Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Josef

 

DER SCHNAPS

Von unserem Küchenfenster aus konnten wir gerade noch die weitläufigen Gebäude des Meierhofes erkennen. Er unterschied sich von anderen Gehöften in unserer Gemeinde durch seinen die übrigen Gebäude weit überragenden, runden Schornstein, der die Neugier in uns Kindern regte, denn er war ungewöhnlich für einen Bauernhof. Die Erwachsenen, die wir nach der Bedeutung dieses Schornsteins fragten, antworteten knapp, er sei wegen der Brennerei notwendig, die sich auf dem Meierhof befände. Von Zeit zu Zeit fuhr meine Mutter mit ihrem Fahrrad auf diesen Hof und brachte ein oder zwei Flaschen Schnaps mit, und so kombinierten wir Schnaps und Brennerei.

Für uns Kinder hatte dieses Getränk, das es ausschließlich für Erwachsene gab, etwas Geheimnisvolles. Es spielte nur dann eine Rolle, wenn etwas Besonderes und Außergewöhnliches eintrat, z. B. ein überraschender Besuch, ein nicht vorhersehbares Ereignis oder bei einer besonders schwierigen und gefährlichen Arbeit. Meine Mutter sagte dann: Hol mal die Flasche aus dem Vorrat. Wir hatten natürlich viele Flaschen zur Aufbewahrung von Lebensmitteln, dennoch wusste ich genau, was ich zu bringen hatte, wenn „die Flasche" gefragt war. Wir Kinder ahnten auch , dass mit dem Schnaps etwas bewirkt wurde oder bewirkt werden sollte. Einmal im Jahr wurde geschlachtet. Wir Kinder wurden dann zu Nachbarn geschickt. Wenn wir zurückkamen, hing das Schwein, das wir in unserem Stall gefüttert hatten, an der Leiter. Für den Schlachter stand die Flasche auf dem Tisch. Ich ahnte, dass er so etwas Schreckliches nur tun konnte, wenn er Schnaps getrunken hatte. Das geschlachtete Schwein blieb einen ganzen Tag an der Leiter hängen. Während dieser Zeit kamen Leute, die Merkwürdiges unternahmen: Der Trichinenbeschauer brachte ein Mikroskop mit und untersuchte ein kleines Stück Fleisch des geschlachteten Schweins, manchmal durften wir Kinder auch in das Gerät schauen, was wir sahen, blieb aber uninteressant. Diese Aktion verlief locker, man redete noch eine Weile miteinander und – natürlich - musste ich die Flasche holen.

Aufgeregter sah meine Mutter einem anderen Besuch entgegen. Dass der Erwartete eine große Bedeutung für uns hatte, merkte ich an dem Ablauf des Besuchs. Ihm wurde bald nach seinem Eintreffen, ohne dass er in irgendeiner Weise tätig geworden wäre, der Schnaps geradezu aufgezwängt. In kurzen Zeitabständen kam immer wieder die Aufforderung, noch ein weiteres Glas zu trinken. Erst wenn offensichtlich jede weitere Aufforderung wirkungslos blieb, ging meine Mutter mit dem Besucher auf die Deele, auf der das Schwein hing. Wir Kinder durften nicht mit. Nach gar nicht langer Zeit kam meine Mutter allein zurück, der Besucher hatte sich schon verabschiedet. Meistens schmunzelnd sagte sie mehr zu sich selbst: Das hätten wir wieder geschafft. Erst später habe ich erfahren, was sie denn zufrieden lächeln ließ, worin denn die Last mit diesem Besucher bestand: Er hatte die Aufgabe, das geschlachtete Schwein zu wiegen. Erst wenn das Gewicht festgestellt war, konnte errechnet werden, ob es unserer Familie ganz oder nur teilweise zugebilligt wurde. Je leichter das Schwein befunden wurde, umso größer die Gewähr, dass wir es ganz behalten durften. Der Schnaps sollte den Kontrolleur bewegen, auf das umständliche und mühevolle Wiegen des geschlachteten Schweines zu verzichten, sich statt dessen auf das viel einfachere Schätzen des Gewichtes einzulassen. Wenn der Kontrolleur bereit wäre zu schätzen, gelte ihrer Erfahrung nach: Je mehr Schnaps konsumiert wurde, umso geringer würde das Gewicht des Schweines registriert, so meine Mutter. Wir haben , soweit ich mich erinnern kann, nie etwas von unseren lebenswichtigen Nahrungsmitteln abgeben müssen dank des klug verwendeten Mittels Schnaps.

Nach dieser eher positiven Wirkung des Alkohols lernten wir Kinder bald auch die gefährliche Seite kennen. Gegen Ende des Krieges musste die Produktion der Brennerei eingestellt werden, die Fachleute waren ausnahmslos an der Front, die das Brennen hätten unternehmen können. Die Bäuerin war mit russischen Kriegsgefangenen allein auf ihrem Hof. Ihr wurde angst und bange bei dem Gedanken, dass der noch gelagerte Schnaps bei den bevorstehenden Wirren des Kriegsendes in die Hände der Besatzer fallen könnte. Couragiert fuhr sie mit ihrem Fahrrad zu ihren Nachbarn und den umliegenden Höfen und unterbreitete allen das Angebot, sich doch aus ihrem Schnapsdepot soviel zu holen, wie jeder sicher verstecken könnte. Dieser Aufforderung folgten die Angesprochenen, weil sie ein drohendes Desaster verhindern wollten, aber der Gedanke an die Möglichkeit der beliebigen Selbstbedienung hatte für manche der Abnehmer auch etwas Prickelndes. Es war schon ein großer Unterschied, ob in einem Versteck Kartoffeln und Schinken lagerten oder eben Schnaps in größeren Mengen. Ich wurde zusammen mit einem Nachbarjungen losgeschickt, das geheimnisvolle Getränk zu holen. Wir sollten unseren Bollerwagen für den Transport mitnehmen. Am Meierhof angekommen, stellte man uns zwei Korbflaschen – ich denke, jede fasste ungefähr fünfzig Liter – in den Wagen. Wir packten sie mit Stroh zu, damit niemand sehen konnte, was wir transportierten. Zuhause wuchteten wir mit vereinten Kräften eine Korbflasche auf unseren Strohbalken und versteckten sie tief im Stroh. Die andere brachten wir zum Nachbarn, wir gruben in deren Garten ein Loch, in das wir den fest verschlossenen Behälter versenkten.

Direkt an unserem großräumigen Garten grenzten die Äcker eines Kotten, auf dem eine Familie mit vielen Kindern wirtschaftete. Interessant an dieser Familie war für uns, dass der Vater nicht eingezogen war. Er hatte ein Pferdegespann und einen großflächigen Wagen, auf dem viele Milchkannen Platz fanden, vor der Ladefläche war ein kleines Fahrerhäuschen aus Holz gebaut. Der Kötter, den wir wie die Erwachsenen Joisken nannten, musste am frühen Morgen anspannen und die vollen Milchkannen von den Höfen des Ortes holen, die gegen die leeren vom Vortag ausgetauscht wurden. Er brachte sie zur Molkerei in die Stadt. So gegen zehn Uhr am Vormittag fuhr er mit den ausgeleerten Kannen zu seinem Kotten zurück. Diese Rückfahrt war für uns von einigem Interesse. Wir legten wichtige Besuche oder Besorgungen in der Stadt auf den frühen Morgen – z. B. Kirche oder Arzt. Den Hinweg, etwa fünf Kilometer lang, legten wir zu Fuß zurück, wenn es zeitlich passte und wir uns beeilten, konnten wir Joisken treffen und auf seinem Fuhrwerk nach Hause fahren. Er hielt seine Pferde an, wenn er uns sah, zeigte ohne viele Worte auf die Ladefläche seines Wagens. Wir kletterten dann auf den Wagen, rückten ein paar Kannen zurecht, dass wir neben ihnen Platz fanden, und los ging die Fahrt. Nur bei heftigem Regen durften wir mit in seine Fahrerkabine. Die hatte er mit alten Kissen ausgelegt. Wir konnten uns gut vorstellen, dass er auf der Rückfahrt schlief, die Pferde kannten den Weg, der Kutscher wurde so überflüssig. Das Fuhrwerk kam regelmäßig zum Stehen vor der Gastwirtschaft Bökenhans. Es dauerte oft noch eine Weile, bis Joisken aus seinem Führerhaus kam und ohne Worte im Gebäude verschwand. Er musste wohl erst wach werden. Wir wussten, dass es einen Aufenthalt von mindestens einer halben Stund gab. Wir stiegen also ebenfalls ab und spielten solange auf dem Hof der Gastwirtschaft.

An Joisken entdeckte ich, dass Schnaps süchtig macht. Niemand im Ort wusste, ob er von der Wehrmacht befreit wurde wegen seiner lebenswichtigen Arbeit oder ob er als untauglich, weil abhängig und unzurechnungsfähig, ausgemustert war. Er war jedenfalls bis zum Kriegsende nicht an der Front. Natürlich kam er aus eigenen Interessen dem Angebot nach, das Schnapsdepot in viele Haushalte zu verteilen. Im Ort erzählte man sich, dass er in der Dunkelheit mit seinem großen Milchwagen einen Riesenanteil abgeholt hätte. Man wusste auch zu berichten, dass er bestimmte Stellen auf seinen Äckern markiert habe, an denen jeweils unterirdisch seine Vorräte versteckt waren. So schien die Angst der Bäuerin, auf deren Hof die Brennerei stand, besiegt zu sein, und diesbezüglich kehrte Ruhe ein. Bis zur Wende! Die amerikanischen Panzer drängten Ostern 1945 zunächst das deutsche Militär zurück. Schon acht Tage später wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt, und mit Angst und Schrecken wurde die Nachricht verbreitet, deutsche Truppen sammelten sich, um den Feind zurückzudrängen. Aufgeregt fuhren amerikanische Fahrzeuge durch Wege, über Felder und Wiesen. Nach einem für uns undurchsichtigen Plan gruben amerikanische Soldaten schwere Geschütze ein. Ein solches Ungetüm bewegte sich hinter unserem Garten auf Joiskens Feld. Wir sahen gebannt zu und mussten doch lachen, als es in unmittelbarer Nähe eines in die Erde gesteckten Zweiges angehalten wurde. Der Zweig kennzeichnete die Stelle, an der Korbflaschen mit Schnaps versteckt waren. Wir meinten Joisken vor seinem Deelentor sehen zu können, wie er entsetzt dieses Schauspiel verfolgte. Ob die Soldaten wirklich auf den Schatz gestoßen sind, war nachträglich nicht mehr ausmachbar. Beim Verfüllen der zurückgelassenen Grube konnte der Ackerbesitzer später leicht und unauffällig seinen Schatz heben, wenn er denn noch da war. Geredet hat er nie darüber.

Die Praxis des Versteckens durch Eingraben war zu dieser Zeit überall üblich. Weil damit schwere Arbeit verbunden war, beauftragten oft unbedacht Bauersfrauen ihre russischen oder polnischen Helfer mit dieser Arbeit. Gleich nach der Ankunft der Amerikaner schlossen sich die ausländischen Helfer in der Landwirtschaft zusammen, zogen marodierend umher, nahmen sich, was sie wollten. Immer wusste einer aus der plündernden Gruppe besonders gut Bescheid, dann nämlich, wenn es sich um den Hof handelte, auf dem er über Jahre gearbeitet hatte. Besonders einfallsreich beim Rauben und Zerstören waren die, denen das Leben während ihrer Gefangenschaft besonders schwer gemacht worden war. Ihnen bereitete es Vergnügen, die Hofbesitzerin an den Ort zu führen, an dem sie wertvolles Gut vergraben mussten. Ihr wurde ein Spaten in die Hand gedrückt, mit dem sie vor den Augen der versammelten ehemaligen Gefangenen ausgraben musste, was nicht in deren Hände fallen sollte. Der maßlose Schnapskonsum, der sich dem Auffinden von versteckten Korbflaschen anschloss, führte oft zu unmenschlichem Verhalten. Es trat genau das ein, was die Inhaberin der Brennerei ursprünglich verhindern wollte.

Unsere Korbflasche mit Schnaps blieb im Stroh unentdeckt. Eine Meute ehemaliger Gefangener kam zu uns am frühen Morgen. Möglicher Weise schien ihr nach durchzechter Nacht ein ordentliches Frühstück angebrachter als noch mehr Schnaps. Vielleicht zehn Leute suchten auf unserem Hof herum, müde, wie wir aus sicherer Position im Haus erkennen konnten. Sie fanden unseren Hühnerstall, in dem nachts die Hühner eingesperrt waren, schon um sie vor Habicht und Fuchs zu schützen. Als einer der Männer die Klappe für den Ausgang entdeckte und öffnete, kamen unsere Hühner wie gewohnt der Reihe nach aus ihrem Stall ins Freie. Sie wurden eingefangen und in einen Sack gesteckt. Eins konnte davonfliegen, als die Aufmerksamkeit des Hühnerfängers nachließ. Der Verlust der Eierlieferanten in einer Zeit, in der Hunger zum Alltag gehörte, traf uns hart. Sicher wäre der versteckte Schnaps leichter zu entbehren gewesen. Wir mussten hinnehmen, was uns zugefügt wurde, ohne dass wir auch nur die geringste Möglichkeit gehabt hätten, uns zu wehren. Wir trösteten uns mit der nüchternen Feststellung, dass der Verzehr unserer Hühner keine so unberechenbare und gefährliche Nachwirkung haben konnte wie das Trinken des im Stroh versteckten Alkohols.

Ich erinnere mich, dass die Geschwister meiner Mutter uns je ein Huhn brachten als Ersatz für die geraubten. So hatten wir mit dem geretteten eine bunte Schar von acht Hühnern, die uns wieder mit Eiern versorgte. Die versteckte Korbflasche mit Schnaps geriet in Vergessenheit. Als wir den Balken herrichten mussten für die neue Strohernte, entdeckten wir eine Schneise im verbliebenen Stroh, die direkt zur Korbflasche führte. Sie war leer. Dafür gab es nur eine Erklärung: In den langen Zeiten des Fliegeralarms suchten viele Leute Zuflucht in unserem Luftschutzkeller. Sobald die Luft rein war, verließen wir den engen Keller, um durchatmen und uns freier bewegen zu können. Wir Kinder liefen dann auf unseren Hof und spielten. Einige Erwachsene waren sehr interessiert an unseren Schweinen. Ihr Umfang musste alle paar Tage mit einem Metermaß kontrolliert werden, so konnte festgestellt werden, ob und wie viel sie zugenommen hatten. Über den Gang im Schweinestall konnte man aber auch leicht auf den Strohbalken gelangen..... Vielleicht hat der Alkohol damals Ängste genommen oder Aggressionen gedämpft, ohne dass wir es gemerkt hätten. Es blieb dabei: Der Schnaps behielt für uns Kinder etwas Geheimnisvolles, er konnte gefährliche Situationen hervorrufen, er konnte auch besänftigen und lustig machen.