Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Josef

 

DIE ONKEL

Ich hatte viele Onkel, ich müsste mir große Mühe geben, wenn ich die vielen Brüder meines Vaters und meiner Mutter namentlich aufzählen sollte. Zudem wurden in unserer Familie unterschiedslos auch die Männer der Schwestern von Vater und Mutter mit Onkel tituliert, jedenfalls von den Nichten und Neffen, so dass sich die Zahl der Titelanwärter noch einmal verdoppelte. In diesem Zusammenhang muss ich noch eine dritte Gruppe nennen: Sie bestand aus den männlichen Bekannten der Familie und unseren Nachbarn. Die zuletzt Genannten waren Onkel einer besonderen Art, mit dem Titel wurde der Hausname verbunden, während die verwandten Onkel mit Vornamen angesprochen wurden. Diese Regelung war eingeübt, ihre Anwendung bedurfte keiner Überlegung.

Für mich gab es wichtigere Unterscheidungsmerkmale, und zwar quer durch alle Onkelgruppen. Es gab für mich z. B. Autoritätspersonen, die ich als solche akzeptierte oder akzeptieren musste, wenn ich sie – wenn auch widerwillig - Onkel nannte. Daneben nannte ich andere gern Onkel, weil ich mit diesem Wort eine Verbundenheit und Zugehörigkeit ausdrücken wollte. Ich fand es sehr schade, dass beide Onkelgruppen mit einem gleichlautenden Titel angesprochen werden mussten. Ich traute mich aber auch nicht, in Onkel und lieber Onkel zu unterscheiden. So blieb die unterschiedliche Wertschätzung meiner vielen Onkel mein Geheimnis.

Onkel Th. war wohl der Älteste der Onkel aus der Verwandtschaft, er war der Mann der ältesten Schwester meiner Mutter. Aber nicht deswegen will ich von ihm erzählen, vielmehr weil er mir als ein eigentümlich sympathischer und deshalb bedenkenswerter Mensch erschien. Meine ersten Erinnerungen beziehen sich auf seine Besuche etwa im Abstand von sechs bis acht Wochen. Er kam morgens sehr früh mit dem Fahrrad aus seiner Bauerschaft, die vielleicht zehn Kilometer von uns entfernt lag. An beiden Seiten des Lenkers hingen vollgestopfte Stofftaschen. Er brachte uns regelmäßig etwas sehr Wertvolles in der Zeit vor und nach Kriegsende: z. B. eine geräucherte Mettwurst, einen Schweinebraten, ein Stück Schinken und einen Beutel voller Roggenkörner. Er war zu alt für die Wehrmacht, konnte aber noch seinen kleinen Kotten bewirtschaften, der ihm die unbezahlbaren Schätze einbrachte. Ich weiß nicht, ob er oder seine Frau, also meine Tante, treibende Kraft war, wenn es darum ging, uns von diesen Schätzen etwas abzugeben, beide waren sie einfühlsam und großzügig ohne jedes Aufsehen, das steigerte sich noch, nachdem wir wussten, dass mein Vater nicht aus dem Krieg zurückkommen würde.

Er kam also verlässlich, beizeiten am Morgen, meine Mutter machte ihm ein Frühstück, und er erzählte uns von Haus und Hof und von seiner Familie. Ich ging noch nicht lange zur Schule und hörte dem Reden als i-Männchen nicht besonders aufmerksam zu. Es mischte sich aber in seine Erzählung etwas, das seine persönliche Einstellung deutlich werden ließ, das über die enge private Welt hinausging – und das spürte ich. Es war für uns Kinder ungewöhnlich, dass in unserem Beisein sich jemand ereiferte, schon gar nicht in politischen Fragen. Onkel Th., der gutmütige Onkel, der es nicht nötig hatte, sich schablonenhaft anzupassen, sagte beim Frühstück laut und überzeugt, dass Hitler ein Mörder sei und dass zu viele ihm naiv und gutgläubig 1933 die Stimme gegeben hätten. Das hatte noch niemand in unserem Beisein gesagt. Ich fing an, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem unnatürlichen Tod meines Vaters und dem Mörder Hitler.... Eilfertig schickte mich meine Mutter zur Schule. Wir hatten einen langen Schulweg zu fuß zurückzulegen und konnten erst in die zweiklassige Volksschule, wenn die älteren Schüler ihren Unterricht beendet hatten. Spielend und redend mit den Nachbarkindern hatten war schon fast unser Ziel erreicht, als ich völlig überraschend von meiner Mutter angesprochen wurde. Sie stand mit rotem Kopf neben ihrem Fahrrad, froh, mich noch vor der Schule erreicht zu haben. Sie rief mich zu sich und redete erst auf mich ein, als sie sicher war, dass niemand uns hören konnte: Du darfst niemandem sagen, was Onkel Th. uns erzählt hat. Du musst es mir versprechen! Ihre noch zu spürende Erregung und ihre Ernsthaftigkeit beim Reden ließen mir keine andere Wahl, als ihr mein Versprechen zu geben. Gut, sagte sie, dann lauf, dass du die anderen noch einholst. Sie kehrte sich um und fuhr zurück. Ich hatte es nicht eilig, die anderen zu treffen, so verwirrt war ich. Wie lange würde es dauern, bis ich das alles verstehen lernte?

Nach der Schule zeigte meine Mutter zunächst echte Freude über die vielen guten Gaben ihres Schwagers, aber er sollte doch nicht soviel über Politik reden, sagte sie, offensichtlich um mir ihr Verhalten vom Vormittag zu erklären. Ich bemerkte ihre Hilflosigkeit, und als ob sie sich gerade ihretwegen ärgerte, sagte sie fast aggressiv, er wäre schon einmal beinahe abgeholt worden, wenn G. das nicht verhindert hätte. Sie sprach eindeutig von ihrem ältesten Bruder, also meinem Onkel G., und wollte so offensichtlich das Thema beenden. Ich konnte nicht mehr fragen, was ein Abholen bedeutet hätte, wenn es denn erfolgt wäre. Ich kannte ein Schimpfwort, das ich schon öfter gehört hatte, wenn wir Kinder irgendwelche Dummheiten gemacht hatten: Euch sollte doch der Teufel holen! Ich hatte nie an die reale Möglichkeit gedacht, schon gar nicht bei Erwachsenen. In diesem Zusammenhang fiel es mir ein, und ich musste angestrengt nachdenken über meinen Onkel G.: Wieso konnte er verhindern, dass Onkel Th. vom Teufel oder von wem auch immer geholt wurde? Und warum sollte Onkel Th. geholt werden, wenn er Hitler einen Mörder nannte?

Onkel G. war ein korrekter, feiner Mann. Wir hatten ein Bild von ihm in Postkartengröße, auf ihm war er in Uniform zu sehen, jung, es konnte nur aus dem ersten Weltkrieg stammen. Er arbeitete bei der Reichsbahn, ich hätte ihn mir auch nicht als Kötter oder Bauer im Kuhstall verstellen können. Er hatte am Rand der Stadt ein neues großes Haus gebaut, in dem er mit Frau und vier Söhnen lebte, d. h. in der Zeit, an die ich mich erinnere, waren alle vier Söhne Soldat, ich kannte sie nur sehr flüchtig aus ihren Urlaubszeiten. Man hätte denken können, wir hätten ihn weniger geschätzt, schon weil er uns keine Wurstpakete brachte. Er war geachtet, weniger beliebt. Meine Mutter sah in ihm einen Ratgeber, vor allem nach dem Tod meines Vaters. Ich hatte immer das Gefühl, kontrolliert zu werden, wenn er kam. Er sprach wenig, schimpfte auch nicht mit uns Kindern, und dennoch war uns nicht geheuer, wenn er still durch das Haus ging und überall hineinguckte. Er sah nicht uns Kinder, aber er sah, wenn irgendwo etwas nicht in Ordnung war. Später bemerkte ich, dass er einen sehr engen Ordnungsbegriff hatte: Im und um das Haus herum musste aufgeräumt sein, nichts durfte aus einem vorgegebenen Rahmen fallen oder gefallen sein, so konnte nichts auffallen, es sei denn der geordnete Rahmen. Dieses Einpassen drohte zum Anpassen zu werden. Die vielleicht voreilige Beschreibung wäre hier unwichtig, wenn sie sich nur auf seine eigene Person bezogen hätte. Ich merkte bald – und regte mich darüber auf -, dass er seine Haltung auch seiner Umgebung abverlangte, und zu der – meinte er – würde unsere Familie gehören. Klar – wir waren vaterlos und deswegen vielleicht hilfsbedürftig. Er wollte sicher helfen, aber ich wollte seine Hilfe nicht akzeptieren, weil sie letztendlich nicht uns galt..... Aber das merkte er nicht, er war von der Nützlichkeit seines Tuns überzeugt und betonte sie immer wieder. Auch Onkel Th. war überzeugt, dass die Lebensmittel, die er uns brachte, Hilfe in der Not bedeuteten. Aber er redete nicht darüber!

Als das Leben sich nach dem Krieg wieder zu normalisieren begann, feierten wir wieder runde Geburtstage und als Katholiken natürlich Namenstage. Ich denke, es war der 40. Geburtstag meiner Mutter, ich wurde genau zwei Wochen später elf. Wir saßen mit den Verwandten beim Kaffee, uns Kindern war aufgetragen, uns ruhig zu verhalten, wenn die Erwachsenen miteinander redeten. Sie redeten über die Folgen des Krieges. Söhne von Onkel und Tanten, die mit am Tisch saßen, waren gefallen. Es schien für sie befreiend zu sein, von den bekannten und vermuteten Umständen des gewaltsamen Sterbens ihrer Kinder zu erzählen in einem Haus, in dem der Tod des Ehepartners und Vater betrauert wurde. Onkel G. erzählte von seinem ältesten Sohn, der als Pilot der Luftwaffe umgekommen war. Ich konnte seine Mutter sehen, die mit den Tränen kämpfte. Die Rede kam auf die Verlobte des Piloten, die bei einem Bombenangriff in der nahen Stadt fast gleichzeitig zu Tode kam. Das tragische Schicksal dieser beiden jungen Leute machte die Kaffeerunde für längere Zeit sprachlos. Als erster redete wieder mein Onkel G., er sagte gequält, der Herrgott habe es so gefügt und damit verhindert, dass die Beiden zusammengekommen seien. Und als erschrocken nachgefragt wurde, warum sie denn nicht hätten zusammenkommen sollen, nannte er nüchtern den (seinen) Grund: Sie war evangelisch.

Er stellte fest und ließ keinen Spielraum. Niemand am Tisch widersprach ihm, obwohl das betretene Schweigen sicher keine direkte Zustimmung signalisierte. Mir fielen die weit zurückliegenden Worte meiner Mutter ein: Onkel Th. wäre abgeholt worden, wenn G. das nicht verhindert hätte. Wie gut, dass er sich eingesetzt hat, jetzt kann Onkel Th. mit in der Reihe am Kaffeetisch sitzen, ich sehe ihn an, wie er schweigsam und in sich gekehrt in seiner Tasse rührt. Er ist jetzt ruhig, aber er war es nicht zu einer Zeit, in der er hätte ruhig sein sollen. Er ist aus der Reihe getanzt. Er hat sich ein eigenes Urteil gebildet und sich frei zu ihm bekannt und deshalb ist er in Schwierigkeiten gekommen. Hat Onkel G. überhaupt über die Aussagekraft seines Urteils nachgedacht: Hitler ist ein Mörder? Ist er auch Mörder seines Sohnes? Ging es ihm um die Sache? Oder um die Person seines Schwagers, als er - wie auch immer - tätig wurde? Oder konnte er nur nicht ertragen, dass jemand Ordnungsprinzipien missachtete, und dann noch jemand aus der eigenen Verwandtschaft oder – noch schlimmer – aus der eigenen Familie? Warum konnte er, der Katholik, den Gedanken nicht ertragen, dass sein Sohn zufrieden und glücklich lebte nach überlebtem Krieg an der Seite einer evangelischen Frau – nicht einmal nach dessen Tod? Was hatte sein Denken so eng und so verklemmt gemacht, der doch seinem Schwager geholfen hatte? Seine Aufgabe bestand offensichtlich darin aufzupassen und dafür zu sorgen, dass vorgegebene Verhaltensmuster beachtet und umgesetzt wurden. Sie zu bewerten oder gar zu verändern, das lag außerhalb seines Denkhorizontes. Dafür gab es den Vorgesetzten, Hitler oder den Herrgott!

Diese Fragen haben sich mir natürlich so nicht am Kaffeetisch gestellt, sie sind im Laufe der Jahre deutlicher geworden und sie haben mich unruhig gemacht. Und doch weiß ich noch genau, dass ich entsetzt war: Die Deutung des gewaltsamen Todes eines jungen Menschen mit dem Glauben an eine menschenverachtende Vorsehung blieb unwidersprochen im Raum stehen, in dem meine engsten Verwandten versammelt waren, die alle von sich sagten, sie seien katholische Christen. Und doch - die Vergewisserung, dass nun wieder alles seine Ordnung hätte, hatte nicht lange Bestand. Im Verlauf des Kaffeetrinkens wurden so viele Tote in unserer Verwandtschaft beklagt, dass sich schließlich alle Deutungsversuche als unbrauchbar erwiesen, unsere Hilflosigkeit und maßlose Trauer zu überwinden. Wir alle waren nicht darin geübt, sie uns zuzugestehen und ihre Auswirkungen zuzulassen, da stand mein Onkel G. nicht allein. Mit ungeheurem Kraftaufwand schafften wir schließlich die Verdrängung oder wir resignierten wie Onkel Th., dessen Schweigen wir nicht anders deuten konnten.

Lasst uns noch einen Gang durch den Garten machen und uns die Beine vertreten! Das war am Ende der Feier die Erlösung: Wir Kinder konnten endlich laufen und toben, die Erwachsenen schauten nach, wie die neue Ernte ausfallen würde. Vielleicht konnten sie auch feststellen, dass schon Gras über die schrecklichen Ereignisse zu wachsen begann.