Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Josef

 

DER SCHREI

Es machte mich stolz, dass ich – gerade zwölf Jahre alt – in der sonst immer verschlossenen Schublade kramen durfte, in der – wie es in Arbeiterfamilien üblich war – die wichtigen Papiere aufbewahrt wurden. Ich konnte dort den Bescheid über die Höhe der Witwenrente genau so finden wie die Sterbeurkunde meines Vaters, den sorgfältig ausgeschnittenen Zeitungsartikel über die Gratulation des Kreisleiters, die meiner Urgroßmutter galt, als sie hundert Jahre alt wurde, die Bescheinigung über die Ermäßigung meines Schulgeldes, das Abschlusszeugnis meiner großen Schwester oder die Bestätigung des erfolgreichen Einschultests meiner jüngeren Schwester. Unter diesen und vielen anderen Papieren fand ich viele kleinformatige Totenzettel mit Namen und Todesdatum meiner Großeltern und weiterer Verwandter, manche alt und vergilbt, mehr noch schienen neueren Datums zu sein, sie unterschieden sich von den älteren durch ein eigentümlich geformtes Kreuz.

Mein anfänglich neugieriges und wahlloses Suchen wich einem langsam aufkommenden Bewusstsein, dass ich Einblick in ganz Wichtiges nahm, dass mein Tun mit Hochachtungsvollem zu tun hatte, ein Wort, das ich auf vielen Briefen in Verbindung mit Unterschrift und Stempel fand. Ich ahnte, dass meine Mutter mich nicht leichtfertig zu beschäftigen versuchte, dass sie vielmehr eine Absicht verfolgte. Ich spürte bei meinem Tun eine bedeutungsvolle Aufgabe, die ich übernehmen, auf die ich vorbereitet werden sollte. Diese Aufgabe zu übernehmen hatte zu tun mit dem Ende meiner Kindheit. Gehörte auch das Gymnasium, das ich seit über zwei Jahren besuchte, zu ihren Plänen? Mir war bisher völlig unverständlich, weshalb mir eine Schulform zugedacht wurde, die in unserer gesamten weitläufigen Familie sonst nicht in Betracht kam, die auch mir nicht auf den Leib geschnitten war, die mir eher Angst machte. Zum ersten Mal in meinem Leben kam mir der Gedanke: Wir sind auf unsere Mutter angewiesen, aber unsere Mutter, die Witwe, braucht uns, und zwar als ihre Helfer und Gesprächspartner. Sie sehnt sich die Zeit herbei, in der sie mit uns über das unfassbare Schicksal, ohne Partner in schlimmer Zeit drei nicht erwachsene Kinder zu versorgen, reden kann, um es vielleicht ein wenig besser zu begreifen.

Mir war ein kleiner hektographierter Zettel in die Hand gefallen, der, obwohl nur wenige Zentimeter breit, mit einer Schreibmaschine eng beschrieben war und deshalb besonders auffiel, weil das Verhältnis der Buchstabengröße zur Kleinheit des Zettels nicht passte. Auf ihm stand: Gedenket im Gebet des am 12. Februar 1945 gefallenen Konrad D., und bevor die Namen sozusagen der Auftraggeber, nämlich die meiner Mutter mit ihren drei Kindern, getippt waren, wurde der Verlust für Deutschland, also das grausame und gewaltsame Sterben meines Vaters, mit der Überschrift versehen: Herr, Dein Wille geschehe.

Ich war entsetzt. Mit aller Kraft musste ich dem ein Nein! So nicht! entgegensetzen. Und ich wusste selbst nicht, ob ich mit meinem energischen Widerspruch den treffen wollte, der hier mit Herr angesprochen war, oder meine Mutter, auf deren Geheiß diese Deutung geschrieben wurde. Ich blieb allein mit meinem Entsetzen, denn ich wollte nicht mit einer Mutter reden, die sich ergeben hatte, die offensichtlich nicht mehr kämpfen wollte. Mir kam, nachdem ich mich beruhigt hatte, die Frage: Gegen wen sollte sie kämpfen und mit wem?

Ich war so in meinen Gedanken gefangen, dass ich erneut in der Schublade zu kramen begann, jetzt aber zielstrebig. Ich fand schnell die Todesurkunde meines Vaters, ich hatte sie ja schließlich schon in der Hand gehabt. Ich schaute sie mir genau an, nüchtern waren in einem Vordruck lediglich der Name und das Todesdatum eingetragen. Stempel und Unterschrift gaben der emotionslosen Feststellung etwas Endgültiges, Unverrückbares. Ich fand angeheftet an die Urkunde einen handgeschriebenen Brief, datiert vom 15.02.45 und unterzeichnet mit „Heil Hitler Ihr NN, Leutnant und Kompanieführer". Der Brief war an meine Mutter adressiert und enthielt die „traurige Mitteilung, dass Ihr Gatte am 12.02.45 für Deutschland gefallen ist". Mit den kurzen Angaben den Ort und die Umstände betreffend

(östlich von Rathstock, durch Granatsplitter tödlich verwundet) wollte ich mich nicht befassen, denn schlagartig war mir klar: Dieser Brief hatte an einem Sonntagabend im März 1945 einen Schrei verursacht, den ich im Ohr hatte, obwohl er schon vor mehr als sechs Jahren ausgestoßen wurde. Ich versuchte mich genau an alle kleinen Geschehnisse dieses Abends zu erinnern. Meine Mutter war am Nachmittag allein mit dem Fahrrad zu ihrem etwa 12.km entfernten Elternhaus gefahren. Das Wetter war „offen", so dass das schon öfter verschobene Treffen ihrer Geschwister möglich wurde. Es ging darum, den Nachlass meiner Oma, ihrer Mutter, zu verteilen, die im November des Vorjahres gestorben war. Zu uns Kindern kam die Schwester meines Vaters, die uns hüten sollte. Wir Kinder vermissten unsere Mutter nicht, weil die Tante mit uns umzugehen verstand. Noch vor dem Abendessen kam die Mutter zurück, sie zeigte uns mit verhaltenem Stolz ihren Anteil, den sie in ein Tuch eingewickelt auf dem Gepäckträger ihres Fahrrades mitgebracht hatte: hauptsächlich Kleider, graue und schwarze, und sie sagte, sie sei überrascht, dass ihre Schwestern ihr besonders viele Kleider zugedacht hätten. Nach dem Abendessen kam Onkel H., ein Bruder meines Vaters, der armamputiert war und deshalb nicht zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er versicherte glaubhaft, er wolle seine ängstliche Schwester auf ihrem Nachhauseweg begleiten. Völlig ungewöhnlich war ihr Verhalten uns Kindern gegenüber. Wir waren es gewohnt, in ihnen Fürsprecher zu haben, wenn es darum ging, nach dem Essen noch länger aufbleiben zu dürfen. An diesem Sonntag ermahnten sie uns, es sei doch schon sehr spät und höchste Zeit fürs Bett. Wir schliefen in einem Zimmer neben der Küche, in der sich das Leben tagsüber abspielte. Wir waren noch nicht fest eingeschlafen, als wir von dem furchtbaren Schrei meiner Mutter aufschreckten.

Als wir ins Zimmer stürzten, sahen wir unsere Mutter im Sofa sitzend, den Kopf auf dem Tisch, vor ihr lag ein Brief, der mich nicht interessierte, da ich ja noch nicht lesen konnte mit meinen sechs Jahren. Sie hatte keinen Blick für uns Kinder. Eine ältere liebe Tante, die bei uns im Hause wohnte und herbeigeeilt war, nahm uns Kinder an die Hand und brachte uns in ihr Wohnzimmer. Später erzählte sie, dass ich lange und still vor dem Fenster gestanden hätte, während sie sich um meine Schwestern kümmerte. Ich hätte in die dunkle Nacht geschaut und dabei Blätter und Stängel einer Topfblume mit meinen Fingernägeln in ganz kleine Stücke geschnitten. Sie hätte später Mühe gehabt, die Pflanze zu retten, es sei ihr aber nach einiger Zeit gelungen.

 

Dieser Schrei stand in krassem Gegensatz zu der Losung: Herr, Dein Wille geschehe, die auf dem Totenzettel zu lesen war, der vor mir lag. Ich legte ihn oben auf den Papierstoß, so dass jeder ihn lesen musste, der die Schublade öffnete. Ich war innerlich aufgewühlt und voller Fragen, und ich wusste, dass ich versuchen musste, auf diese Fragen Antworten zu bekommen. Wenn meine Mutter mich an ihren Fragen beteiligen wollte, so hatte sie ihr Ziel erreicht.

Dennoch wagte ich nicht, sie anzusprechen, weil ich befürchtete, sie würde über lange Zeit grübeln und traurig sein. Vielleicht wollte ich aber auch nicht mit ihr sprechen, weil ich ärgerlich war, dass sie keine eindeutige Haltung hatte zum Tod meines Vaters. Hin- und hergerissen wollte ich meinem Ärger nicht allzu viel Raum geben, jedenfalls nicht, bevor ich wenigstens Auskünfte auf meine vordergründigen Fragen hatte, z. B.: Woher kam der Brief mit der Todesnachricht? Wie kam er in die Hände meiner Tante? War er überhaupt glaubwürdig? Verlässliche Antworten konnte ich von meiner Tante erwarten, mein Onkel, der ebenfalls hätte Auskunft geben können, war inzwischen gestorben. Die Jahre, die zwischen dem Überbringen der Todesnachricht und meinen engagierten Nachfragen lagen, hatten den tiefen Eindruck, den das Geschehen in ihr hinterlassen hatte, nicht beeinträchtigt. Lebendig und umfassend, ja sogar erleichtert darüber, den bedrückenden Auftrag der Todesbotin einem Interessierten, wenn auch einem 12-jährigen Kind, erzählen zu können, begann meine Tante von der Not der Briefträgerin Katharina S. zu berichten, die sich schon 1943 geweigert habe, Briefe an die Adressaten zu befördern, die – von offiziellen Wehrmachtsämtern kommend – mit hoher Wahrscheinlichkeit und zunehmend häufiger die Nachricht vom „Heldentod" ihrer Gatten, Söhne, Brüder beinhalteten. Sie habe die Schreie und das Zusammenbrechen der Angehörigen nicht mehr ertragen können, die auf den ersten Blick die bezeichneten Briefe erkannt und als Todesnachrichten identifiziert hätten. In der kleinen Gemeinde, in der jeder jeden kannte und in der die Unerträglichkeit der Kriegswirren längst den Nazis angelastet wurden, habe man sich folgerichtig geeinigt, die unglückbringenden Briefe dem Ortsgruppenführer zu übergeben, damit dieser die erschütternden Botschaften an die entsprechenden Adressaten vermittele, schließlich stehe er für die Urheber des Schreckens. Die Folge sei gewesen, dass schon das Auftauchen der Person des Gruppenführers in einem Haus genügte, um aus der Angst um die angehörigen Soldaten die schreckliche Gewissheit ihres Umkommens zu machen.

Die Nachricht vom Tode meines Vaters sei aus der Hand des Gruppenleiters zum Bürgermeister gelangt, er war ein Onkel meines Vaters und deshalb in den Augen des Gruppenleiters eine gestandene und nahestehende Person, der man, ohne einen Zusammenbruch befürchten zu müssen, eine Todesnachricht übergeben konnte. Der Bürgermeister habe den Brief an seinen Bruder weitergegeben, an meinen Opa, den Vater meines Vaters, der wiederum sie, seine Tochter und meine Tante, und ihren Bruder gebeten habe, die Nachricht zu überbringen. Sie habe gewusst, dass meine Mutter am besagten Sonntag im März in ihrem Elternhaus mit ihren Geschwistern zusammentreffen wollte, sie wäre ja gebeten worden während dieser Zeit uns Kinder zu beaufsichtigen. Sie habe von der Todesnachricht mit einem ihrer Verwandten gesprochen, so dass sie hätte hoffen können, dass sie nach ihrer Rückkehr zwar der Trauernden Beistand leisten, aber nicht die Todesnachricht übermitteln musste. Da auch in ihrem Geschwisterkreis niemand den Mut gefunden hätte, die eigentlich Betroffene zu informieren, sei es dazu gekommen, dass alle Verwandten und Nachbarn Bescheid gewusst hätten, nur unsere Familie nicht.

Meine Tante sprach nicht über ihre Befindlichkeit an diesem Sonntag, sie erwähnte allerdings, dass ihr Bruder H., der abends nachgekommen sei unter dem Vorwand ihrer Angst auf dem Nachhauseweg, eine große Hilfe gewesen sei. „Nun liegt auch er längst unter der Erde!" Nach einem tiefen Seufzer und einer langen Pause fragte sie mich: Hast Du Dir mal klargemacht, was alles Anfang des Jahres 1945 an der Oder und überhaupt bei den Kämpfen um Berlin, die dein Vater nicht überlebt hat, geschehen ist? Diese Frage war für mich die Aufforderung, den sinnlosen Tod meines Vaters im Zusammenhang mit dem Elend des Kriegsendes und der Nachkriegszeit zu sehen. Ich spürte ein Unbehagen, wenn ich daran dachte, wie schnell ich zu urteilen und zu verurteilen bereit war. Ich hatte kein Recht dazu , bevor ich nicht mich sachkundig gemacht hatte.

Ich fragte meine Mutter: „Wo liegt eigentlich Rathstock?" Sie guckte mich erstaunt, aber keineswegs erschrocken an. „Hol doch mal deinen Atlas, damit wir nachsehen können." Sie sagte das schnell und entschlossen. Sie wusste, dass ihre Wünsche in Erfüllung zu gehen begannen.