Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

   Marlies

Abschied von der Kindheit

Eigentlich waren die Sommerferien 1939 sehr schön. Ich war mit meiner Mutter bei Verwandten in Herne und genoß das Zusammensein mit meinen Kusinen. In dem großen Bäckerhaushalt war immer etwas los, für mich als Einzelkind etwas Besonderes. Am 23. August hatte ich mit meinen Kusinen eine kleine Radtour gemacht. Als wir wiederkamen, war meine Mutter am Kofferpacken und weinte. Auf meine Frage, was los sei, sagte sie, daß mein Vater zum Militär einberufen sei und wir nach Hause müßten, damit sie seinen Platz im Geschäft einnähme. Ich war damals 8 Jahre alt und konnte nicht verstehen, wieso mein Vater ohne Abschied verschwunden war und auch nicht schreiben durfte, so daß wir nicht wußten, wo er war. Immer wieder hörte ich das Wort Krieg. Hing das mit dem Fliegeralarm zusammen, der an meinem Geburtstag im Dezember 1936 geprobt wurde?

Als wir zu Hause ankamen, ging meine Mutter sofort ins Geschäft, um Vaters Aufgaben zu übernehmen. Das bedeutete für mich, daß ich einen großen Teil des Tages allein verbringen mußte, eine für mich bis dahin ungewohnte Situation. Anfangs nahm mich eine Nachbarin mit, wenn sie mit ihrem kleinen Sohn spazierenging. Ich tat ihr leid; denn ich war oft traurig und weinte, weil ich meinen Vater vermißte.

Als dann wieder die Schule anfing, änderte sich meine Situation. Damit ich tagsüber besser betreut war, schickte mich meine Mutter in einen Kinderhort, in den ich entweder vor oder nach dem Unterricht ging; denn wir hatten inzwischen Schichtunterricht. Die Diesterwegschule, in die ich ging, diente als Sammelstelle fürs Militär. Deshalb mußten wir uns mit den Schülern der Fröbelschule deren Gebäude teilen. In den Hort nahm ich einen sogenannten „Henkelmann" für mein Mittagessen mit. In dem Kinderhort fühlte ich mich gar nicht wohl. Aber meine Mutter sah zunächst keine andere Möglichkeiten für meine Betreuung, da ja auch noch die Verdunkelung ein Problem war. Bei Einbruch der Dunkelheit durfte weder auf den Straßen noch aus den Wohnungen Licht zu sehen sein. Anfangs waren die technischen Möglichkeiten der Verdunkelung noch nicht so ausgereift und bereiteten oft noch einige Schwierigkeiten.

Inzwischen war die Kriegserklärung erfolgt, die Lebensmittel wurden rationiert, und es wurde „normal", daß Männer zum Militär eingezogen wurden. Deshalb erfuhren wir dann auch , wo mein Vater abgeblieben war. Er war beim Luftverteidigungskommando im Raum Düsseldorf. Sobald es möglich war, besuchten meine Mutter und ich ihn. Wie froh waren wir, als wir uns nach der Ungewißheit wiedersahen. Es dauerte aber noch einige Zeit, bis die Unterhaltsfrage vom Staat geregelt und diese Sorge von uns genommen wurde. Weil meine Mutter sich erst an die ungewohnte Arbeit im Geschäft gewöhnen mußte, war sie auf meine Mithilfe im Haushalt angewiesen. Also hatte ich weniger Zeit zum Spielen. Gleichzeitig ergab sich durch die Pflicht zum Dienst bei den Jungmädeln an zwei Nachmittagen eine nicht unangenehme Freizeitbeschäftigung. Neben einer politischen Schulung wurde viel gesungen und gebastelt. Einmal monatlich gingen wir nach Bethel zum Lazarettsingen. Wir besuchten dort verwundete Soldaten und brachten ihnen Plätzchen und Obst mit.

Bis 1941 verlief der Krieg noch recht erträglich für uns. Es hatte zwar häufiger Fliegeralarm und auch ein paar vereinzelte Bombenabwürfe gegeben; aber die richtigen Angriffe begannen im Juni 1941. Ein Teil der Bielefelder Altstadt wurde bei diesen Angriffen zerstört.

Als nach den anfänglichen Siegen in Rußland sich das Blatt wendete, merkten auch wir Kinder in der Schule die Veränderung. Damit die Soldaten im Winter 1942/43 mit wärmender Kleidung ausgerüstet wurden, mußte auch die Heimat mithelfen. Wir Kinder durften bzw. sollten nun während des Unterrichts Socken oder Handschuhe stricken. Da die meisten von uns noch nicht richtig stricken konnten, sollten wir Quadrate von 10 x 10 cm stricken, die dann zu Wolldecken zusammengenäht wurden. Wer wollte da nicht gern mitstricken!

Als sich der Kessel um Stalingrad immer enger schloß und die Verluste in der Wehrmacht zunahmen, waren viele hiesige Familien betroffen; denn ein großer Teil der Bielefelder Einheiten war in Stalingrad. Man traute sich oft nicht, die Familien nach ihren Söhnen oder Vätern zu fragen. Ganz schlimm wurde es nach dem Fall von Stalingrad. In der Schule wurde eine Gedenkfeier für die Gefallenen veranstaltet. Ich erinnere mich noch gut an die unheimliche, bedrückende Stimmung, die durch das Vortragen von Heldengedichten verstärkt wurde.

Im Frühjahr 1943 wurden wegen der zunehmenden Gefahr durch Luftangriffe die Bielefelder Schulen für die Schüler unter 16 Jahren geschlossen. Nun mußte man sich entscheiden, ob man an der Kinderlandverschickung (KLV) geschlossen mit der Schule, z. B. nach Bayern, teilnehmen wollte oder ob man sich selbst um eine Unterbringung in einer weniger gefährdeten Umgebung bemühte. Meine Mutter und ich wählten die so genannte Evakuierung. Obwohl ich bei Verwandten in Werther untergebracht wurde, fühlte ich mich dort nicht wohl und hatte Heimweh. In Werther gab es zwar nicht so viel Alarm wie in Bielefeld, doch fiel auch dort häufig Unterricht aus. Als es dann uns evakuierten Schülern verboten war, die öffentlichen Verkehrsmittel für die Fahrt nach Bielefeld zu benutzen, mußten andere Lösungen für die Fahrt gefunden wurden. Da ich selbst kein Fahrrad hatte, war ich froh, als mir eine Mitschülerin anbot, ihr Fahrrad mitzubenutzen. Das bedeutete, daß sie auf dem Gepäckträger saß, ich fuhr und an jeder Seite es Lenkers eine Aktentasche mit Büchern und Wäsche hing. Noch heute frage ich mich, wie ich das geschafft habe. Wahrscheinlich hat es das Heimweh bewirkt.

Dann kam am 30. September 1944 der schwere Tagesangriff auf Bielefeld. Als die ersten Bombenteppiche fielen, legten wir uns auf den Boden unseres Luftschutzkellers und versuchten den Kopf zu schützen. Je näher die Bomben kamen, desto stärker bebte der Boden, und man wartete auf den Einschlag. Wir hatten diesmal Glück. Unser Haus war nur leicht beschädigt; aber in die gegenüberliegende Häuser waren Bomben eingeschlagen, und die Bewohner krochen aus den Kellern und suchten bei uns Unterschlupf. Nachdem Entwarnung gegeben worden war, hatten meine Mutter und ich nur einen Wunsch: raus aus Bielefeld. Also packten wir das Notwendigste und hängten einige Taschen an meinen Wipproller und banden feuchte Tücher vor Mund und Nase wegen des Rauches. Aber so leicht, wie wir uns das gedacht hatten, war es nicht, dem Inferno zu entkommen. Es brannte an vielen Stellen, häufig waren auch Durchgänge durch Schutt oder Schilder mit der Warnung vor Blindgängern gesperrt. Wir irrten also lange durch die Stadt, bis wir schließlich trotz der Warnung vor Blindgängern einen Weg zum Johannesstift fanden, wo auch tatsächlich die Kleinbahn nach Werther stand und kurz darauf abfuhr. Als wir schließlich in Werther ankamen, wunderten wir uns, daß so viele Leute am Bahnhof waren und uns nach ihren Angehörigen fragten, die am Kleinbahnhof an der Herforder Str. waren, als der Luftangriff begann. Später erfuhren wir dann, daß alle in den Splittergräben am Bahnhof zu Tode gekommen waren. Auf diesen Angriff folgten von da an wöchentlich mehr oder weniger schwere Luftangriffe. Manchmal geschah es, daß bei einem dieser Angriffe meine Mutter in Bielefeld war, um aus unserer Wohnung dringend benötigte Dinge zu holen. In meiner Angst versteckte ich mich dann im Wald vor den Flugzeugen, die über mir dröhnten.

Als zu Beginn des Jahres 1945 nicht nur Flüchtlinge aus dem Westen, sondern auch dem Osten nach Werther kamen, besprachen wir Kinder in den Schulpausen oft, wie man sich am besten vor den heranziehenden Feinden, besonders den Russen, schützen könnte, denn in den Zeitungen fanden wir schlimme Berichte über die Feinde.

Bis die Amerikaner dann die hiesige Gegend eroberten, fand noch meine Konfirmation statt. Es war ein bedrückendes Erlebnis; denn am Tag zuvor hatte noch ein schwerer Angriff auf Bielefeld stattgefunden. Darüber hinaus hatten wir schon einige Zeit von meinem Vater keine Nachricht erhalten und wußten nicht, wo er war. Daß wir nur in einem kleinen Zimmer wohnten, nahmen meine Mutter und ich als normal hin.

Am 1. Ostertag war es dann so weit: Die Amerikaner kamen! Wir waren mit den anderen Bewohnern des Hauses in den Keller gegangen. Kurz vorher hatten wir noch im Garten hinter dem Haus einen deutschen Spähtrupp gesehen, während auf der Straße vor dem Haus die feindlichen Panzer einfuhren. Als wir später erfuhren, daß aus der gegenüberliegenden Post eine Hakenkreuzfahne sichtbar wurde, die Amerikaner sich jedoch damit begnügten, sie herunterzureißen um mit den Panzern darüberzufahren, lief es uns vor Angst eiskalt den Rücken herunter. Allmählich übernahmen die Amerikaner das Kommando, und es gab eine gewisse Ordnung. Wir konnten uns relativ sicher fühlen; denn die Apotheke, in der wir wohnten, wurde vor Übergriffen sowohl der Amerikaner als auch der teilweise recht gefährlichen Fremdarbeiter durch ein Off limits-Schild geschützt. In dieser Zeit fragte ich mich oft: Wer gibt uns denn jetzt die Befehle? Die Führer und Führerinnen von Hitlerjugend und BDM, die uns noch bis vor kurzem unter Druck gesetzt hatten, wenn wir nicht zum „Dienst" kamen, waren alle verschwunden. Diese Erfahrung trug dazu bei, daß ich und mit mir bestimmt viele Gleichaltrige, viele Erwachsene sehr kritisch sahen und wir nicht wußten, wem wir glauben sollten.