Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Josef

 

DER KELLER

Unser Haus lag an einem geraden Weg, an dem insgesamt drei Häuser im Abstand von einigen hundert Metern angesiedelt waren. Zwei Teile aus rotem Backstein bildeten unseren Hauskomplex: der höhere und umfangreichere Teil bot auf zwei Ebenen Wohnraum, in gleichem Stil mit spitzem Dach, aber mit geringerer Grundfläche und niedriger war der Stall direkt an das Wohnhaus angebaut. So wirkte unser Haus im Vergleich zu den anderen beiden eher klein.

Wir hatten keine Kuh, nur Schweine und Hühner, brauchten also auch keinen Kuhstall. Dafür aber war unser Haus unterkellert, wir hatten wertvolle Kellerräume. Überhaupt war unser Haus das neueste der drei, meine Eltern hatten es nach Fertigstellung erst 1938 mit ihren damals zwei Kindern bezogen. Ich war drei Jahre jünger als meine Schwester und kann mich – erst ein Jahr alt beim Einzug – an die erste Zeit im neuen Haus nicht erinnern. Meine erste Erinnerung ist, dass mein Vater am frühen Nachmittag von der Fabrik nach Hause kam – er war im Gegensatz zu vielen anderen Vätern bis 1943 nicht bei der Wehrmacht, weil in dem Werk, in dem er arbeitete, Kriegsmunition hergestellt wurde und er so seinen Kriegsdienst leistete. Ich durfte ihn abholen, ich ging ihm bis zu der Wegegabelung entgegen und wartete, bis er kam, mich auf die Stange seines Herrenrades setzte und mit mir nach Hause fuhr. Er aß dann schnell das von meiner Mutter vorbereitete Essen, von dem ich besonders leckere Stücke abbekam. Danach zogen wir unsere Holzschuhe an und fuhren wie gewohnt zu einem nahegelegenen Hof, auf dem mein Vater die Männerarbeiten machte, der Bauer und Bewirtschafter des Hofes war längst eingezogen, seine Frau in vielen Dingen hilflos und auf die Hilfe meines Vaters angewiesen. Ich spielte auf dem Hof oder lief stundenlang beim Ackern mit hinter den Pferden her, deren Leine ich an gerader Spur halten durfte. Zu Feierabend, wenn ausgespannt wurde, setzte mich mein Vater auf Lotte, die fromme Stute, vor Jule, dem Wallach, sollte ich mich in Acht nehmen, man wüsste nie, was dem alles so einfiele. Mein Vater fasste die Zügel, und wir zogen zum Hof zurück, um zu füttern – das Melken besorgte die Bäuerin. Abends, auf dem Weg nach Haus, musste ich mich besonders gut am Lenker des Fahrrades festhalten, mein Vater lenkte mit einer Hand, in der anderen hatte er unsere Milchkanne mit frischer Milch.

Wir waren also auch ohne eigene Kuh mit Milch versorgt und hatten – wie gesagt den Keller. Er wurde so wichtig, als sich vieles zu ändern begann. Mein Vater wurde Ende 1943 doch zur Wehrmacht eingezogen. Auf den Bauernhof kam ein kriegsgefangener Russe namens Andre, mit dem ich mich nach einigen Vorbehalten anfreundete. Die Engländer begannen den nahen Flugplatz und die noch näher gelegene Nachrichtenkaserne zu bombardieren. Die von unserem Küchenfenster in der Ferne zu sehende asphaltierte Straße wurde von der Autobahn Richtung Hannover überquert, die Brücke war Ziel vieler Bombenangriffe. Die Angst, die sich steigerte, war an dem Verhalten unserer Nachbarn deutlich spürbar: sie brachten ihre Wertsachen zu uns in den Keller. In wenigen Wochen war so ein Kellerraum mit Paketen und Koffern gefüllt, deren Inhalte wir Kinder nicht kannten. Ihre Beschreibung mit Wertsachen flößte uns aber den Eindruck von ungeheuer Wichtigem ein.

Mit der Häufigkeit des Bombenalarms und dem Anwachsen der Wucht der Bomben bekam ein weiterer Kellerraum die Bedeutung des sicheren Unterschlupfes für uns und unsere Nachbarn. Wir gewöhnten uns daran, dass Minuten nach einem Bombenalarm zunächst die bekannten Menschen um uns herum, später auch Unbekannte durch die immer geöffnete Haustür in den Keller liefen, um dort einfach zu sitzen und abzuwarten, zu warten auf die ersehnte Entwarnung. Wir Kinder stürmten dann nach draußen und spielten. Es entwickelten sich immer neue Freundschaften, denn immer neue, zunächst unbekannte Gesichter tauchten auf. Die Länge der Bombardements hielt sich in Grenzen, da uns meistens nur ein Geschwader feindlicher Flugzeuge überflog und seine Ladung Bomben abwarf. In unmittelbarer Nähe gab es noch keine Einschläge. Wir spielten vergnügt, neue Kinder brachten neue Spielideen, es gab keine Langeweile, wir nahmen die ernsten Gespräche der Erwachsenen nach den Angriffen nicht wahr, bedauerten nur, wenn für unsere „Gäste" die Heimkehr angesagt war.

Im Spätsommer 1944 fuhr ein Lastwagen auf unseren Hof, ein ungeheueres Ereignis für uns Kinder. Einer der beiden Männer, die ausstiegen, war mein Onkel K.. Sie luden Kant- und Rundhölzer ab, redeten kurz mit meiner Mutter und fuhren wieder weg, ohne uns Kinder beachtet zu haben. Auch unser neugieriges Fragen wurde nur kurz beantwortet: Die Balken seien für den Keller. Erst zwei Tage später bekamen wir eine Vorstellung von der Bedeutung der Hölzer: Mit meinem Onkel K. kam ein älterer Mann, an den ich mich gut erinnere, weil er Kaiser hieß und wir Kinder uns über ihn lustig machten wegen seines Namens. Sie bauten die angelieferten Hölzer so in unseren Keller ein, dass die Gewölbedecke tragfähiger wurde. Aus unserem Keller wurde so ein offiziell anerkannter Luftschutzkeller, der nun auch Bewohnern der nahen Stadt offen stand. Meine Mutter nutzte die Anwesenheit der Männer zum Einkauf, sie beaufsichtigten bei ihrer Arbeit ihre drei Kinder – 1940 war meine jüngere Schwester geboren. Während eines Fliegeralarms wurden wir in den Keller geschickt. Wir nahmen die Aufforderung , in ihm zu bleiben, nicht sehr ernst, zumal Erwachsene nicht nachkamen. Als wir nach draußen schauten, hörten wir Tiefflieger und sahen die Männer flach auf dem Boden unseres Hofes liegen. Wir überhörten die Flugzeuge und lachten über das lustige Bild der am Boden liegenden Männer, von denen einer „der Kaiser" war. Kurze Zeit später kam meine Mutter zurück, außer Atem und mit zerkratzten Armen und Beinen. Sie erzählte aufgeregt, dass sie aus dem Blickfeld der Tiefflieger in einen dornigen Graben am Wegesrand geflüchtet sei. Wir Kinder mussten lernen: Auch „der Kaiser" konnte den Gefahren des Krieges nicht entfliehen, und ein stabilisierter Keller konnte nur Schutz bieten, wenn wir in ihm blieben – wir konnten aber doch viel besser draußen spielen.......

Der abgestützte Keller war eigentlich unsere Waschküche, hier war eine Wasserpumpe installiert, die von Hand betrieben das Wasser in einen Boiler drückte, aus dem es sogar schon in die Spülküche auf der Wohnebene floss. In einem abgedichteten kleinen Raum konnte das Regenwasser gesammelt werden, mit dem die gekochte und in der hölzernen, elektrisch angetriebenen Waschmaschine geschaukelte Wäsche gespült wurde. Hier befand sich auch der riesige Waschkessel, der von unten beheizt werden konnte mit einem Holzfeuer. Der riesige Deckel des Kessels war gewölbt. Wenn man ihn mit der Wölbung nach unten auf den Topf legte, in dem das Wasser lauwarm gehalten wurde, hatte man eine angenehm warme Ablage gewonnen in dem sonst feucht kalten Kellerraum. Diese Fläche war während der immer länger andauernden Bombardierungen – auch während der Nacht – den Babies und Kleinkindern vorbehalten, die so die Voraussetzungen geboten bekamen, ihren Schlaf fortzusetzen. Wir beneideten oft, wenn wir todmüde waren , diese Jüngsten. Das änderte sich schlagartig, als wir von der hinzukommenden Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern erfuhren, dass sie verschüttet waren und nur mühsam aus den Trümmern gerettet werden konnten. Ohne jede Missgunst standen wir den kleinen Opfern den bevorzugten Platz zu. Sie stellten uns immer wieder mit ihrem lauten Weinen bei Angriffen vor Augen, dass sie Geschädigte waren. Sie haben mir das Unmenschliche des Krieges deutlicher gemacht als alle Bombardements und Maschinengewehrsalven aus Tieffliegern.

Ich kann mich nicht erinnern, ob der Winter 1944/45 besonders kalt war, ob viel Schnee lag, ob wir draußen spielen konnten. Ich weiß nur, dass es in unserem Keller immer enger wurde und viel bedrückender. Es war still während des langen Wartens auf Entwarnung. Mit dem Alarm waren die Leute ohne Aufsehens gekommen – viele uns Unbekannte. Sie setzten sich auf die schmalen hölzernen Bänke, die wir in den Keller gestellt hatten, rückten zusammen, solange es ging, wenn Neue kamen, standen an die abstützenden Rundhölzer gelehnt, wenn die Bänke voll besetzt waren. Mit der Entwarnung eilten alle nach Haus so, als ob die vertane Zeit schnell aufgeholt werden müsste. Meine Mutter gab uns für die Zeit, in der freie Bewegung möglich war, immer mehr kleine Arbeiten, wohl aus der Angst, unsere Versorgung bald nicht mehr leisten zu können.

Am 12. März 1945 – meine ältere Schwester hatte ihren 11. Geburtstag – erhielten wir die Nachricht vom Tod meines Vaters. Ich erlebte um mich herum wichtige Veränderungen, die aber nur indirekt meine neue Situation begreifbar machen konnten. Ich hatte auch vor dem Todesdatum meinen Vater lange nicht mehr erlebt. Wo war der Unterschied? Z. B. ging meine Mutter bei Fliegeralarm nicht mehr mit uns in den Keller. Z. B. wurden wir Kinder bevorzugt behandelt, und zwar nicht nur von uns bekannten Menschen. Z. B. waren um uns herum über lange Zeiten Verwandte, Bekannte, Nachbarn, die – auch wenn sie sehr lieb zu uns waren – lebende Beweise darstellten dafür, dass etwas nicht stimmte, dass etwas kaputt gegangen war. Die dramatischen äußeren Ereignisse im März und April begruben unter sich die kindlichen Gefühle der familiären Störung und nicht bewältigten Veränderung. Eine Familie aus der nahen Stadt zog noch im März mit in unser Haus und ersparte sich so mühsame Anfahrten mit Fahrrädern zu unserem vermeintlich sicheren Keller zu allen Tages- und Nachtzeiten bei immer häufigeren Bombardements und MG-Feuer aus Tieffliegern. Meine Mutter zog sich noch mehr aus dem alltäglichen Trubel zurück, die Last der Alltagsarbeit und die Sorge um das Überleben ihrer Kinder verlagerte sich mit auf die Schultern der Mutter der Gastfamilie und auf ihren Mann, der mitkommen konnte, weil er wegen einer schweren Lebererkrankung vom Militär ausgemustert war. Dieses Handicap schmälerte kaum den ungeheuren und ungewöhnlichen Vorzug, dass bei uns ein Mann im Hause wohnte. Mit ihren drei Kindern brachte die Familie auch eine junge Russin mit, die ihr zugeteilt worden war zur Erledigung der Arbeit in ihrem Fleischergeschäft, das sie in der Stadt betrieb.

Am Karsamstag vormittags erklärte diese junge Russin, sie höre Panzer rollen. Und als wir anderen trotz größter Anstrengung nichts hören konnten, was in etwa ein Panzerrollen hätte bedeuten können, erzählte sie mit ihren geringen sprachlichen Möglichkeiten von ihren angstvollen Erfahrungen mit Panzern, die dazu geführt hätten, dass ihr Fahrgeräusch sich tief und fest in sie eingeprägt habe. Uns Kindern reichte diese Wahrnehmung, den Erwachsenen mag ein genauerer Kenntnisstand diese Nachricht noch glaubwürdiger gemacht haben. Ein ängstliches und ruheloses Treiben begann. Die Erwachsenen rannten ohne erkennbare Ziele umher, räumten aus und wieder ein, brachten Ausgesuchtes in den Keller, holten von draußen ins Haus. Wir Kinder konnten in diesem Durcheinander keine Hilfe sein, wurden als nur im Wege stehend beschimpft. Der Plan des Mannes im Haus brachte für uns Eindeutigkeit: Wenn gekämpft und geschossen würde, könnte uns nur der Keller als Schutzraum dienen. Vor Bomben von oben sei er gesichert, Schutz vor Geschossen vom Boden aus biete er nicht, da die Kellerfenster zum Teil oberhalb des Bodenniveaus lägen und nicht durch Kellerschächte geschützt seien. Sein Plan also: Wir dichten die Fenster mit Grasplaggen ab. Bei dieser Arbeit konnten und mussten wir Kinder helfen. Und wir haben geholfen, mit ganzer Kraft und ausdauernd aus Angst vor dem Unbekannten, das da jeden Augenblick zu kommen drohte und das auch kam am frühen Nachmittag. Wir waren noch längst nicht fertig mit unserer Arbeit, als aus dem Haus gerufen wurde: Wir können sie sehen auf der entfernt verlaufenden Straße, die Panzer sind da! Gebannt vor dem Küchenfenster stehend hörten wir das Grollen und sahen riesige Ungetüme, die sich stadteinwärts bewegten. Wir sahen eine auffällige Gestalt auf einem Fahrrad, sie bewegte sich stadtauswärts. Sie war ganz in ein weißes Laken gehüllt und hatte an einem Stab ein weißes Tuch befestigt, das flatterte im Wind. Wir waren starr vor Angst, die sich ein wenig zu lösen begann, als auch für uns Kinder verständlich diese Gestalt gedeutet wurde, sie signalisiere den entgegenkommenden feindlichen Soldaten die Ergebung der Stadt. Somit sei kaum zu erwarten, dass gekämpft und geschossen würde.

Dieser beruhigende Gedanke setzte sich fort in unserem nächsten Plan: Wir beenden vorläufig die Arbeit an den Kellerfenstern, wir hissen statt dessen eine weiße Fahne zum Zeichen dafür, dass von unserem Haus keine Gefahr ausgeht, auch nicht für feindliche Soldaten, so dass also auch sie uns nicht bekämpfen müssen. Wieder halfen wir Kinder aus tiefer Überzeugung, eine Holzstange am Gartentor zu befestigen und ein weißes Betttuch anzubringen, als plötzlich ein uniformierter Mann dabeistand – er war wohl mit dem an den Zaun gelehnten Fahrrad unbemerkt gekommen. Mit scharfer Stimme fragte er den Mann im Haus, was sein Tun zu bedeuten habe. Ich weiß nicht mehr, was der Angesprochene geantwortet hat. Die Reaktion des Soldaten – die Erwachsenen haben später erklärt, dass es sich um einen SS-Mann gehandelt habe, das habe man an der Farbe seiner Uniform erkennen können – die Reaktion war eindeutig: Was Sie tun, ist Sabotage. Ich muss Sie deshalb erschießen. Wie ernst die Lage war, merkten wir Kinder erst, als der SS-Mann an seinem Gürtel hantierte und eine Pistole zog. Das war das Zeichen für uns Kinder: schreiend liefen wir ins Haus, um Hilfe zu holen. Ich habe mich nie in die Rolle dieses SS-Mannes versetzen können. Er hätte schießen können. Er hat es aber vorgezogen, mit seinem Fahrrad weiterzufahren, als alle Bewohner des Hauses mit verschreckten Gesichtern zur Gartenpforte gerannt kamen. Als wir ihn nicht mehr sehen konnten und wieder ruhiger zu werden begannen, hörten wir wieder das Dröhnen der Panzer von der nahen Straße.

Als es abends zu dämmern begann, das Grollen der Panzer war nicht mehr zu hören, unsere weiße Fahne bewegte sich ruhig im Wind, fanden wir drei deutsche Soldaten, die sich auf unsere Treppenstufen vor der Haustür gesetzt hatten. Wieder war der Mann im Haus gefragt, er unterhielt sich mit den Soldaten. Wir Kinder hielten uns in einiger Entfernung. Wir wollten natürlich wissen, was sich jetzt wieder abspielen würde, hatten aber nicht mehr den Mut, direkt am Geschehen zu sein. Die Ruhe, in der die Unterhaltung stattfand, übertrug sich auf uns Kinder. Wir hatten ungeheure Achtung vor dem Mann im Haus, der Mut bewies und ruhig blieb, trotz der gerade erlebten Bedrohung.

Der so Geachtete ging nach einigen Minuten des Gesprächs ins Haus und beriet sich mit meiner Mutter und seiner Frau. Nach weiteren Minuten der Beratung erklärte er uns, was geschehen würde. Die Soldaten seien total erschöpft, hungrig und müde. Sie wüssten nicht, wohin sie gehen sollten. Wir würden ihnen ein Lager herrichten im Keller. Wir könnten schon mal Stroh vom Balken holen und es in den Keller bringen hinter die Kellertreppe. Sie dürften bei uns nicht gefunden werden, von niemandem. Die Situation sei für sie und für uns gefährlich. Und deshalb müsse absolutes Stillschweigen gehalten werden. So wurde die neue Situation ungeheuer spannend für uns Kinder, wir holten viel zu viel Stroh, trauten uns aber nicht, das Lager herzurichten. Das mussten die Soldaten selber machen. Aus den Vorräten unserer Gastfamilie, die ja eine Fleischerei betrieben hatten, konnte unseren neuen Gästen die nötige Verpflegung geboten werden, ohne dass wir anderen um unser Überleben bangen mussten. Wir Kinder trauten uns nicht, den Soldaten das zubereitete Essen in den Keller zu bringen. Wir wollten aber sehen, wie sie sich eingerichtet hatten, und gingen mit, als ihnen das Essen gebracht wurde. Sie hockten hinter der Treppe auf Decken, die sie über das Stroh gebreitet hatten. Sie bedankten sich artig für die Speisen und fingen wortlos und hastig an zu essen. Wir überließen sie ihrem Schicksal und uns der ungeheuren Müdigkeit, die uns ergriff nach den vielen fremden und noch zu verarbeitenden Ereignissen. Ich glaube, sogar meine Mutter vergaß an diesem Abend auf den dunklen Hof zu gehen, wie wir das immer in der Osternacht getan hatten, um uns umzusehen, wo überall Osterfeuer brennen würden. Sie wäre, wenn sie auch kein Freudenfeuer entdeckt hätte, sicher froh gewesen, dass in der Osternacht 1945 kein Bombeneinschlag mehr zu sehen war.

Die Nacht war also ruhig, und als wir am Ostermorgen helfen mussten, das Frühstück in den Keller zu bringen zu unseren neuen Gästen, fanden wir ausgeschlafene und gesprächsbereite Männer vor, die auch uns Kinder sahen, mit uns redeten und Späße machten. Wir verbrachten gern viele Stunden am Ostersonntag bei den Soldaten im Keller, auch weil wir merkten, dass sie uns gern um sich hatten. Gegen Abend kamen auch meine Mutter und unser Mann im Haus in den Keller zur Lagebesprechung, wie sie sagten. Der Tag war ruhig verlaufen, wir hatten weder Schießen noch Panzerdröhnen gehört. Es gab also keinen Grund, unseren Gästen Schlafplätze für eine weitere Nacht zu verweigern. Meine Mutter bot ihnen Zivilkleidung an, wir könnten in dem Nachlass meines Vaters nach geeigneten Kleidungsstücken suchen, sie würden ja nicht mehr gebraucht. Sie könnten sich dann in den nächsten Tagen unauffälliger und vielleicht auch sicherer bewegen. Die sich anschließende Anprobe verlief trotz des bitteren Beigeschmacks aufgelockert. Die Soldaten konnten sich mitfühlend in unsere Situation versetzen, und wir lachten schließlich darüber, dass nach dem Kleiderwechsel ganz normale und sympathische Menschen vor uns standen, die wir gern noch länger beherbergt hätten. Alle abgelegten Kleidungsstücke, die an Wehrmacht erinnern konnten, packten wir in unseren großen Einwecktopf und vergruben ihn im Garten. Auch die folgende Nacht blieb ruhig, es tat uns leid, dass unsere Gäste, die eigentlich keine Soldaten mehr waren, im Keller auf Stroh schlafen mussten.

Am Morgen des zweiten Ostertages hörten wir wieder das Dröhnen von fahrenden Panzern. Die Aufregung war groß, weil die Kolosse nicht auf der Asphaltstraße blieben, also auch in kleinere Wege einbogen. Die Zeit war abzusehen, in der auch der vor unserem Haus verlaufende Weg befahren wurde. Es ging alles so schnell, dass wir Kinder nicht folgen konnten: Ein schnelles Verabschieden (Danke und wir kommen wieder und bringen die ausgeliehene Kleidung zurück!), das Losrennen der Drei, unser Winken bis sie beim übernächsten Haus abbogen und wir sie nicht mehr sehen konnten. Eine halbe Stunde später kurvten Panzer – von unserem Hof aus sichtbar – auf Wegen und Feldern. Es wurde geschossen, deutsche Soldaten, wo immer sie herkamen, wurden auf Lastwagen abtransportiert. Wir schauten gespannt in die Richtung unserer Soldaten. Auch von dort hörten wir Schüsse. Wir sahen einen Lastwagen vorfahren, den eine Person bestieg, eine andere wurde auf einer Bahre liegend verladen. Nachdem sich die Fahrzeuge entfernt hatten, wagten wir uns an den Ort des Geschehens. Wir sahen außer den tiefen Fahrspuren und einer Zeltplane, die am Wegesrand lag, nichts Ungewöhnliches. Sie wollten uns nicht in Schwierigkeiten bringen, sagten Nachbarn, die unsere Soldaten zuletzt gesprochen hatten. Sie glaubten eine naheliegende Hecke noch erreichen zu können. Zu früh sind sie entdeckt und beschossen worden. Einer der drei war sofort tot, sie haben ihn einfach liegen lassen. Der zweite war am Bein verletzt, sie haben ihn verladen und mitgenommen. Der dritte wurde unverletzt gefangengenommen. Wir waren erschüttert und hilflos und gingen nach Haus. Gegen Abend suchte unser Mann im Haus Spaten und Schüppe, er ging zum Ort des Geschehens. Wir Kinder durften nicht mit.

Sie hatten das Grab nur zwei Meter vom Weg entfernt geschaufelt. Vor das Birkenkreuz mit dem Helm standen immer frische Blumen. Wir wussten, dass hier der Kleine-Dicke lag. Seinen Namen kannten wir nicht. Also wussten wohl auch seine Angehörigen nicht, wo der Sohn oder Ehemann oder Vater oder Bruder lag, sie hofften sicher, dass er bald nach Kriegsende zu ihnen zurückkommen würde. Wir haben all das Unbegreifbare und Erschütternde des Krieges auf dieses Grab gelegt mit den ständig frischen Blumen, das Grab war der Ort der Nachdenklichkeit und des Aufbegehrens. Wir hätten diesen Tod verhindern können, wenn wir mutiger und entschlossener gewesen wären, wenn wir geschafft hätten, ihm und den beiden anderen auszureden, dass sie eine unüberwindbare Gefahr für uns wären. Am Abend des zweiten Ostertages ging jeder dem anderen aus dem Weg. Jeder musste selbst fertig werden mit seiner Hilflosigkeit und auch mit seiner Scham.

Nach Ostern 1945 löste sich die Kellergemeinschaft der Bomben- und Tieffliegerzeit langsam auf und es begann die schlimme Nachkriegszeit. Unser Keller behielt noch lange die Funktion des sicheren Aufbewahrungsortes, obwohl sie eigentlich eine Illusion war angesichts von Raub und Plünderung. Einen bombensicheren Keller brauchten wir nicht mehr. Eine Mutter mit drei Kindern etwa in unserem Alter hatte inzwischen festen Wohnsitz bei uns im Haus. Im Sommer 1945 kam ihr Mann und Vater aus dem Krieg zurück. Er übernahm viele Arbeiten im und am Haus, die wir nicht leisten konnten. So baute er die zusätzliche Holzkonstruktion in unserem Keller ab und vergrößerte mit dem Material unseren Stall, in dem bisher nur Hühner untergebracht waren, so konnten wir Kaninchen halten, deren Fleisch in der Hungerzeit Rettung bedeuten konnte. Die Kleidungsstücke meines Vaters haben wir nie zurückbekommen, wir wissen nicht, wohin es die beiden überlebenden Soldaten verschlagen hat. Der gefallene Soldat ist nach etwa sechs Jahren umgebettet worden auf Veranlassung seiner Frau, die über das Rote Kreuz vom Schicksal ihres Mannes erfahren hat. Nun ruht er irgendwo im Ruhrgebiet in der Nähe seiner Familie.

Es gibt viele Gelegenheiten, die mich Jahrzehnte nach Kriegsende noch an das Leben im Keller erinnern. Mit zunehmendem Alter und zunehmender Körperkraft kümmerte ich mich um die Wasserversorgung im Haus, d. h. ich musste mit Muskelkraft die Pumpe bedienen, die immer noch in dem Keller stand, der einmal Bombenkeller war. Immer wieder werden Erinnerungen wach. Natürlich wurde in der schlechten Zeit das Soldatenzeug ausgegraben, das wir Ostern 1945 versteckt hatten. Mantel und Hose, die ich aus diesem Zeug angepasst bekam, habe ich jahrelang getragen und tragen müssen, zuerst mit einem gewissen Stolz im Bewusstsein der Männer, die vor mir diese Kleidung getragen haben, später im Überdruss, weil es inzwischen zerschlissen, nicht modern war und eben an Krieg erinnerte. Das Holz des bombensicheren Kellers habe ich deutlich vor Augen, inzwischen mehr in der Funktion eines Kaninchenstalles. Das dicke Kantholz, auf das die Dachtraufe liegt, hatte eine noch viel wichtigere Aufgabe, als das Dach zu tragen. An vielen eingeschlagenen Nägeln hingen Bunde aus Tabakblättern. An jeder freien Ecke im Garten wuchsen Tabakpflanzen, deren Blätter zur passenden Zeit geerntet und zum Trocknen aufgehängt wurden. Sie wurden mindestens so sorgfältig gehütet wie die Kaninchen unterhalb der Bunde. Der gutmütige und hilfsbereite Vater der bei uns wohnenden Familie passte mit Argusaugen auf und wir Kinder konnten seine Sorgfalt verstehen, denn der Vorrat musste bis zur nächsten Ernte reichen.

 

DIE ONKEL

Ich hatte viele Onkel, ich müsste mir große Mühe geben, wenn ich die vielen Brüder meines Vaters und meiner Mutter namentlich aufzählen sollte. Zudem wurden in unserer Familie unterschiedslos auch die Männer der Schwestern von Vater und Mutter mit Onkel tituliert, jedenfalls von den Nichten und Neffen, so dass sich die Zahl der Titelanwärter noch einmal verdoppelte. In diesem Zusammenhang muss ich noch eine dritte Gruppe nennen: Sie bestand aus den männlichen Bekannten der Familie und unseren Nachbarn. Die zuletzt Genannten waren Onkel einer besonderen Art, mit dem Titel wurde der Hausname verbunden, während die verwandten Onkel mit Vornamen angesprochen wurden. Diese Regelung war eingeübt, ihre Anwendung bedurfte keiner Überlegung.

Für mich gab es wichtigere Unterscheidungsmerkmale, und zwar quer durch alle Onkelgruppen. Es gab für mich z. B. Autoritätspersonen, die ich als solche akzeptierte oder akzeptieren musste, wenn ich sie – wenn auch widerwillig - Onkel nannte. Daneben nannte ich andere gern Onkel, weil ich mit diesem Wort eine Verbundenheit und Zugehörigkeit ausdrücken wollte. Ich fand es sehr schade, dass beide Onkelgruppen mit einem gleichlautenden Titel angesprochen werden mussten. Ich traute mich aber auch nicht, in Onkel und lieber Onkel zu unterscheiden. So blieb die unterschiedliche Wertschätzung meiner vielen Onkel mein Geheimnis.

Onkel Th. war wohl der Älteste der Onkel aus der Verwandtschaft, er war der Mann der ältesten Schwester meiner Mutter. Aber nicht deswegen will ich von ihm erzählen, vielmehr weil er mir als ein eigentümlich sympathischer und deshalb bedenkenswerter Mensch erschien. Meine ersten Erinnerungen beziehen sich auf seine Besuche etwa im Abstand von sechs bis acht Wochen. Er kam morgens sehr früh mit dem Fahrrad aus seiner Bauerschaft, die vielleicht zehn Kilometer von uns entfernt lag. An beiden Seiten des Lenkers hingen vollgestopfte Stofftaschen. Er brachte uns regelmäßig etwas sehr Wertvolles in der Zeit vor und nach Kriegsende: z. B. eine geräucherte Mettwurst, einen Schweinebraten, ein Stück Schinken und einen Beutel voller Roggenkörner. Er war zu alt für die Wehrmacht, konnte aber noch seinen kleinen Kotten bewirtschaften, der ihm die unbezahlbaren Schätze einbrachte. Ich weiß nicht, ob er oder seine Frau, also meine Tante, treibende Kraft war, wenn es darum ging, uns von diesen Schätzen etwas abzugeben, beide waren sie einfühlsam und großzügig ohne jedes Aufsehen, das steigerte sich noch, nachdem wir wussten, dass mein Vater nicht aus dem Krieg zurückkommen würde.

Er kam also verlässlich, beizeiten am Morgen, meine Mutter machte ihm ein Frühstück, und er erzählte uns von Haus und Hof und von seiner Familie. Ich ging noch nicht lange zur Schule und hörte dem Reden als i-Männchen nicht besonders aufmerksam zu. Es mischte sich aber in seine Erzählung etwas, das seine persönliche Einstellung deutlich werden ließ, das über die enge private Welt hinausging – und das spürte ich. Es war für uns Kinder ungewöhnlich, dass in unserem Beisein sich jemand ereiferte, schon gar nicht in politischen Fragen. Onkel Th., der gutmütige Onkel, der es nicht nötig hatte, sich schablonenhaft anzupassen, sagte beim Frühstück laut und überzeugt, dass Hitler ein Mörder sei und dass zu viele ihm naiv und gutgläubig 1933 die Stimme gegeben hätten. Das hatte noch niemand in unserem Beisein gesagt. Ich fing an, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem unnatürlichen Tod meines Vaters und dem Mörder Hitler.... Eilfertig schickte mich meine Mutter zur Schule. Wir hatten einen langen Schulweg zu fuß zurückzulegen und konnten erst in die zweiklassige Volksschule, wenn die älteren Schüler ihren Unterricht beendet hatten. Spielend und redend mit den Nachbarkindern hatten war schon fast unser Ziel erreicht, als ich völlig überraschend von meiner Mutter angesprochen wurde. Sie stand mit rotem Kopf neben ihrem Fahrrad, froh, mich noch vor der Schule erreicht zu haben. Sie rief mich zu sich und redete erst auf mich ein, als sie sicher war, dass niemand uns hören konnte: Du darfst niemandem sagen, was Onkel Th. uns erzählt hat. Du musst es mir versprechen! Ihre noch zu spürende Erregung und ihre Ernsthaftigkeit beim Reden ließen mir keine andere Wahl, als ihr mein Versprechen zu geben. Gut, sagte sie, dann lauf, dass du die anderen noch einholst. Sie kehrte sich um und fuhr zurück. Ich hatte es nicht eilig, die anderen zu treffen, so verwirrt war ich. Wie lange würde es dauern, bis ich das alles verstehen lernte?

Nach der Schule zeigte meine Mutter zunächst echte Freude über die vielen guten Gaben ihres Schwagers, aber er sollte doch nicht soviel über Politik reden, sagte sie, offensichtlich um mir ihr Verhalten vom Vormittag zu erklären. Ich bemerkte ihre Hilflosigkeit, und als ob sie sich gerade ihretwegen ärgerte, sagte sie fast aggressiv, er wäre schon einmal beinahe abgeholt worden, wenn G. das nicht verhindert hätte. Sie sprach eindeutig von ihrem ältesten Bruder, also meinem Onkel G., und wollte so offensichtlich das Thema beenden. Ich konnte nicht mehr fragen, was ein Abholen bedeutet hätte, wenn es denn erfolgt wäre. Ich kannte ein Schimpfwort, das ich schon öfter gehört hatte, wenn wir Kinder irgendwelche Dummheiten gemacht hatten: Euch sollte doch der Teufel holen! Ich hatte nie an die reale Möglichkeit gedacht, schon gar nicht bei Erwachsenen. In diesem Zusammenhang fiel es mir ein, und ich musste angestrengt nachdenken über meinen Onkel G.: Wieso konnte er verhindern, dass Onkel Th. vom Teufel oder von wem auch immer geholt wurde? Und warum sollte Onkel Th. geholt werden, wenn er Hitler einen Mörder nannte?

Onkel G. war ein korrekter, feiner Mann. Wir hatten ein Bild von ihm in Postkartengröße, auf ihm war er in Uniform zu sehen, jung, es konnte nur aus dem ersten Weltkrieg stammen. Er arbeitete bei der Reichsbahn, ich hätte ihn mir auch nicht als Kötter oder Bauer im Kuhstall verstellen können. Er hatte am Rand der Stadt ein neues großes Haus gebaut, in dem er mit Frau und vier Söhnen lebte, d. h. in der Zeit, an die ich mich erinnere, waren alle vier Söhne Soldat, ich kannte sie nur sehr flüchtig aus ihren Urlaubszeiten. Man hätte denken können, wir hätten ihn weniger geschätzt, schon weil er uns keine Wurstpakete brachte. Er war geachtet, weniger beliebt. Meine Mutter sah in ihm einen Ratgeber, vor allem nach dem Tod meines Vaters. Ich hatte immer das Gefühl, kontrolliert zu werden, wenn er kam. Er sprach wenig, schimpfte auch nicht mit uns Kindern, und dennoch war uns nicht geheuer, wenn er still durch das Haus ging und überall hineinguckte. Er sah nicht uns Kinder, aber er sah, wenn irgendwo etwas nicht in Ordnung war. Später bemerkte ich, dass er einen sehr engen Ordnungsbegriff hatte: Im und um das Haus herum musste aufgeräumt sein, nichts durfte aus einem vorgegebenen Rahmen fallen oder gefallen sein, so konnte nichts auffallen, es sei denn der geordnete Rahmen. Dieses Einpassen drohte zum Anpassen zu werden. Die vielleicht voreilige Beschreibung wäre hier unwichtig, wenn sie sich nur auf seine eigene Person bezogen hätte. Ich merkte bald – und regte mich darüber auf -, dass er seine Haltung auch seiner Umgebung abverlangte, und zu der – meinte er – würde unsere Familie gehören. Klar – wir waren vaterlos und deswegen vielleicht hilfsbedürftig. Er wollte sicher helfen, aber ich wollte seine Hilfe nicht akzeptieren, weil sie letztendlich nicht uns galt..... Aber das merkte er nicht, er war von der Nützlichkeit seines Tuns überzeugt und betonte sie immer wieder. Auch Onkel Th. war überzeugt, dass die Lebensmittel, die er uns brachte, Hilfe in der Not bedeuteten. Aber er redete nicht darüber!

Als das Leben sich nach dem Krieg wieder zu normalisieren begann, feierten wir wieder runde Geburtstage und als Katholiken natürlich Namenstage. Ich denke, es war der 40. Geburtstag meiner Mutter, ich wurde genau zwei Wochen später elf. Wir saßen mit den Verwandten beim Kaffee, uns Kindern war aufgetragen, uns ruhig zu verhalten, wenn die Erwachsenen miteinander redeten. Sie redeten über die Folgen des Krieges. Söhne von Onkel und Tanten, die mit am Tisch saßen, waren gefallen. Es schien für sie befreiend zu sein, von den bekannten und vermuteten Umständen des gewaltsamen Sterbens ihrer Kinder zu erzählen in einem Haus, in dem der Tod des Ehepartners und Vater betrauert wurde. Onkel G. erzählte von seinem ältesten Sohn, der als Pilot der Luftwaffe umgekommen war. Ich konnte seine Mutter sehen, die mit den Tränen kämpfte. Die Rede kam auf die Verlobte des Piloten, die bei einem Bombenangriff in der nahen Stadt fast gleichzeitig zu Tode kam. Das tragische Schicksal dieser beiden jungen Leute machte die Kaffeerunde für längere Zeit sprachlos. Als erster redete wieder mein Onkel G., er sagte gequält, der Herrgott habe es so gefügt und damit verhindert, dass die Beiden zusammengekommen seien. Und als erschrocken nachgefragt wurde, warum sie denn nicht hätten zusammenkommen sollen, nannte er nüchtern den (seinen) Grund: Sie war evangelisch.

Er stellte fest und ließ keinen Spielraum. Niemand am Tisch widersprach ihm, obwohl das betretene Schweigen sicher keine direkte Zustimmung signalisierte. Mir fielen die weit zurückliegenden Worte meiner Mutter ein: Onkel Th. wäre abgeholt worden, wenn G. das nicht verhindert hätte. Wie gut, dass er sich eingesetzt hat, jetzt kann Onkel Th. mit in der Reihe am Kaffeetisch sitzen, ich sehe ihn an, wie er schweigsam und in sich gekehrt in seiner Tasse rührt. Er ist jetzt ruhig, aber er war es nicht zu einer Zeit, in der er hätte ruhig sein sollen. Er ist aus der Reihe getanzt. Er hat sich ein eigenes Urteil gebildet und sich frei zu ihm bekannt und deshalb ist er in Schwierigkeiten gekommen. Hat Onkel G. überhaupt über die Aussagekraft seines Urteils nachgedacht: Hitler ist ein Mörder? Ist er auch Mörder seines Sohnes? Ging es ihm um die Sache? Oder um die Person seines Schwagers, als er - wie auch immer - tätig wurde? Oder konnte er nur nicht ertragen, dass jemand Ordnungsprinzipien missachtete, und dann noch jemand aus der eigenen Verwandtschaft oder – noch schlimmer – aus der eigenen Familie? Warum konnte er, der Katholik, den Gedanken nicht ertragen, dass sein Sohn zufrieden und glücklich lebte nach überlebtem Krieg an der Seite einer evangelischen Frau – nicht einmal nach dessen Tod? Was hatte sein Denken so eng und so verklemmt gemacht, der doch seinem Schwager geholfen hatte? Seine Aufgabe bestand offensichtlich darin aufzupassen und dafür zu sorgen, dass vorgegebene Verhaltensmuster beachtet und umgesetzt wurden. Sie zu bewerten oder gar zu verändern, das lag außerhalb seines Denkhorizontes. Dafür gab es den Vorgesetzten, Hitler oder den Herrgott!

Diese Fragen haben sich mir natürlich so nicht am Kaffeetisch gestellt, sie sind im Laufe der Jahre deutlicher geworden und sie haben mich unruhig gemacht. Und doch weiß ich noch genau, dass ich entsetzt war: Die Deutung des gewaltsamen Todes eines jungen Menschen mit dem Glauben an eine menschenverachtende Vorsehung blieb unwidersprochen im Raum stehen, in dem meine engsten Verwandten versammelt waren, die alle von sich sagten, sie seien katholische Christen. Und doch - die Vergewisserung, dass nun wieder alles seine Ordnung hätte, hatte nicht lange Bestand. Im Verlauf des Kaffeetrinkens wurden so viele Tote in unserer Verwandtschaft beklagt, dass sich schließlich alle Deutungsversuche als unbrauchbar erwiesen, unsere Hilflosigkeit und maßlose Trauer zu überwinden. Wir alle waren nicht darin geübt, sie uns zuzugestehen und ihre Auswirkungen zuzulassen, da stand mein Onkel G. nicht allein. Mit ungeheurem Kraftaufwand schafften wir schließlich die Verdrängung oder wir resignierten wie Onkel Th., dessen Schweigen wir nicht anders deuten konnten.

Lasst uns noch einen Gang durch den Garten machen und uns die Beine vertreten! Das war am Ende der Feier die Erlösung: Wir Kinder konnten endlich laufen und toben, die Erwachsenen schauten nach, wie die neue Ernte ausfallen würde. Vielleicht konnten sie auch feststellen, dass schon Gras über die schrecklichen Ereignisse zu wachsen begann.

 

DER SCHNAPS

Von unserem Küchenfenster aus konnten wir gerade noch die weitläufigen Gebäude des Meierhofes erkennen. Er unterschied sich von anderen Gehöften in unserer Gemeinde durch seinen die übrigen Gebäude weit überragenden, runden Schornstein, der die Neugier in uns Kindern regte, denn er war ungewöhnlich für einen Bauernhof. Die Erwachsenen, die wir nach der Bedeutung dieses Schornsteins fragten, antworteten knapp, er sei wegen der Brennerei notwendig, die sich auf dem Meierhof befände. Von Zeit zu Zeit fuhr meine Mutter mit ihrem Fahrrad auf diesen Hof und brachte ein oder zwei Flaschen Schnaps mit, und so kombinierten wir Schnaps und Brennerei.

Für uns Kinder hatte dieses Getränk, das es ausschließlich für Erwachsene gab, etwas Geheimnisvolles. Es spielte nur dann eine Rolle, wenn etwas Besonderes und Außergewöhnliches eintrat, z. B. ein überraschender Besuch, ein nicht vorhersehbares Ereignis oder bei einer besonders schwierigen und gefährlichen Arbeit. Meine Mutter sagte dann: Hol mal die Flasche aus dem Vorrat. Wir hatten natürlich viele Flaschen zur Aufbewahrung von Lebensmitteln, dennoch wusste ich genau, was ich zu bringen hatte, wenn „die Flasche" gefragt war. Wir Kinder ahnten auch , dass mit dem Schnaps etwas bewirkt wurde oder bewirkt werden sollte. Einmal im Jahr wurde geschlachtet. Wir Kinder wurden dann zu Nachbarn geschickt. Wenn wir zurückkamen, hing das Schwein, das wir in unserem Stall gefüttert hatten, an der Leiter. Für den Schlachter stand die Flasche auf dem Tisch. Ich ahnte, dass er so etwas Schreckliches nur tun konnte, wenn er Schnaps getrunken hatte. Das geschlachtete Schwein blieb einen ganzen Tag an der Leiter hängen. Während dieser Zeit kamen Leute, die Merkwürdiges unternahmen: Der Trichinenbeschauer brachte ein Mikroskop mit und untersuchte ein kleines Stück Fleisch des geschlachteten Schweins, manchmal durften wir Kinder auch in das Gerät schauen, was wir sahen, blieb aber uninteressant. Diese Aktion verlief locker, man redete noch eine Weile miteinander und – natürlich - musste ich die Flasche holen.

Aufgeregter sah meine Mutter einem anderen Besuch entgegen. Dass der Erwartete eine große Bedeutung für uns hatte, merkte ich an dem Ablauf des Besuchs. Ihm wurde bald nach seinem Eintreffen, ohne dass er in irgendeiner Weise tätig geworden wäre, der Schnaps geradezu aufgezwängt. In kurzen Zeitabständen kam immer wieder die Aufforderung, noch ein weiteres Glas zu trinken. Erst wenn offensichtlich jede weitere Aufforderung wirkungslos blieb, ging meine Mutter mit dem Besucher auf die Deele, auf der das Schwein hing. Wir Kinder durften nicht mit. Nach gar nicht langer Zeit kam meine Mutter allein zurück, der Besucher hatte sich schon verabschiedet. Meistens schmunzelnd sagte sie mehr zu sich selbst: Das hätten wir wieder geschafft. Erst später habe ich erfahren, was sie denn zufrieden lächeln ließ, worin denn die Last mit diesem Besucher bestand: Er hatte die Aufgabe, das geschlachtete Schwein zu wiegen. Erst wenn das Gewicht festgestellt war, konnte errechnet werden, ob es unserer Familie ganz oder nur teilweise zugebilligt wurde. Je leichter das Schwein befunden wurde, umso größer die Gewähr, dass wir es ganz behalten durften. Der Schnaps sollte den Kontrolleur bewegen, auf das umständliche und mühevolle Wiegen des geschlachteten Schweines zu verzichten, sich statt dessen auf das viel einfachere Schätzen des Gewichtes einzulassen. Wenn der Kontrolleur bereit wäre zu schätzen, gelte ihrer Erfahrung nach: Je mehr Schnaps konsumiert wurde, umso geringer würde das Gewicht des Schweines registriert, so meine Mutter. Wir haben , soweit ich mich erinnern kann, nie etwas von unseren lebenswichtigen Nahrungsmitteln abgeben müssen dank des klug verwendeten Mittels Schnaps.

Nach dieser eher positiven Wirkung des Alkohols lernten wir Kinder bald auch die gefährliche Seite kennen. Gegen Ende des Krieges musste die Produktion der Brennerei eingestellt werden, die Fachleute waren ausnahmslos an der Front, die das Brennen hätten unternehmen können. Die Bäuerin war mit russischen Kriegsgefangenen allein auf ihrem Hof. Ihr wurde angst und bange bei dem Gedanken, dass der noch gelagerte Schnaps bei den bevorstehenden Wirren des Kriegsendes in die Hände der Besatzer fallen könnte. Couragiert fuhr sie mit ihrem Fahrrad zu ihren Nachbarn und den umliegenden Höfen und unterbreitete allen das Angebot, sich doch aus ihrem Schnapsdepot soviel zu holen, wie jeder sicher verstecken könnte. Dieser Aufforderung folgten die Angesprochenen, weil sie ein drohendes Desaster verhindern wollten, aber der Gedanke an die Möglichkeit der beliebigen Selbstbedienung hatte für manche der Abnehmer auch etwas Prickelndes. Es war schon ein großer Unterschied, ob in einem Versteck Kartoffeln und Schinken lagerten oder eben Schnaps in größeren Mengen. Ich wurde zusammen mit einem Nachbarjungen losgeschickt, das geheimnisvolle Getränk zu holen. Wir sollten unseren Bollerwagen für den Transport mitnehmen. Am Meierhof angekommen, stellte man uns zwei Korbflaschen – ich denke, jede fasste ungefähr fünfzig Liter – in den Wagen. Wir packten sie mit Stroh zu, damit niemand sehen konnte, was wir transportierten. Zuhause wuchteten wir mit vereinten Kräften eine Korbflasche auf unseren Strohbalken und versteckten sie tief im Stroh. Die andere brachten wir zum Nachbarn, wir gruben in deren Garten ein Loch, in das wir den fest verschlossenen Behälter versenkten.

Direkt an unserem großräumigen Garten grenzten die Äcker eines Kotten, auf dem eine Familie mit vielen Kindern wirtschaftete. Interessant an dieser Familie war für uns, dass der Vater nicht eingezogen war. Er hatte ein Pferdegespann und einen großflächigen Wagen, auf dem viele Milchkannen Platz fanden, vor der Ladefläche war ein kleines Fahrerhäuschen aus Holz gebaut. Der Kötter, den wir wie die Erwachsenen Joisken nannten, musste am frühen Morgen anspannen und die vollen Milchkannen von den Höfen des Ortes holen, die gegen die leeren vom Vortag ausgetauscht wurden. Er brachte sie zur Molkerei in die Stadt. So gegen zehn Uhr am Vormittag fuhr er mit den ausgeleerten Kannen zu seinem Kotten zurück. Diese Rückfahrt war für uns von einigem Interesse. Wir legten wichtige Besuche oder Besorgungen in der Stadt auf den frühen Morgen – z. B. Kirche oder Arzt. Den Hinweg, etwa fünf Kilometer lang, legten wir zu Fuß zurück, wenn es zeitlich passte und wir uns beeilten, konnten wir Joisken treffen und auf seinem Fuhrwerk nach Hause fahren. Er hielt seine Pferde an, wenn er uns sah, zeigte ohne viele Worte auf die Ladefläche seines Wagens. Wir kletterten dann auf den Wagen, rückten ein paar Kannen zurecht, dass wir neben ihnen Platz fanden, und los ging die Fahrt. Nur bei heftigem Regen durften wir mit in seine Fahrerkabine. Die hatte er mit alten Kissen ausgelegt. Wir konnten uns gut vorstellen, dass er auf der Rückfahrt schlief, die Pferde kannten den Weg, der Kutscher wurde so überflüssig. Das Fuhrwerk kam regelmäßig zum Stehen vor der Gastwirtschaft Bökenhans. Es dauerte oft noch eine Weile, bis Joisken aus seinem Führerhaus kam und ohne Worte im Gebäude verschwand. Er musste wohl erst wach werden. Wir wussten, dass es einen Aufenthalt von mindestens einer halben Stund gab. Wir stiegen also ebenfalls ab und spielten solange auf dem Hof der Gastwirtschaft.

An Joisken entdeckte ich, dass Schnaps süchtig macht. Niemand im Ort wusste, ob er von der Wehrmacht befreit wurde wegen seiner lebenswichtigen Arbeit oder ob er als untauglich, weil abhängig und unzurechnungsfähig, ausgemustert war. Er war jedenfalls bis zum Kriegsende nicht an der Front. Natürlich kam er aus eigenen Interessen dem Angebot nach, das Schnapsdepot in viele Haushalte zu verteilen. Im Ort erzählte man sich, dass er in der Dunkelheit mit seinem großen Milchwagen einen Riesenanteil abgeholt hätte. Man wusste auch zu berichten, dass er bestimmte Stellen auf seinen Äckern markiert habe, an denen jeweils unterirdisch seine Vorräte versteckt waren. So schien die Angst der Bäuerin, auf deren Hof die Brennerei stand, besiegt zu sein, und diesbezüglich kehrte Ruhe ein. Bis zur Wende! Die amerikanischen Panzer drängten Ostern 1945 zunächst das deutsche Militär zurück. Schon acht Tage später wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, und mit Angst und Schrecken wurde die Nachricht verbreitet, deutsche Truppen sammelten sich, um den Feind zurückzudrängen. Aufgeregt fuhren amerikanische Fahrzeuge durch Wege, über Felder und Wiesen. Nach einem für uns undurchsichtigen Plan gruben amerikanische Soldaten schwere Geschütze ein. Ein solches Ungetüm bewegte sich hinter unserem Garten auf Joiskens Feld. Wir sahen gebannt zu und mussten doch lachen, als es in unmittelbarer Nähe eines in die Erde gesteckten Zweiges angehalten wurde. Der Zweig kennzeichnete die Stelle, an der Korbflaschen mit Schnaps versteckt waren. Wir meinten Joisken vor seinem Deelentor sehen zu können, wie er entsetzt dieses Schauspiel verfolgte. Ob die Soldaten wirklich auf den Schatz gestoßen sind, war nachträglich nicht mehr ausmachbar. Beim Verfüllen der zurückgelassenen Grube konnte der Ackerbesitzer später leicht und unauffällig seinen Schatz heben, wenn er denn noch da war. Geredet hat er nie darüber.

Die Praxis des Versteckens durch Eingraben war zu dieser Zeit überall üblich. Weil damit schwere Arbeit verbunden war, beauftragten oft unbedacht Bauersfrauen ihre russischen oder polnischen Helfer mit dieser Arbeit. Gleich nach der Ankunft der Amerikaner schlossen sich die ausländischen Helfer in der Landwirtschaft zusammen, zogen marodierend umher, nahmen sich, was sie wollten. Immer wusste einer aus der plündernden Gruppe besonders gut Bescheid, dann nämlich, wenn es sich um den Hof handelte, auf dem er über Jahre gearbeitet hatte. Besonders einfallsreich beim Rauben und Zerstören waren die, denen das Leben während ihrer Gefangenschaft besonders schwer gemacht worden war. Ihnen bereitete es Vergnügen, die Hofbesitzerin an den Ort zu führen, an dem sie wertvolles Gut vergraben mussten. Ihr wurde ein Spaten in die Hand gedrückt, mit dem sie vor den Augen der versammelten ehemaligen Gefangenen ausgraben musste, was nicht in deren Hände fallen sollte. Der maßlose Schnapskonsum, der sich dem Auffinden von versteckten Korbflaschen anschloss, führte oft zu unmenschlichem Verhalten. Es trat genau das ein, was die Inhaberin der Brennerei ursprünglich verhindern wollte.

Unsere Korbflasche mit Schnaps blieb im Stroh unentdeckt. Eine Meute ehemaliger Gefangener kam zu uns am frühen Morgen. Möglicher Weise schien ihr nach durchzechter Nacht ein ordentliches Frühstück angebrachter als noch mehr Schnaps. Vielleicht zehn Leute suchten auf unserem Hof herum, müde, wie wir aus sicherer Position im Haus erkennen konnten. Sie fanden unseren Hühnerstall, in dem nachts die Hühner eingesperrt waren, schon um sie vor Habicht und Fuchs zu schützen. Als einer der Männer die Klappe für den Ausgang entdeckte und öffnete, kamen unsere Hühner wie gewohnt der Reihe nach aus ihrem Stall ins Freie. Sie wurden eingefangen und in einen Sack gesteckt. Eins konnte davonfliegen, als die Aufmerksamkeit des Hühnerfängers nachließ. Der Verlust der Eierlieferanten in einer Zeit, in der Hunger zum Alltag gehörte, traf uns hart. Sicher wäre der versteckte Schnaps leichter zu entbehren gewesen. Wir mussten hinnehmen, was uns zugefügt wurde, ohne dass wir auch nur die geringste Möglichkeit gehabt hätten, uns zu wehren. Wir trösteten uns mit der nüchternen Feststellung, dass der Verzehr unserer Hühner keine so unberechenbare und gefährliche Nachwirkung haben konnte wie das Trinken des im Stroh versteckten Alkohols.

Ich erinnere mich, dass die Geschwister meiner Mutter uns je ein Huhn brachten als Ersatz für die geraubten. So hatten wir mit dem geretteten eine bunte Schar von acht Hühnern, die uns wieder mit Eiern versorgte. Die versteckte Korbflasche mit Schnaps geriet in Vergessenheit. Als wir den Balken herrichten mussten für die neue Strohernte, entdeckten wir eine Schneise im verbliebenen Stroh, die direkt zur Korbflasche führte. Sie war leer. Dafür gab es nur eine Erklärung: In den langen Zeiten des Fliegeralarms suchten viele Leute Zuflucht in unserem Luftschutzkeller. Sobald die Luft rein war, verließen wir den engen Keller, um durchatmen und uns freier bewegen zu können. Wir Kinder liefen dann auf unseren Hof und spielten. Einige Erwachsene waren sehr interessiert an unseren Schweinen. Ihr Umfang musste alle paar Tage mit einem Metermaß kontrolliert werden, so konnte festgestellt werden, ob und wie viel sie zugenommen hatten. Über den Gang im Schweinestall konnte man aber auch leicht auf den Strohbalken gelangen..... Vielleicht hat der Alkohol damals Ängste genommen oder Aggressionen gedämpft, ohne dass wir es gemerkt hätten. Es blieb dabei: Der Schnaps behielt für uns Kinder etwas Geheimnisvolles, er konnte gefährliche Situationen hervorrufen, er konnte auch besänftigen und lustig machen.

 

DIE ERBEN

Einen Kotten zu besitzen in der Kriegs- und Nachkriegszeit erleichterte das Überleben erheblich. Die später wieder aufkommende Bezeichnung „Quälkotten" verdeutlicht die veränderte Lebenssituation, in der schwere körperliche Arbeit als Last und aufkommender technischer Fortschritt als Befreiung verstanden wurde. Der Kotten in der Kriegs- und Nachkriegszeit blieb überschaubar im Vergleich zum großen Bauernhof, überschaubar auch für die Köttersfrau, die neben ihren Familienaufgaben im Haus auch im Stall und draußen auf den Feldern zu arbeiten hatte, denn die wenigen Morgen Land brachten auch nur für wenig Vieh das nötige Futter. Und als die Männer noch nicht in den Krieg gezogen waren, arbeiteten sie für den Unterhalt ihrer meist großen Familien tagsüber in den naheliegenden Fabriken. Ihre Frauen waren insofern daran gewöhnt, teilweise zu wirtschaften in Eigenverantwortung und Eigenregie, so dass der Kriegsdienst der Männer zwar eine schwere zusätzliche körperliche und seelische Belastung der Frauen darstellte, in die sie aber schon eher eingeübt waren. Vergleichsweise gut waren die Kötter gestellt, in deren Häusern noch alte Eltern oder Schwiegereltern wohnten. Sie konnten, soweit es ihre gesundheitliche Verfassung noch zuließ, leichtere körperliche Arbeiten verrichten oder auch nur Hinweise geben auf notwendige Arbeiten, Tipps für eine günstigere Handhabung von Maschinen und Geräten und zeitaufwendige Besorgungen machen.

Meine Eltern stammten beide von einem Kotten. Es gab Unterschiede in ihrer Größe, die auch damals schon ausschlaggebend für die soziale Stellung der Inhaber war. Aber es handelte sich in beiden Fällen um Kotten, nicht etwa um Bauernhof und Kotten, was die Ebenbürtigkeit meiner Eltern möglicher Weise in Frage gestellt hätte. Meine Mutter war das jüngste von acht Geschwistern, ihr Vater war schon gestorben, als sie noch Kind war. Den Kotten hatte längst einer ihrer Brüder übernommen, der in seinem Hauptberuf bei der Reichsbahn beschäftigt war. In der Kriegszeit musste seine Frau, meine Tante, allein für Haus und Hof und Kinder sorgen. Anders sah die Situation im Geburtshaus meines Vaters aus. Er war der älteste Sohn, galt also als der Erbe seines elterlichen Kotten, konnte aber nach seiner Heirat nicht sofort mit seiner Frau einziehen; das doch recht kleine Kötterhaus bot nicht Platz für meine Großeltern mit ihren nach meinem Vater noch zehn Kindern. Er wollte warten mit der Übernahme seines Erbes, bis seine jüngeren Geschwister aus dem Haus waren. Zum Kriegsdienst wurde mein Opa wegen seines Alters nicht eingezogen. Er konnte also mit Hilfe seiner Frau und der heranwachsenden Kinderschar den Kotten verwalten.

Meinen Eltern bot sich für die Zwischenzeit ein günstiges Wohnangebot. In der näheren Umgebung zum väterlichen Kotten baute ein Onkel meines Vaters auf einem zwei Morgen großen Grundstück ein Wohnhaus. Es sollte nicht sehr groß werden, lediglich für ihn und seine Frau Platz bieten, Kinder hatten sie nicht. Beide starben innerhalb eines Jahres, noch bevor das Haus fertiggestellt war. Das Anwesen erbte ein sechzehnjähriger Neffe, das Patenkind des verstorbenen Großonkels. Die Eltern des Erben hätten meinem Vater das Angebot gemacht, wenn er das Haus zuende bauen würde, könne er es mit seiner Familie zu einem günstigen Mietpreis bewohnen, bis der Erbe einmal heiraten und es dann selbst für sich in Anspruch nehmen würde. Bis es soweit wäre, hätten sich seine Geschwister meines Vaters sicher auch auf eigene Füße gestellt und den elterlichen Kotten verlassen, so dass dann Platz für ihn und seine Familie wäre und einem Umzug nichts mehr im Wege stünde. So, sagte mir meine Mutter später, wäre geplant und entschieden worden. Beim Einzug in das neue Haus sei ich ein Jahr alt gewesen.

Meine ersten Erinnerungen beziehen sich auf dieses Haus, das schnell unser Haus wurde, nicht im juristischen Sinn. Ein Jahr nach unserem Einzug begann der zweite Weltkrieg. Der Erbe und Besitzer unseres Anwesens war von Anfang des Krieges an Soldat, er fiel schon 1942. Sein Besitz fiel an seine Eltern, die noch weitere vier Kinder hatten. Für uns änderte sich zunächst nichts. Ende 1943 wurde mein Vater Soldat, er war bis zu diesem späten Zeitpunkt reklamiert, weil er in einer Munitionsfabrik arbeitete. Er fiel achtzehn Monate später an der Oder. Unsere Lebensplanung zerbrach.

Nach schweren inneren Auseinandersetzungen und vielen Überlegungen und Gesprächen verzichtete meine Mutter endgültig auf das von ihrem verstorbenen Mann überkommene Erbe. Sie begründete diesen Schritt mit ihren wichtigen Argumenten: Sie sei fremd in der Familie ihres verstorbenen Mannes ohne ihn. Sie fühle sich nicht stark genug, allein mit ihren drei unmündigen Kindern die schwere Arbeit auf dem Kotten ihres Mannes zu leisten, Hilfe von ihrem einzigen Sohn könne sie erst nach Jahren erwarten, wenn er herangewachsen sei, die Zeit sei ihr zu lang. Die Erwartung vor allem ihres alternden Schwiegervaters an sie als Erbin sei zu hoch, er habe ein Leben lang in verschiedenen Bereichen gleichzeitig geschuftet, in der Familie, auf seinem Hof und in seinem Beruf als Zuschneider von Bauholz, daraus ergäben sich Maßstäbe, die sie überforderten. Schließlich seien seine Söhne außer ihrem Mann mehr oder weniger gesund aus dem Krieg zurückgekehrt, so dass männliche Erben zur Verfügung stünden. Ihre Entscheidung wurde schließlich akzeptiert. Wir blieben als Mieter in dem Haus wohnen, das mein Vater von seinem Onkel übernommen und fertig gebaut hatte, das bei dessen Tod in den Besitz seines Neffen übergegangen war, der im Krieg fiel, wodurch das Anwesen an seine Eltern überging.

Wie zu erwarten, stellte die Besitzerfamilie, nachdem ihre Kinder erwachsen, die Söhne aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren, Ansprüche an das Haus, in dem wir wohnten. Eine einigermaßen familiengerechte Ersatzwohnung zu finden, war aussichtslos. Die aufs Land geströmten Massen der Bombenopfer und Vertriebenen hatten den letzten noch eben bewohnbaren Raum belegt. Es gab nur noch die Möglichkeit des Zusammenrückens. Und so arrangierten wir uns, machten Zimmer frei und bauten den Dachboden aus. Die so zustande gekommene Behelfswohnung wurde bezogen von einem älteren Bruder des Erben und Patenkindes des Erbauers unseres Hauses mit seiner jungen Frau. Sie brachten ein angenommenes Kind mit, das in den Kriegswirren die Eltern verloren hatte. Der Mann, der so das Erbe seines verstorbenen Bruders antrat, war erst vor einem Jahr aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Er arbeitete als Weber in einer Fabrik, war aber sehr viel krank. Meine Mutter sagte, er habe in Stalingrad einen Knacks bekommen. Ich konnte mit diesen Begriffen noch nichts anfangen. Obwohl dieser Mann, den wir Onkel nannten, in sich gekehrt und zurückhaltend lebte, konnte ich mich doch immer mehr mit ihm anfreunden. Von ganz großem Interesse war für mich seine rechte Hand, die er nicht öffnen konnte, deren Finger in ständiger Krümmung verblieben. Mein ständiges, wahrscheinlich nervendes Fragen nach den Ursachen hat sich gelohnt. Er erzählte aus seinem umfangreichen Erleben eine kleine Episode, kindgerecht und so anschaulich, dass ich sie bis heute im Gedächtnis habe und sie mit dem Wort Stalingrad eng verbunden bleibt.

Er habe eine letzte Chance gesehen, aus dem Kessel von Stalingrad zu kommen. Bei eisiger Kälte musste er, wenn er noch ausbrechen wollte, einen reißenden Fluss durchwaten. Schuhe und Strümpfe habe er ausgezogen, um sie möglichst trocken ans andere Ufer zu bringen. Die aufgekrempelten Hosenbeine sollten nicht nass werden, und so habe er sie mit den Händen hochgezogen. Trotz größter Vorsicht sei ihm das nicht gelungen. Das Wasser sei ihm fast bis zur Hüfte gestiegen. Mit seiner rechten Hand habe er weiter sein Hosenbein hochgezogen, reflexartig, ohne dass es noch von Nutzen gewesen sei. Mit der linken habe er Schuhe und Strümpfe über Wasser zu halten versucht. Seine Füße und Beine seien nur teilweise erfroren, er könne sie inzwischen wieder fast normal gebrauchen. Seine rechte Hand sei nicht zu retten gewesen. Die Kälte hätte ihre Wirkung tun können, weil diese Hand nicht bewegt worden sei. So trage er ein für alle sichtbares Andenken an die große deutsche Katastrophe mit sch herum.

Wir haben mit großer Anstrengung und mit viel Hilfe aus unserer Umgebung bald nach der Währungsreform ein kleines Haus gebaut. So hat meine Mutter einen Ort geschaffen, von dem sie sagen konnte, es ist mein und meiner Kinder Zuhause. Es erfüllte sie mit Stolz und Genugtuung, dass sie sozusagen ein ebenbürtiges Ersatzerbe geschaffen hat für den Kotten, dessen Besitz für sie nach dem Tod meines Vaters sinnlos, sogar unmöglich wurde. Den Erben mit seiner Familie, der als Ersatzerbe das Haus bewohnte, in dem ich groß geworden bin, habe ich aus den Augen verloren.

Seitdem ich das Grab meiner Mutter alle paar Monate besuche, lege ich auf dem Weg dorthin regelmäßig eine kurze Pause ein vor einem alten Grabstein: Auf ihm steht der Name, das Geburts- und Todesdatum unseres Ersatzerben. Ich vermisse das Wort Stalingrad. Ich errechne mir sein Lebensalter, er ist jung gestorben. Sein Todesdatum sagt, dass er nur wenige Jahre Stalingrad überlebt hat: noch ein Erbe und Opfer des Krieges. Ich weiß nicht, wer sein Erbe übernommen hat, vielleicht sein angenommenes Kind, das seine Eltern im Krieg verloren hat.

KRIEGSVERSEHRTE

Seit Mutters Tod nutze ich jede Gelegenheit, über den Friedhof zu gehen, auf dem sie begraben liegt. Ich kenne das verzweigte Wegenetz wie einen Stadtplan, statt an Straßennamen orientiere ich mich an Grabsteinen, auf denen ich die Namen von Bekannten, Verwandten und früheren Nachbarn finde. Und mit jedem Namen, der sich mir einprägt, verbindet sich eine Geschichte. Noch nach Kriegsende haben wir Kinder auf diesem Platz gespielt, er war nur wenig bewachsen mit niedrigem Kiefergehölz zwischen trockenen Sandgruben, er stellte kein lohnendes Objekt für die Bauern dar, weil der Boden zu karg war. So entschloss sich die Gemeinde Spexard, nachdem in ihr eine Kirche aus einer Militärbaracke erbaut war, hier einen Friedhof einzurichten. Ich kann mich noch gut erinnern an die erste Beerdigung auf diesem Platz.

Es kann  passieren bei meinen Erinnerungsgängen, dass ein Name auf einem Grabstein mich Stunden oder sogar Tage gefangen nimmt, um ihn rankt sich ein Kranz von Erlebnissen, an die ich mich wieder erinnere, die mir wieder lebendig und handgreiflich vor Augen treten. Ich merke z. B., dass ich vor einem Grabstein stehen geblieben bin, der eingemeißelte Name ist Vehikel. Ich sehe mich mit dem Fahrrad meines Vaters zur Mühle fahren. Den großen Sattel habe ich abgeschraubt, weil er mir im Wege ist, ich komme mit meinen kurzen Beinen gerade über die Stange des 28“-Herrenrades. Das kleine flache Sättelchen, auf dem ich saß, wenn mein Vater mich mitnahm, habe ich soweit wie möglich auf der Querstange nach hinten geschoben. So kann ich sitzend gerade ans Pedal des Rades kommen. Auf dem Gepäckträger habe ich einen Sack mit vielleicht 20 kg  „heilen“ Roggen, den meine Mutter sich bei ihren früheren Nachbarn mit mittelgroßen Bauernhöfen erbettelt hat. Ich soll diesen Sack Roggen zum Müller bringen, zu dem, vor dessen Grab ich stehe. Der soll diesen Roggen mahlen. Ich werde das Roggenmehl nach ein paar Tagen abholen und zum Bäcker bringen (einem Vetter meines Vaters, eine neue Geschichte), der den Mehlsack mit unserem Namen versieht und für uns für ein paar Groschen von diesem Mehl Brot backt, das ich zweimal in der Woche wieder mit dem Fahrrad abhole, bis er oder seine Frau mir sagen muss, dass das Mehl aufgebraucht ist, d. h. wenn meine Mutter nicht neues Korn „organisiert“, müssen wir das klebrig-süßliche Maisbrot essen oder uns mit Kartoffelpuffer begnügen.

Die Erwachsenen sagen, der Müller hat einen Arm im Krieg verloren. Wenn ich auch erst sieben Jahre alt bin, so weiß ich doch, dass man einen Arm nicht so verlieren kann wie ich manchmal die Einkaufstasche vom Gepäckträger. Wenn ich den einen Ärmel des Müllerkittels leer herunterhängen sehe, das untere Ende in die Seitentasche gesteckt, dann muss ich an zerschossene Knochen und Hautfetzen denken, an Schreien vor Schmerzen, an Verbandsplätze mit Operationstischen, an Messer und Sägen (ich habe einmal mit meiner Mutter meinen verwundeten Vater im Lazarett in Hameln besucht, er hatte einen Oberschenkeldurchschuss. Er hat auf Drängen meiner Mutter sein zerschossenes Bein aufgedeckt und mit wenigen Worten das Geschehen beschrieben, ich habe davon nur einen Bruchteil gehört oder verstanden.) Ich sehe mich, wie ich befangen vor Mitgefühl ihm nicht zuviel Arbeit mit meinem Korn aufhalsen will, ich will es selber in die Mühle tragen und wenn ich weiß, wohin, auch selber ausschütten, um ihm sicher schmerzhafte Anstrengung zu ersparen. Und dann sehe ich, wie er leichtfertig den Sack nimmt, ihn auf eine Sackkarre wirft und mit ihr durch die schmalen Gänge fährt – mit einem Arm, obwohl doch die Karre mit zwei Griffen auch für zwei Hände gebaut ist.

Mein Mitgefühl rückt in dem Maße in den Hintergrund, in dem meine Bewunderung  für seine ungeheure Kraft und seine Geschicklichkeit wächst. Ich verliere meine Befangenheit ihm gegenüber. Meine Aufenthalte in der Mühle werden immer länger, es gibt unendlich viel Interessantes zu beobachten, das Mahlwerk wird vom Wasser des Ölbachs getrieben, ich darf überall nachschauen und nachfragen, er erklärt mir die Zusammenhänge, so dass ich sie verstehen kann. Eine Bitte hat er mir nicht erfüllt: Ich muss immer wieder bewundern, wie er mit nur einer Hand einen Sack zubinden kann. Er macht das so schnell, dass ich den Vorgang nicht nachvollziehen kann. Er soll das mir zuliebe einmal ganz langsam machen, aber das will oder kann er nicht.

Ich hänge mit meinen Gedanken am Wort „kriegsversehrt“ fest, und schon fällt mir Clemens ein, Clemens Kötter. Ich gehe zu seinem Grab, das einige Wege entfernt liegt. Clemens ist unser Nachbar, 1912 geboren, lese ich auf seinem Grabstein, er ist Kriegsteilnehmer von Anfang an. Er wohnt jetzt wieder mit seiner Mutter und den Geschwistern in einem Nachbarhaus. Ich kenne ihn als „Krüppel“,  ihm sind in Russland beide Beine abgefroren, ein Bein ist über dem Knie, eins direkt unter dem Knie amputiert. Wir beobachten, wie seine Mutter, eine scheue Frau, ihn im Bollerwagen zum Arzt zieht, fünf Kilometer ein Weg. Sie tut das frühmorgens, wenn möglichst wenig Leute es sehen, sie schämt sich, dass sie einen Krüppel zum Sohn hat. Aber Clemens ist nicht scheu. Er lässt sich nicht hängen. Ein bekannter Tischler hat ihm Krücken gebaut. Je zwei stabile Holzlatten hat er am unteren Ende verschraubt, die oberen Enden hat er gespreizt, damit kurze Querleisten waagerecht eingefügt und befestigt werden können, auf sie kann er sich mit den Achseln hängen. Etwa auf halber Länge sind noch mal kurze Querleisten verschraubt für das Aufstützen der Handballen. Sie kann er auch mit seinen Fingern umfassen und so die Krücken bewegen. Sie sind passend zu seiner früheren Körpergröße auf Länge geschnitten. Ich sehe ihn auf den Krücken hängen, an eine Wand gelehnt,  aber er kann sie nicht vorwärts bewegen, weil kein Fuß vorhanden ist, auf den er sein Körpergewicht während es Verstellens der Krücke verlagern kann. Mühsam versucht er seinen Körper an die Wand zu lehnen, wenn er eine Krücke verstellt. So ist eine Fortbewegung nur meterweise möglich.

Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen ist von seinem ersten Üben mit den Krücken bis zu dem Vormittag, an dem er schweißüberströmt auf unserem Hof stand. Wohlgemerkt: Er stand und war offensichtlich nur mit eigenen Kräften zu uns gegangen, einen Weg von immerhin dreihundert Metern. Wir mussten ihm helfen bei seinem Bemühen, sich auf unsere Gartenbank zu setzen. Er hatte nicht nur auf seinen Krücken gehangen, er hatte sich auch auf Beinen und Füßen aus Eisen abstützen können mit diesem Ergebnis, auf das er ganz offensichtlich trotz seiner Erschöpfung stolz war. Ich sehe ihn eine Tasse „Muckefuck“ trinken, die meine Mutter ihm gebracht hat. Er hat überhaupt keine Hemmungen, uns seine neue Errungenschaft vorzuführen.

Der Sohn eines weiteren Nachbarn ist bei einem Schmied in der Lehre. Er hat ihm dieses Meisterwerk von Beinen und Füßen aus Flach- und Rundeisen zusammengeschweißt. Er zeigt uns die eisernen Rundungen, in die genau seine Beinstümpfe passen, berücksichtigt wurde die Polsterung, damit nichts scheuert. Seine Mutter hat sie aus Stoffresten gemacht. An diese Rundungen sind Rundeisen geschweißt, an sie wieder Eisenplatten, die die Füße ersetzen sollen, sie sind im vorderen Drittel  leicht gebogen, damit der „Fuß“ beim Gehen besser abrollen kann. Die Länge der Eisenbeine und –füße ist genau der Amputationshöhe angepasst, also unterschiedlich, so dass der „Krüppel“ wieder wie ein normal großer, gerade gewachsener Mensch auftreten kann. Rollladengurte von unterschiedlicher Länge sind so an den eisernen Rundungen befestigt, dass sie über Schultern und am Hosengurt getragen werden können. Sie halten den Bein- und Fußersatz auf den Stümpfen fest und ermöglichen so erst eine Vorwärtsbewegung.

Wenn ich mir die Situation jetzt vergegenwärtige, fällt mir auf, dass die Freude über eine Bewegungsmöglichkeit ohne jede fremde Hilfe Gedanken an Ursachen und Gründe für dieses ganz und gar unmenschliche Geschehen verdrängte und in Vergessenheit geraten ließ.  Ich habe nie gefragt, wo genau und unter welchen Umständen denn dieses Erfrieren stattgefunden hat. Ich war stattdessen versessen darauf zu beobachten, wie Clemens es mit ungeheurer Energie und Ausdauer schaffte, sich - zumindest äußerlich - vom hilflosen Krüppel zum unauffälligen, normalen Menschen zurückzuentwickeln.

Clemens kam in der Folgezeit oft zu uns. Er saß immer draußen auf der Bank, Stufen und Treppen machten ihm wohl noch große Schwierigkeiten. Er erzählte viel – aber nie vom Krieg und den Folgen für ihn. Dann passierte etwas, was ich damals überhaupt nicht verstehen konnte. Eine unbedachte oder aber bösartig – hinterhältige Bemerkung einer Bekannten meiner Mutter gegenüber störte das unbefangene Vertrauensverhältnis: Jetzt hast du ja einen neuen Verehrer!  Selten habe ich meine Mutter so verletzt und wütend gesehen wie nach dieser kurzen Bemerkung, und ich stand nur dumm und hilflos dabei. Ich weiß auch heute noch nicht, was neben seinem offensichtlichen Stolz  über seine zurückgewonnene Selbstständigkeit in Clemens vorgegangen ist, was meine Mutter so fassungslos gemacht hat. Wir haben nie darüber geredet. Meine Mutter war 37 Jahre alt, als ihr Mann starb. Warum hat sie nicht wieder geheiratet? Sie hat es mir nie gesagt, und ich habe sie nie gefragt. Vielleicht hatte ich Angst vor der vermuteten Antwort: Ich wollte ganz für euch Kinder da sein! Wer denkt schon gern, dass er dem möglichen Glück eines lieben Menschen im Wege gestanden hat? (wieder eine neue Geschichte)

Clemens kam weiterhin, aber seltener, meine Mutter blieb im Haus, wenn er auf der Gartenbank saß. Er hatte auch weniger Zeit, denn es gab neue Errungenschaften: Er bekam einen Stuhl auf Rollen. Seitlich vom Stuhl waren Hebel, die mit den Armen hin und her bewegt werden konnten, die Kraft übertrug sich auf ein Getriebe, das die hinteren Räder des Stuhls antrieb. Er konnte also allein kilometerweit fahren und er fuhr schnell und übermütig, er konnte fast mithalten, wenn wir ihn mit dem Fahrrad begleiteten. Und es gab wieder neue Überraschungen: Er kam stolz mit seinem Rollstuhl auf unseren Hof gefahren, stand auf, und wir sahen sofort, dass die Eisenplatten verschwunden waren und richtige Schuhe – blankgeputzt – zum Vorschein kamen. Er trug Prothesen, mit denen er bald – nur auf einen Stock gestützt – losmarschieren konnte. Bevor wir in einen anderen Ortsteil von  Spexard zogen, bekamen wir noch mit, dass er mit anderen aus der Gegend auf einem normalen Fahrrad zur Arbeit fuhr.

Dann hörten wir, dass er geheiratet hätte und in die obere Wohnung des Hauses einer uns bekannten Familie gezogen sei. Hier traf ich ihn noch ein paar Mal, einmal kletterte er gerade auf Händen und Beinstümpfen die Treppe herauf. Er hatte Feierabend und war zu Hause, also hatte er seine Prothesen „ausgezogen“ wie wir unsere Schuhe. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Er ist – wie meine Mutter – 1997 gestorben, wie der Grabstein ausweist.

Ich stehe an einem anderen Grab, es liegt in unmittelbarer Nähe zum Grab meiner Mutter, ganz am Rande des Friedhofs. Auf ihm steht ein kleiner, unauffällig dunkler Stein, und ich denke, er passt zu ihm, zu Anton Brummel, einem Vetter meines Vaters. Obwohl er auf den ersten Blick körperlich heil, wenn auch erst 1947, aus russischer Kriegsgefangenschaft heim kehrte, sagen die Erwachsenen von ihm, er habe einen „Knax“ bekommen. Wir haben etwa vier Jahre mit ihm, seiner Frau und deren Adoptivsohn in einem Haus gewohnt, er ist so zurückgezogen und in sich gekehrt, dass ich nur ganz selten mit ihm ins Gespräch komme. Und wenn es dann mal geschieht, dann habe ich das Gefühl, er verschweigt, was er wirklich denkt und fühlt. Er hat ein körperliches Handicap, das man so schnell nicht wahrnehmen kann, von dem ich weiß und auf das ich schauen muss, wenn ich ihn sehe. Es scheint mir der Schlüssel zu seiner eigentlichen Krankheit zu sein, so dass ich ihn instinktiv zu den Kriegsversehrten zähle, die ich kenne. Seine linke Hand ist geschlossen, er kann sie nicht öffnen. Neugierig frage ich ihn immer wieder nach der Ursache dieser Eigentümlichkeit, die ihm im Alltag sehr hinderlich ist, weil er alle Arbeiten einhändig verrichten muss. Ich will nicht sein Unbehagen sehen, das meine Quengelei in ihm auslöst. Dann erzählt er doch – unerwartet - von seiner Not in Stalingrad, wie er vor der Entscheidung steht: entweder er wird in den Kessel eingeschlossen oder er muss bei eisiger Kälte einen Fluss durchwaten. Er riskiert den Ausbruch, bereitet sich sorgfältig vor, zieht Schuhe und Strümpfe aus, krempelt die Hosenbeine auf, damit sie möglichst nicht nass werden. Im Fluss merkt er, dass das Wasser seine aufgekrempelten Hosenbeine erreicht. Er hält sein Gepäck nur auf dem rechten Arm, mit der linken Hand versucht er die Hosenbeine hochzuziehen. So verbleibt diese Hand  ohne Bewegung für längere Zeit im eiskalten Wasser. Er überwindet zwar dieses Hindernis, kann aber seine linke Hand nicht mehr bewegen, sie ist erfroren.

So wie seine Hand ist er innerlich erfroren, so wie er seine Hand nicht mehr öffnen kann, ist es ihm nicht mehr möglich, sich seinen Mitmenschen gegenüber zu öffnen. Er ist krank in sich verschlossen, bleibt in seinem Leben behindert und stirbt – viel zu früh – 1963 zu einer Zeit, in der wir, die Allgemeinheit, über unseren Wohlstand die Folgen des Krieges längst vergessen oder verdrängt haben. Von seinen 49 Lebensjahren hat er acht Jahre im Krieg und in Gefangenschaft verbracht. Für wen eigentlich?

Später in der Schule habe ich eine Reihe von kriegsversehrten Lehrern erlebt. Wenn ich mich zu erinnern versuche, fallen mir als erste die ein, die wie unser Müller oder Clemens mit ihrer Behinderung „normal“ zu leben versuchten. August K. war unser Turnlehrer, beinamputiert und Protheseträger spornte er uns zu sportlichen Leistungen an. Wenn wir nicht alles gaben, was wir „drin hatten“ oder wenn wir uns zu dumm anstellten, machte er uns den Aufschwung am Reck vor mit der Bemerkung: Das kann sogar ich noch! Sein Hosenbein rutschte bei seiner Übung hoch und gab den Blick auf die Mechanik seiner Prothese frei. Er war in unseren Augen ein guter Lehrer. Ich kann mich an Lehrer erinnern, die ihre Behinderung zu verstecken suchten, die vor uns Schülern nicht zugeben konnten, dass sei behindert sind. Wie offen und ehrlich sie sich selbst gegenüber waren, blieb uns verborgen. Ungern erinnere ich mich an Lehrer, die mit der Welt und ihrer Umgebung haderten, weil sie das Unglück einer bleibenden Verletzung getroffen hatte. Für sie waren wir oft die „Unterbelichteten“,  für die Mühe und Geduld aufzuwenden verlorene Liebesmüh´ bedeutete. Sie wurden nicht fertig mit ihrem schweren Los. Statt diese verständliche Unfähigkeit in sich zu vergraben – wie Anton Brummel es versuchte – äußerte sie sich in verletzendem Zynismus. Sich als Schüler zu wehren, war gefährlich, weil damit der Prozess verstärkt und beschleunigt wurde. Eine Kommunikation wurde so unmöglich. 

Wir Kinder erlebten so die Folgen des Krieges mit auch insofern, als wir Schicksale von uns nahe stehenden Menschen und ihre Bewältigung beobachteten. Je näher uns Menschen kamen, die offensichtlich oder erst bei näherem Hinsehen erkennbar an Folgen des Krieges litten, um so schmerzlicher war es für uns, die für viele vergeblichen Versuche ihrer Bewältigung zu beobachten, um so erfreuter und mit Spannung  registrierten wir das erfolgreiche Bemühen vieler Kriegsversehrter, mehr oder weniger normal mit den Folgen zu leben.