Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Karin

geb. 23.12.1937 in Berlin, vermutlich im Jahr 1939 (Mobilmachung) umgezogen nach Neuruppin (Stationierung des Kampfgeschwaders meines Vaters auf dem dortigen Flugplatz), ca. 70 km nordwestlich von Berlin

Erinnerungen

Kriegsjahre

meinen Vater habe ich nie kennen gelernt. Er ist schon am 10. Mai 1940 beim Angriff auf Holland gefallen. Ich war 2 Jahre alt. Aber meine Mutter hat viel von ihm erzählt: dass er als junger Mann und gelernter Schmied keine rechte Arbeit fand, dass er darum Berufssoldat wurde und zur Luftwaffe ging mit dem großen Ziel, irgendwann einmal - nach weiteren Fortbildungskursen - Pilot zu werden. Zum Zeitpunkt seines Todes war er Bordmechaniker in einer Ju 52. Noch immer habe ich das Kästchen vor Augen, das meine Mutter oft hervorholte, um mir seine geretteten Habseligkeiten zu zeigen: die kaputte Taschenuhr, deren grüne Flecken (so meine Mutter) von seinem Blut herrührten, seine Erkennungsmarke und den Trauring. Sie erzählte dann immer sehr plastisch, wie die vorausfliegenden Maschinen auf dem verminten Flugplatz gelandet und explodiert sind, wie der Pilot in der Maschine meines Vaters noch - vergeblich - versucht hat, eine Notlandung zu riskieren und wie es den nachfolgenden Flugzeugen, als sie die Katastrophe bemerkten, gelungen ist abzudrehen und unbeschadet zurückzukehren. Nun war mein Vater vermisst. Das war die schlimmste Zeit, sagte meine Mutter.

Im Jahre 1999 habe ich mir selbst Unterlagen von der deutschen Dienststelle kommen lassen. Da steht dann in der „Namentlichen Verlustmeldung Nr. 4" unter dem Datum 30. November 1940 ganz lapidar: Lfde. Nr. 14, Dienstgrad Feldw., Vorname/Name: Willi Ullrich, Veränderung: streiche vermisst. Ist gefallen. Beerdigt Begräbnisplatz Den Haag Grab-Nr. 56. Heimatdienststelle Neuruppin. Nach dem Krieg bettete die niederländische Regierung die verstreut liegenden deutschen Gefallenen auf den großen Soldatenfriedhof Ysselsteyn um. Allein hier sind mehr als 30000 deutsche Soldaten begraben. Dieser Friedhof ist mit seiner riesigen Zahl ganz regelmäßig gesetzter Kreuze ein ungeheuer beeindruckender Ort der Ruhe und Andacht. Erstaunt war ich, wie viele Soldaten schon 1940 gefallen sind. Sie liegen alle in derselben Reihe wie mein Vater.

In dem Erinnerungs-Kästchen war aber auch ein Foto vom ersten Grab meines Vaters. Es wurde während der Kriegsjahre - wie wohl auch die anderen - von einem holländischen Pastor gepflegt. Er hatte außer dem Foto noch einen Brief mitgeschickt. Ich konnte damals fühlen, dass das meine Mutter tröstete und dass sie dem Pastor aus dem „Feindesland" dankbar war. Ihre bisherige BDM-Begeisterung für Hitler und ihr Feindbild müssen zu diesem Zeitpunkt einen Riss bekommen haben, obwohl sie das natürlich nie ausgesprochen hat. Hat sie mir schon damals von ihrem Bruder erzählt, der bei der SA war (dort angeberisch allerlei Raufhändel und auch Trinkereien mitgemacht hat), worüber sich mein Großvater mächtig aufgeregt hat und immer geschimpft haben soll: „Jagt mir dieses braune Gespenst vom Hof!"? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war mein Großvater mit seinen 14 Kindern, der nach dem 1. Weltkrieg schon aus Posen vertrieben worden war und sich in Mecklenburg-Vorpommern die 3. Existenz aufgebaut hatte, nicht durch die Nazi-Führung zu beeindrucken gewesen.

Meine Mutter war mit 23 Jahren die jüngste Witwe in Neuruppin. Man versuchte ihr zu helfen und bot ihr eine Halbtagsstelle im Büro des Flughafens an. Ich kam in den Kinderhort. Von dieser Zeit ist nichts in meinem Gedächtnis haften geblieben, außer dem Hitlergruß, den auch wir Kleinsten schon „entbieten" mussten und zu dem ich wohl nachhaltig angehalten wurde, und der tägliche Löffel Lebertran, den ich so eklig fand.

Eine weitere intensive Erinnerung bezieht sich auf eine Bombenalarmsituation. Ich war wohl 5 Jahre alt und an einem Abend allein zu Haus. Als es dunkel war, gingen die Sirenen. Ich brauchte keine Sekunde nachzudenken. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte: Vor allem durfte ich kein Licht anmachen, da die Verdunkelung nicht heruntergezogen war. Also tastete ich in der Finsternis nach meinen Sachen, die immer - einschließlich Mantel und Handschuhe - in der richtigen Reihenfolge auf dem Stuhl geordnet lagen. Ich schaffte es auch ohne Probleme mich anzuziehen. Dann ging ich zur Wohnungstür, schloss sie von außen ab und klingelte bei der Nachbarin gegenüber. Sie stand auch schon mit ihren Kindern bereit und zusammen gingen wir die Treppe hinunter. Dabei durfte auch im Flur kein Licht eingeschaltet werden. Zur Orientierung diente ein Phosphorstreifen an der Wand entlang. Er leuchtete auch bei Dunkelheit ein bisschen.

Im Keller versammelte sich die gesamte Hausgemeinschaft. Hier brannte eine schwache Birne, und wir saßen auf Etagenbetten, die an den Wänden aufgebaut waren. Doch da es alle Bomber immer nur auf Berlin abgesehen hatten und wir - trotz häufigen Alarms - keinen einzigen Angriff auf unsere Stadt erlebten, empfanden wir Kinder die Bedrohung nicht. Im Gegenteil: Wir freuten uns, nachts miteinander spielen zu können und liefen auch leichtsinnig auf die Straße, um die sog. „Christbäume" (Magnesiumlichter) über Berlin zu bestaunen. Das war einfach abenteuerlich! Unangenehmer war eine solche Situation später in der Schule. Bei Alarm mussten wir geschlossen in den Keller gehen und ganz ruhig auf den Bänken dort sitzen. Spielen war keinesfalls erlaubt. Das fand ich beklemmend. Vom Unterricht habe ich ansonsten rein gar nichts behalten. Es gab wichtigere Dinge, z.B. dass ich auf keinen Fall vergessen durfte, im Winter jeden Morgen vor der Schule ein oder zwei Briketts in den Kachelofen im Wohnzimmer zu legen. Außerdem musste ich jeden Tag in einer Kanne immer Milch vom Milchmann holen.

Neben diesen Verpflichtungen eines „Schlüsselkindes" gab es aber allerlei, was wunderschön war. In unserer Siedlung gab es viele Kinder, unsere Straße war geteert und so gut wie autofrei, so dass wir wunderbar draußen spielen konnten: unsere Holzkreisel schlagen, Seilchen springen, Bälle werfen und Hüpfspiele aufmalen. Besonders gern haben wir „Deutschland erklärt den Krieg gegen (England, Frankreich, Russland, Amerika)" gespielt. Auf dem Bürgersteig fuhren wir unsere Puppen spazieren oder machten die ersten Fahrversuche auf dem Erwachsenen-Fahrrad. Dabei half mir keiner, Kinderräder gab es nicht. Das Ergebnis war entsprechend: Landung vor dem Baum, eine Acht im Reifen. Schön waren die Sommer, wenn meine Mutter mich hinten auf dem Rad mitnahm und wir in den Wald fuhren, um Pfifferlinge zu sammeln. Oder wenn sie mit mir im geliehenen Paddelboot über die Ruppiner Kanäle glitt: mit Picknickkorb und Grammophon!

Schön waren aber auch die Winter, wenn meine Mutter mich auf dem Schlitten zum See zog, wo sich alle Erwachsenen und Kinder trafen und wir „Schlenkerschlitten" spielten. Und herrlich waren auch immer die Besuche bei den Großeltern auf dem Bauernhof. Im Sommer wurden wir mit der Kutsche und im Winter mit dem Pferdeschlitten vom Bahnhof abgeholt. Gegen die Kälte gab es dann einen heißen Stein für die Füße und für die Hände, und ich durfte gelegentlich die Zügel halten. Überhaupt ist meine Mutter viel zu Verwandten gereist während der Kriegsjahre. Die Zugverbindungen klappten. So haben wir unbeschwerte Ferientage bei ihrer Schwester in Peenemünde an der Ostsee verlebt. Dass deren Mann im V 2 - Werk dort beschäftigt war und dass er das - auch als unbedeutender Tischler oder Frisör, wie ein anderer Onkel - nur als SS-Angehöriger tun konnte, darüber wurde nicht gesprochen!

Diese ganzen Zusammenhänge habe ich selbst erst nach der Wende begriffen, als ich das zum Museum umfunktionierte Werk besichtigen konnte.

Es gab innerhalb dieses für mich behüteten Lebens allerdings auch Zeiten einer nun schon bewusster erlebten Trauer: als ein Bruder meines Vaters fiel und als vom Lieblingsbruder meiner Mutter kein Lebenszeichen mehr kam. Er sollte in Jugoslawien vermisst bleiben, alle Nachforschungen haben bis heute kein Ergebnis gebracht. Auch hörten wir vom großen Leid ihrer ältesten Schwester, die ihren einzigen Sohn an der Front verloren hatte. „Sie ist über Nacht grau geworden", wiederholte meine Mutter immer wieder.

Das Jahr 1945

Gegen Ende des Krieges gab es immer wieder Situationen, die ich instinktiv als das erfasste, was sie waren: Feindsender hören! Meine Mutter verkroch sich nämlich zum Radiohören unter einer Decke. Ohne dass sie etwas sagte, wusste ich, dass man das nicht erzählen durfte. So versuchte sie sich zu informieren und alles rechtzeitig zu organisieren. Bloß nicht den Russen in die Hände fallen! Doch bevor wir „verreisten", bekamen wir noch Einquartierung: eine schlesische Flüchtlingsfamilie. Sie bezog unser Wohnzimmer, wir behielten das Schlafzimmer, und die Wohnküche wurde gemeinsam benutzt. Begeistert war meine Mutter nicht, ich dagegen fand die vergrößerte Familie ganz interessant. Bald danach sollten auch wir in die Rolle der ungeliebten Flüchtlinge rutschen. Denn nachdem meine Mutter ihre Wohnzimmermöbel noch bei einer Freundin in Berlin untergestellt hatte, fuhren wir Anfang April - angeblich nur zu Besuch - zu Verwandten nach Schleswig-Holstein. Um nicht aufzufallen, nahm sie nur zwei Koffer mit: einen mit ihrer Aussteuer-Wäsche und den anderen mit unserer Kleidung.

Das sollte das Ende meiner geborgenen Kindheitswelt sein. Doch zunächst merkte ich das noch nicht so sehr.

Wir kamen nämlich auf dem elterlichen Hof einer Schwägerin unter. Hier waren mehrere Kinder, und wir mussten zu zweit in einem Bett schlafen. Das war ganz gemütlich und für mich als Einzelkind auch lustig. Ebenfalls interessant war der Bau eines Erdbunkers, bei dem wir Kinder helfen durften. Sitzbänke waren aus Lehm gestaltet, vor den Öffnungen hingen Säcke. Vor wem wollte man sich darin verstecken? Danach haben wir nicht gefragt. Schlimm waren die Tieffliegerangriffe, denen wir in den letzten Kriegstagen noch ausgesetzt waren. Ich weiß noch, dass wir uns immer schnell in den Straßengraben warfen, wenn wir den charakteristischen sirrenden Ton hörten. Und ganz merkwürdig waren die Begegnungen mit einigen deutschen - so weit ich mich erinnere noch uniformierten - Männern. Sie hatten eine Scheune mit Vorräten in Beschlag genommen. Aber wir durften nichts von ihnen wissen. Sie waren abweisend und unwirsch. Als wir eines Tages ihr Auto an einem Feldrand stehen sahen und ihnen das fröhlich mitteilten, hieß es nur: „Das stimmt nicht. Ihr habt nichts gesehen!" Später ist mir klar geworden, dass das Himmlers Leute gewesen sein müssen, die sich in dieser Gegend versteckt hielten.

Endlich war der Krieg zu Ende, amerikanische Truppen rückten ein. Und wir Kinder liefen hin und fragten: „Have you chocolate?"

Jetzt hielt es meine Mutter nicht mehr dort. Zu deutlich hatte man ihr zu verstehen gegeben, dass wir 2 Esser zu viel wären. Sie wollte zu ihrer ältesten Schwester nach Lahde bei Minden und machte sich mit mir auf den Weg. Nichts funktionierte mehr richtig. Man stellte sich auf den Bahnsteig und freute sich, wenn ein Zug irgendwie in die gewünschte Richtung fuhr. Für uns bedeutete das: im offenen Güterwagen bis Minden. Ob wir umsteigen oder wegen zerstörter Strecken Umwege fahren mussten, weiß ich nicht mehr. Aber dass wir in Rendsburg zu Fuß über die angeschlagene Brücke gehen mussten und erst danach wieder einsteigen konnten, das habe ich behalten. Spät am Abend kamen wir schließlich in Minden an. Der einzige Bahnwärter hatte nur einen Stuhl, den er meiner Mutter und mir zur Verfügung stellte. Doch unsere Erschöpfung tat ihm so leid, dass er uns mit in seine Wohnung nahm und uns sein Schlafzimmer zur Verfügung stellte. Noch heute kann ich fühlen, wie herrlich das Ausstrecken in einem Bett war!

Am nächsten Morgen ging’s weiter auf einem Leiterwagen. Meine Tante nahm uns in Empfang und gab uns ein Zimmer in ihrem Haus. Doch wir waren und blieben nicht die einzigen, die Unterkunft suchten: Zwei Onkel hatten sich hierher aus der Gefangenschaft entlassen lassen. Sie hatten Läuse und Typhus und mussten erst einmal gesund gepflegt werden. Einer von ihnen ließ seine ausgebombte Familie nachkommen. Irgendwie wurden sie alle untergebracht, aber man ging sich auf die Nerven. Es wurde viel geschimpft und gemeckert. Meine Mutter versuchte wiederum, ihren Lebensunterhalt zu sichern und für unsere Ernährung zu sorgen. Das erreichte sie durch ihre Arbeit bei der UNRRA, für deren Mitarbeiter sie kochte. Hungern mussten wir nicht.

Wegen der beengten Verhältnisse in Lahde schaltete sich der älteste Bruder meiner Mutter ein und holte uns im Herbst des Jahres in sein Haus nach Hagen. Hagen war sehr zerstört. Meine Mutter meinte, in dieser grässlichen Stadt würde sie sich nie einleben. Doch auch hier konnten wir wieder ein Zimmer bewohnen und die Wohnküche mit benutzen. Meine Mutter konnte im Büro seines Kartoffelbetriebes arbeiten. Ich war darum der Obhut seiner Frau ausgeliefert, die natürlich keineswegs begeistert war über die unerwünschte Einquartierung in ihren kinderlosen Haushalt und die mit Kindern nicht umgehen konnte. Im Hause musste ich mich möglichst unauffällig verhalten und ducken, hier fühlte ich mich winzig. Doch wir hatten auch Glück: Wirklichen Hunger brauchten wir nicht zu leiden, auch wenn es an vielem mangelte. In unserem Haus gab es immerhin genug Kartoffeln, die auch als Tauschware dienen konnten. Dennoch kreisten die Gespräche der Frauen viel ums Essen. So wurde das „Rezept" weiter gegeben, dass man Kartoffeln in Ermangelung von Fett auch im Kaffeesatz (vom Muckefuck) braten könne. Darüber hinaus durfte nichts Essbares weggeworfen werden. So erinnere ich mich mit Ekel daran, dass ich einmal einen Teller mit Käfernudelsuppe aufessen sollte. Gab es etwas zu Weihnachten? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht ein Kleid, das aus einem gewendeten Erwachsenenkleid genäht wurde oder gestrickte Handschuhe oder den Mantel aus der grauen Felddecke, den ich lange getragen habe.

Nachkriegsjahre

Bald gab es Quäkerpakete aus Amerika, und ich bekam z.B. im Sommer 1946 schöne Sandalen. Diese Sachen, die dem Empfänger nicht immer passten, durchliefen oft ein Ringtauschverfahren. Wem passte was? Was bekomme ich, wenn ich das und das gebe? Schon zuvor hatte auch wieder so etwas wie Unterricht begonnen: zusammen mit einigen anderen Kindern bei einer Lehrerin im Wohnzimmer. Bezahlt wurde mit Naturalien, denn das Geld war nicht mehr viel wert. Papier war knapp, neue Hefte gab es nicht. Jeder musste versuchen, an alte Papierbögen zu kommen, um überhaupt etwas aufschreiben zu können. Schulbücher hatten wir nicht, die Lehrerin diktierte uns oder übte mündlich mit uns.

Auch Spielmöglichkeiten fanden wir Kinder wieder, wie üblich auf der Straße, die einfach uns gehörte! In der ersten Zeit fuhr die Straßenbahn vor unserem Haus noch nicht! Da ich Rollschuhe geschenkt bekommen hatte, konnte ich sogar mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft Kreise und Pirouetten drehen. Anderes Spielzeug hatte ich nicht, aber wir Kinder waren erfinderisch. Auf den Höfen der Häuser trafen wir uns und tauschten mit allem Möglichen, vor allem mit Zigarettenschachteln (Collie, Roth Händle, Gold Dollar etc.). Zigaretten waren unglaublich wertvoll, deren Verpackung daher ebenfalls! Jetzt gab es draußen keine Bomben- oder Tieffliegergefahr mehr, Gefühle von Freiheit und auch Ausgelassenheit stellten sich ein. Selbst Trümmergrundstücke konnten uns nicht schrecken, sie waren vielmehr die reinsten Abenteuerspielplätze. Kriegskinder, die wir waren!

Beunruhigt und in großer Sorge war ich nur, wenn meine Mutter „schwarz" über die Grenze ging. Das versuchte sie mehrmals zusammen mit einer Freundin, um ein paar Gegenstände ihres Eigentums herüberzuholen. Es gab noch keine befestigte Grenze, und man vertraute sich einem sog. Führer an, der einen gegen eine Entlohnung bei Dunkelheit über unwegsame Waldpfade an den Wachposten vorbeischleuste. Das klappte aber nicht immer, und zweimal kam meine Mutter tief enttäuscht zurück. Russische Soldaten waren zu dicht herangekommen, die Gruppe hatte sich mucksmäuschenstill ins feuchte Unterholz ducken müssen, bis sich die Stimmen wieder entfernt hatten und war dann aus Angst vor Entdeckung wieder umgekehrt.

Einmal hatten sie jedoch Glück. Die beiden Frauen fuhren bis Helmstedt, fanden dort auf dem Bahnhof einen Bremser, der sie (gegen eine Flasche Schnaps o. ä.) nachts im Bremserhäuschen eines Güterwagens mit über die Grenze fahren ließ. Sobald die Frauen in die russisch besetzte Zone kamen, banden sie sich ein Kopftuch um und färbten sich ihr Gesicht mit Asche oder Kohlenstaub. Hässlich und alt aussehen war wichtig! Tatsächlich schaffte es meine Mutter, diesmal, ein Oberbett und unser Radio mitzubringen. Dafür nahm sie all diese Strapazen und Gefahren auf sich! Heutzutage unvorstellbar!

Irgendwann im Jahre 1946 begann der normale Schulunterricht wieder. Heizmaterial gab es nicht. Bei Kälte musste man also nicht nur im dicken Mantel in der Schule sitzen, sondern auch Briketts für den Klassenofen mitbringen. Etwa 1 ½ Jahre hatte ich keinen regulären Unterricht gehabt, nun kam ich gleich ins 3. Schuljahr. Ich erinnere mich, dass unsere Lehrerin viel an die Tafel schrieb und zeichnete. Vermutlich hatten wir auch hier zunächst noch keine einheitlichen Schulbücher. Ich weiß noch, dass ich meiner Lehrerin mehrmals ein Netz mit Kartoffeln mitbringen musste. Das tat zwar ihrer Gerechtigkeit auch mir gegenüber keinen Abbruch, war aber der Beginn einer lebenslangen Freundschaft zwischen ihr und meiner Mutter und uns Kindern. Sie war es, die mich förderte und die wahrscheinlich meinen Bildungshunger weckte. Sie war es auch, die mir die ersten - wenn auch unpassenden - Bücher in meiner neuen Umgebung schenkte, z.B. das Reclamheft „Wilhelm Tell". Kinderbücher hatte sie nicht. Als ich dann im Jahre 1948 die Aufnahmeprüfung bestand und dank einer Freistelle das Gymnasium besuchen durfte, schien es für mich nur noch aufwärts zu gehen. Doch das war ein Irrtum. Es sollten sich noch weitere, unberechenbare Kriegsfolgen einstellen.

Im Jahre 1947 kehrte ein entfernter Verwandter meiner Tante aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurück und wollte ebenfalls aufgenommen werden. Da es kein weiteres Zimmer mehr gab, richteten wir ihm eine Lagerstätte auf dem Wäscheboden ein. Er war auf dem Bauernhof groß geworden, hatte keinen Beruf gelernt und sich früh freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Nun versuchte er dies und das, fand aber keine ihm zusagende Arbeit. Dennoch wollte er nach den entsetzlichen Kriegsschrecken wieder ein normales Leben führen - ebenso wie meine Mutter. Aus der Abhängigkeit heraus kommen und in einer eigenen Familie leben, das war sicherlich ein dringender Wunsch! Er und meine Mutter heirateten und konnten - bei der riesigen Wohnungsnot auch nur auf Grund von Beziehungen - eine ganz kleine Wohnung beziehen. Sie bestand aus einem Schlaf- Wohnzimmer, einer Wohnküche und einem winzigen Flur. Es gab kein Badezimmer, die Toilette war eine Treppe tiefer im Treppenhaus. Diese beengten Verhältnisse wurden noch beklemmender, als in den Jahren 1949 und 1952 meine Schwestern geboren wurden, so sehr ich mich auch über die heiß ersehnten Geschwister freute. Da die Einkünfte unregelmäßig blieben, musste nicht nur meine Mutter durch Arbeit unsere Existenz sichern, sondern auch ich musste dazu beitragen: durch die Übernahme vieler Aufgaben im Haushalt und zusätzlicher Arbeiten außer Haus.

Dies war das Ende meiner Kindheit. Dass es so früh kam, auch dafür war der Krieg verantwortlich. Er hatte die Normalität der Lebensläufe unserer Familienmitglieder zerstört.