Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Rosemarie

 

Jetzt war ich schon fünf Tage jeden Morgen mit meiner eineinhalb Jahre jüngeren Cousin zur Schule gelaufen. Sie war zwei Klassen unter mir, aber wir mussten ins gleiche Schulgebäude, und für mich war der Weg neu.

Ich war erst wenige Tage vorher hier nach Inowroclaw gekommen, es war Dezember 1943, und es war bitterkalt. Ab und z fiel der erste Schnee des Jahres, kleine starre Flocken fielen auf die graue, öde Stadtsiedlung, in der wir nun bei einem Bruder meiner Mutter und seiner Familie untergekommen waren.

Man merkte der ganzen Familie an, dass sie über unseren Aufenthalt hier nicht glücklich waren, denn die Wohnung war klein, zweieinhalb Zimmer, und nun lebten hier 6 statt 4 Personen. Meine Mutter und ich schliefen in dem kleinen, dem „halben" Zimmer, meine ältere Cousine konnte im Internat ihrer Schule Schlafen, und die kleine Cousine schlief nun bei ihren Eltern im Schlafzimmer.

Meine Mutter und ich hatten uns den Weg hierher auch nicht ausgesucht. Wir waren in die „Evakuierung gegangen". In Berlin waren in unserer Wohnsiedlung schon viele Häuser von Brandbomben oder Sprengbomben getroffen worden, und in unserem Haus waren alle Fenster kaputt und jetzt mit Pappen oder mit Sperrholzplatten zugemacht. Es war nicht mehr hell und sehr kalt, und seit Herbst 1942 hatten wir keine Nacht mehr ohne Fliegeralarm verbracht. In einem Kellerraum des Hauses hatten die Bewohner, - insgesamt vier Familien, bereits alles ausgeräumt und Kinderbetten und Liegen hingestellt, damit wenigstens die Kinder hier während der Alarmstunden schlafen konnten.

Nun waren wir hier in einer fremden Stadt, in einer fremden Wohnung bei Verwandten, die wir zuvor eigentlich nie wirklich getroffen hatten.

Selbstverständlich kannte meine Mutter ihren Bruder aus gemeinsamer Kinderzeit, aber schon nach dem ersten Weltkrieg waren die fünf Geschwister alle in andere Orte gegangen, hatten dort geheiratet, - eigentlich war man sich fremd.

An diesem Morgen hatten meine Tante und meine Mutter beschlossen, dass nun meine Cousine und ich ab jetzt jeweils zum Beginn des eigentlichen eigenen Unterrichtes zur Schule gehen konnten, und nach Schluss auch jede gleich nach Hause, ohne auf die andere zu warten. Denn jetzt kannte ich den Weg ja auch.

Mit meiner Cousine war ich einen Weg gegangen, der erst durch die graubraune Wohnsiedlung führte, dann über einen Marktplatz mit Kopfsteinpflaster, der mir sehr groß erschien, weil er immer ganz leer war. Auch in den umstehenden Häusern war alles ganz unwirklich still. Hier auf dem Marktplatz bemerkte man das sachte Fallen des dünnen Schnees ganz deutlich, und diese Stille des leblosen Marktplatzes machte mir Angst.

Die Kinder meiner Klasse fragen nach meinem Schulweg, woher ich käme, und was man eine Neue so fragt und sagten zu mir: "Du kannst den Schulweg doch abkürzen und über den alten Friedhof gehen." Ich hatte andere Kinder schon diesen Weg einschlagen sehen.

Ich war ein sehr stilles Kind, und ich war auf solchen Wegen gerne allein, weil ich versuchte, mit Gedanken mein Leben irgendwie zu begreifen, zu verstehen, was mit uns geschehen war, was mit uns jetzt geschah.

An einem Tag, bald nachdem ich allein zur Schule ging, steuerte ich dann auf dem Schulheimweg auch auf die Abkürzung über den Friedhof zu.

In B. hatte es ganz nahe unserer Wohnung auch einen Friedhof gegeben, auf den ich sehr gerne gegangen war. Da war es nicht still und sehr grün unter hohen Bäumen, und es gab Blumen, besonders wunderschöne lila Akeleien und Vergissmeinnicht und Stiefmütterchen, und es gab Vögel, die zwitscherten und piepsten.

Nachdem ich d i e s e n Friedhof betregen hatte, ging der Weg bergauf, die Bäume waren gefällt, es war weiß-grau, kalt, kahl, und es ging ein sehr kalter Wind.

Weiter oben auf diesem Hügel waren Gräber ausgehoben. Sie standen nun offen, die Erde war gefroren; auf den Wegen und den Wegrändern lagen Beckenknochen und Totenschädel, und die Kirche, eine Synagoge, wie ich später erfuhr, war zur Hälfte zerstörte, wirkte ruinenartig. Vom Hügel abwärts rutschte ich, der weg war vereist.

Ich hatte einige andere Kinder erreicht, die offensichtlich auch aus der Schule gekommen waren; sie schlinderten die Straße bergab und kullerten dabei drei oder vier Togenköpfe vor sich her, etwa so wie Fußbälle.

Ich lief nach Hause und berichtete meiner Mutter fassungslos die Ereignisse dieses Heimwegs. „Das sind doch Juden", sagte meine kleine Cousine. Es war eine ganz nüchterne Feststellung, die offensichtlich keines Kommentars bedurfte.

An diesem, dem nächsten oder dem dann folgenden Tag, sehr bald nach dem Weg über den Judenfriedhof, sollte ich nun auch die Einkaufswege kennen lernen.

Meine kleine Cousine und ich bekamen jede eine Milchkanne, Geld und Lebensmittelkarten und wurden zum Milchladen geschickt. Der Milchladen war so düster und grau wie alles in dieser Stadt; er war sehr geräumig und in drei Abteilungen eingeteilt.

Die Frau, die Milch verkaufte, bediente zuerst zwei Frauen, die Milch für "Mütter mit kleinen Kindern" bekamen, dann alle anderen, vielleicht drei oder vier Personen, und auch uns. Meine Cousine kannte das Ganze hier. Ich sah in den anderen Teil des Ladens. Dort stand eine Gruppe von Leuten, die meine Cousine mir mit "das sind Volksdeutsche" kommentierte.

Es gab dann noch eine dritte Gruppe, mit verhärmten Gesichtern. Sie sahen nicht zu uns herüber. Auf ihrer Kleidung hatten sie einen gelben„"Judenstern" aufgenäht. Die milchverkaufende Frau rief ein bis zweimal mit sehr unfreundlicher Stimme etwas zu dieser Gruppe hinüber.

Ich fühlte mich wie angezogen von diesen Leuten und muss wohl auf sie zugegangen sein, den irgendwie stand ich dann neben ihnen.

Und dann geschah etwas, das mich fassungslos machte. Ein sehr alter Mann starrte mich mit großen Augen an und machte plötzlich eine tiefe Verbeugung vor mir, - vor mir, einem Kind von 9 Jahren und sein Gesicht sah mich an, als würde er vor Angst laut aufschreien wollen. Aber er schrie nicht, er war stumm, und ich muss ihn angestarrt haben vor Entsetzen darüber, dass er vor m i r Angst hatte, vor m i r, einem Mädchen von 9 Jahren.

Ich muss wohl zu lange in dieser Haltung gestanden haben, denn plötzlich merkte ich, dass meine kleine Cousine mich an die Hand nahm, mir den Henkel einer Milchkanne in die andere Hand drückte und mich zur Ladentür erst zog, dann schob und sagte „Du darfst dich nicht dahin stellen, das sind doch Juden". Sie sagte es ganz sachlich, und so, wie sie es sagte, bedurfte es keines Kommentars.

In meinem Kopf begann es zu pochen und zu rasen. Meine Gedanken brachten ein Bild hervor, - eine Brücke, - wie ein grauer schmutziger Regenbogen sah sie aus, sie reichte von dem Judenfriedhof zu dem vor Angst erstarrten Geschichtsausdruck des alten Mannes. Was hatte er zu befürchten?

Wer war ich, dass ein alter Mann mit weißem Haar Angst vor mir hatte? Mit Entsetzen habe ich plötzlich gewusst, in welcher Art von Welt ich mich befand..

An diesem Tag habe ich einen weiteren Teil meiner Kindheit verloren und die Ereignisse der nachfolgenden Jahre komplettierten diesen Prozess schnell und gründlich.