr alt gewesen.

Meine ersten Erinnerungen beziehen sich auf dieses Haus, das schnell unser Haus wurde, nicht im juristischen Sinn. Ein Jahr nach unserem Einzug begann der zweite Weltkrieg. Der Erbe und Besitzer unseres Anwesens war von Anfang des Krieges an Soldat, er fiel schon 1942. Sein Besitz fiel an seine Eltern, die noch weitere vier Kinder hatten. Für uns änderte sich zunächst nichts. Ende 1943 wurde mein Vater Soldat, er war bis zu diesem späten Zeitpunkt reklamiert, weil er in einer Munitionsfabrik arbeitete. Er fiel achtzehn Monate später an der Oder. Unsere Lebensplanung zerbrach.

Nach schweren inneren Auseinandersetzungen und vielen Überlegungen und Gesprächen verzichtete meine Mutter endgültig auf das von ihrem verstorbenen Mann überkommene Erbe. Sie begründete diesen Schritt mit ihren wichtigen Argumenten: Sie sei fremd in der Familie ihres verstorbenen Mannes ohne ihn. Sie fühle sich nicht stark genug, allein mit ihren drei unmündigen Kindern die schwere Arbeit auf dem Kotten ihres Mannes zu leisten, Hilfe von ihrem einzigen Sohn könne sie erst nach Jahren erwarten, wenn er herangewachsen sei, die Zeit sei ihr zu lang. Die Erwartung vor allem ihres alternden Schwiegervaters an sie als Erbin sei zu hoch, er habe ein Leben lang in verschiedenen Bereichen gleichzeitig geschuftet, in der Familie, auf seinem Hof und in seinem Beruf als Zuschneider von Bauholz, daraus ergäben sich Maßstäbe, die sie überforderten. Schließlich seien seine Söhne außer ihrem Mann mehr oder weniger gesund aus dem Krieg zurückgekehrt, so dass männliche Erben zur Verfügung stünden. Ihre Entscheidung wurde schließlich akzeptiert. Wir blieben als Mieter in dem Haus wohnen, das mein Vater von seinem Onkel übernommen und fertig gebaut hatte, das bei dessen Tod in den Besitz seines Neffen übergegangen war, der im Krieg fiel, wodurch das Anwesen an seine Eltern überging.

Wie zu erwarten, stellte die Besitzerfamilie, nachdem ihre Kinder erwachsen, die Söhne aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren, Ansprüche an das Haus, in dem wir wohnten. Eine einigermaßen familiengerechte Ersatzwohnung zu finden, war aussichtslos. Die aufs Land geströmten Massen der Bombenopfer und Vertriebenen hatten den letzten noch eben bewohnbaren Raum belegt. Es gab nur noch die Möglichkeit des Zusammenrückens. Und so arrangierten wir uns, machten Zimmer frei und bauten den Dachboden aus. Die so zustande gekommene Behelfswohnung wurde bezogen von einem älteren Bruder des Erben und Patenkindes des Erbauers unseres Hauses mit seiner jungen Frau. Sie brachten ein angenommenes Kind mit, das in den Kriegswirren die Eltern verloren hatte. Der Mann, der so das Erbe seines verstorbenen Bruders antrat, war erst vor einem Jahr aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Er arbeitete als Weber in einer Fabrik, war aber sehr viel krank. Meine Mutter sagte, er habe in Stalingrad einen Knacks bekommen. Ich konnte mit diesen Begriffen noch nichts anfangen. Obwohl dieser Mann, den wir Onkel nannten, in sich gekehrt und zurückhaltend lebte, konnte ich mich doch immer mehr mit ihm anfreunden. Von ganz großem Interesse war für mich seine rechte Hand, die er nicht öffnen konnte, deren Finger in ständiger Krümmung verblieben. Mein ständiges, wahrscheinlich nervendes Fragen nach den Ursachen hat sich gelohnt. Er erzählte aus seinem umfangreichen Erleben eine kleine Episode, kindgerecht und so anschaulich, dass ich sie bis heute im Gedächtnis habe und sie mit dem Wort Stalingrad eng verbunden bleibt.

Er habe eine letzte Chance gesehen, aus dem Kessel von Stalingrad zu kommen. Bei eisiger Kälte musste er, wenn er noch ausbrechen wollte, einen reißenden Fluss durchwaten. Schuhe und Strümpfe habe er ausgezogen, um sie möglichst trocken ans andere Ufer zu bringen. Die aufgekrempelten Hosenbeine sollten nicht nass werden, und so habe er sie mit den Händen hochgezogen. Trotz größter Vorsicht sei ihm das nicht gelungen. Das Wasser sei ihm fast bis zur Hüfte gestiegen. Mit seiner rechten Hand habe er weiter sein Hosenbein hochgezogen, reflexartig, ohne dass es noch von Nutzen gewesen sei. Mit der linken habe er Schuhe und Strümpfe über Wasser zu halten versucht. Seine Füße und Beine seien nur teilweise erfroren, er könne sie inzwischen wieder fast normal gebrauchen. Seine rechte Hand sei nicht zu retten gewesen. Die Kälte hätte ihre Wirkung tun können, weil diese Hand nicht bewegt worden sei. So trage er ein für alle sichtbares Andenken an die große deutsche Katastrophe mit sch herum.

Wir haben mit großer Anstrengung und mit viel Hilfe aus unserer Umgebung bald nach der Währungsreform ein kleines Haus gebaut. So hat meine Mutter einen Ort geschaffen, von dem sie sagen konnte, es ist mein und meiner Kinder Zuhause. Es erfüllte sie mit Stolz und Genugtuung, dass sie sozusagen ein ebenbürtiges Ersatzerbe geschaffen hat für den Kotten, dessen Besitz für sie nach dem Tod meines Vaters sinnlos, sogar unmöglich wurde. Den Erben mit seiner Familie, der als Ersatzerbe das Haus bewohnte, in dem ich groß geworden bin, habe ich aus den Augen verloren.

Seitdem ich das Grab meiner Mutter alle paar Monate besuche, lege ich auf dem Weg dorthin regelmäßig eine kurze Pause ein vor einem alten Grabstein: Auf ihm steht der Name, das Geburts- und Todesdatum unseres Ersatzerben. Ich vermisse das Wort Stalingrad. Ich errechne mir sein Lebensalter, er ist jung gestorben. Sein Todesdatum sagt, dass er nur wenige Jahre Stalingrad überlebt hat: noch ein Erbe und Opfer des Krieges. Ich weiß nicht, wer sein Erbe übernommen hat, vielleicht sein angenommenes Kind, das seine Eltern im Krieg verloren hat.