Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

  Rudolf

 

Kinderlandverschickung

Schon im Jahre 1940 hatte Hitler eine Verordnung zur Kinderlandverschickung erlassen. Die Schüler und Schülerinnen aus den Städten, die nächtlichen Luftalarmen ausgesetzt waren, sollten in sichere Gebiete geschickt werden. Zunächst geschah das auf freiwilliger Basis.  Doch als die Angriffe der Alliierten sich häuften, wurde der Druck auf die Bevölkerung so stark, dass sich kaum eine Familie entziehen konnte.

Insgesamt wurden bis Kriegsende 2,5 Millionen Schulkinder in ca. 9.000 Lagern untergebracht. 

Im Herbst 1943 wurde es auch für uns Bielefelder Kinder Ernst. Meine Schule, das Staatlich-Städtische Gymnasium (heute Ratsgymnasium)  wurde – wie alle Großstadtschulen – geschlossen. Zusammen mit vielen anderen Schülern aus drei Jahrgängen musste auch ich Ende Oktober meine Sachen packen. Zu dem Zeitpunkt war ich 13 Jahre alt und besuchte die Quarta.

Eigentlich sollten die Klassen geschlossen verschickt werden, doch etliche Eltern fanden eine andere Lösung. Sie schickten ihr Kind zu Verwandten auf dem Lande. Denn  der Anordnung  entziehen konnte sich nur derjenige, der den Nachweis erbrachte, dass sein Kind irgendeine  Schule besuchen konnte, auch wenn es eine Volksschule war.

Meine Eltern hatten solch eine Möglichkeit nicht. Sie mussten ihr einziges Kind ziehen lassen. 

Auf meinen alten Fotos sehe ich uns alle in unseren HJ-Uniformen mit den dazu gehörigen Mützen am Bahnhof stehen. Später trugen wir diese Uniformen aber nicht immer oder nur teilweise.

Es hieß Abschied nehmen von den Eltern und mit einem Koffer – mehr war nicht erlaubt -  in eine für uns ungewisse, unbekannte Umgebung zu fahren. Wir wussten nur, dass es nach Ungarn ging. Wir wussten nicht, für wie lange und wohin genau. Aber vier unserer Lehrer und deren Frauen begleiteten uns. In Sonderwagen, die immer wieder an andere Linienzüge angehängt wurden, waren wir tagelang unterwegs. Versorgt wurden wir vom Roten Kreuz. Alles war gut organisiert. So erinnere ich mich, vermutlich weil es diesmal gar nicht schmeckte,  noch genau an einen Aufenthalt auf dem Wiener Hauptbahnhof. Jeder von uns bekam einen  Schlag Nudeln ins mitgebrachte Essgeschirr. Das Besteck hatten wir auch immer selbst dabei: einen Löffel und eine Gabel, die an den Enden zusammen geschraubt waren und nach dem Gebrauch wieder zusammen geklappt wurden. Kurz nach dem Verlassen des Wiener Bahnhofs jedenfalls haben wir die Nudelmahlzeit nach draußen gekippt. 

Am 31. Oktober kamen wir endlich am späten Abend in Torzca an. Torzca, deutsch Torschau, liegt nördlich von Novi Sad und gehörte damals zu Ungarn. Der Ort  war eine volksdeutsche Siedlung. Seit 1784 hatten dort nur deutsche Kolonisten, v. a. Bauern und Handwerker aus Süddeutschland, gesiedelt.

Wir versammelten uns im Gemeindehaus. Hier warteten die Gasteltern auf uns. Sie suchten sich ihre Pflegesöhne aus, fast wie auf einem Pferdemarkt. Mein Gastvater trug – wie alle anderen auch  - das Parteiabzeichen. Als ich eingezogen war,  brachte er außen neben der Haustür ein Abzeichen mit einer Rune an. Es signalisierte allen, dass er ein reichsdeutsches Kind aufgenommen hatte. Ansonsten erinnere ich mich nicht an eine ausgesprochen nationalsozialistische Stimmung im Haus, obwohl man in der Familie mit „Heil Hitler“ grüßte. Ich fühlte mich jedenfalls herzlich angenommen. 

Trotzdem war ich enttäuscht. Als Stadtkind hatte ich  mir immer gewünscht, zu einem großen Bauern mit Pferden und vielen Tieren zu kommen. Statt dessen war ich bei einer 6-köpfigen Familie (einschließlich dem Großvater) gelandet, die nur 2 Kühe, einige Schweine und natürlich Federvieh besaß. Mein Gastvater war kein Bauer. Er war anderweitig beschäftigt und viel unterwegs. Die kleine häusliche Nebenerwerbsstelle musste von der ganzen Familie bewirtschaftet werden.

Das Haus war aus Lehm und Stroh gebaut Auf den ebenfalls aus Lehm gestampften Fußboden spuckten die Männer gelegentlich. Geheizt wurden die Räume mit einfachsten Blechöfen, die mit Häcksel gefüllt wurden. Nicht jedes Kind hatte einen  eigenen Schlafraum. Auch ich musste mir das Bett oft mit meinem Pflegebruder Fritz teilen. Wir schliefen auf einem mit Maisstroh gefüllten Sack. Die Toilette auf dem Hof war natürlich ein Plumpsklo. Statt des Toilettenpapiers gab es entweder in Stücke gerissenes Zeitungspapier oder leere Maiskolben.

Auch ein Badezimmer gab es nicht. Darum gingen wir Schüler einmal in der Woche geschlossen in die Hanffabrik, um dort zu duschen. 

Die Lebensgewohnheiten waren völlig anders, als ich sie kannte. Plötzlich hatte ich Einzelkind drei Geschwister. Die Verpflegung war deftig, aber reichlich und gut. Das Brot, riesige Laibe, wurden wöchentlich selbst draußen in einem Backhäuschen gebacken. Allerdings musste ich mich daran gewöhnen, bei Tisch aus demselben Krug zu trinken, aus dem alle tranken. Wochentags war er mit Wasser gefüllt, am Wochenende oft mit Wein, den auch ich mit trank. Dabei drehte ich den Krug immer so, dass ich oberhalb des Henkels trank. Diese Stelle war von den anderen meistens nicht benutzt worden. 

Bei all den ungewohnten Verhältnissen  lief der Unterricht jedoch ordnungsgemäß weiter. Im Kulturheim des Ortes wurden drei Räume als Klassenräume hergerichtet.  Unsere vier Lehrer bemühten sich, uns in allen notwendigen Fächern zu unterrichten.

Daneben gab es eine zusätzliche „Betreuung“ durch unseren Lagermannschaftsführer, einem älteren Jugendlichen aus der Hitler-Jugend. Bei ihm mussten wir nachmittags zum Dienst antreten. Wir mussten singen, exerzieren oder nationalsozialistische Aufklärung über uns ergehen lassen. 

Doch im Laufe des Jahres 1944 verschlechterte sich die Situation der Deutschen in dieser Gegend zunehmend. Titos Partisanen wurden immer gefährlicher.

Darum verließen wir am 10. Mai 1944 Torschau wieder, voll gepackt mit Lebensmitteln, wie ganzen Schinken, Mehl und Fett (das nachher bei manchen aus dem Koffer lief).

Zu Hause in Bielefeld  durften wir dann 11 Tage „Urlaub“ machen. Glücklicherweise blieben wir während dieser Zeit von Angriffen verschont. 

Doch am 21. Mai ging es wieder los, diesmal nach Chozen in der Tschechoslowakei, östlich von Prag. Wir wurden von denselben Lehrern begleitet wie vorher. Unser Lagermannschaftsführer war dagegen ein anderer: ein nicht mehr kriegsdiensttauglicher, verwundeter Feldwebel aus Süddeutschland. Ihm hörten wir begeistert zu, weil er uns seine Kriegserlebnisse sehr anschaulich erzählen konnte.

Diesmal war die Situation jedoch ganz anders. Wir wurden nicht bei Gastfamilien einquartiert, sondern in einem Schloss. In Zimmern mit 6 bis 8 Mitschülern.

Dabei stand uns das Schloss vollständig zur Verfügung. Hier hatten wir auch unsere Unterrichtsräume, eine Küche und einen Esssaal. Gekocht wurde von  einheimischen Frauen. Das Tischdecken und Bettenmachen sowie die Hilfe in der Küche  gehörten jedoch zu unseren Aufgaben.

Wieder wurden die Tage durch den Unterricht und durch die Dienste am Nachmittag strukturiert. Zusätzlich machten wir Fahrten. So z. B.  nach Prag, Königgrätz und Pardubice, wo wir jeweils mehrere Tage verbrachten. In Pardubice schliefen wir im Zeltlager. Hier gehörte ich zur Wachmannschaft und erinnere mich an die nächtlichen Wachstunden.

In unseren Freistunden konnten wir uns in Chozen allerdings frei bewegen. 

Diese Zeit ist mir insgesamt nicht unangenehm in Erinnerung, das Heimweh plagte die meisten und auch mich nicht allzu sehr. Die Lehrer kümmerten sich um uns und um unsere Probleme und die Lehrerfrauen ebenso. Außerdem nähten sie uns gelegentlich Knöpfe an und stopften unsere Strümpfe. Waschen mussten wir die kleinen Teile, wie Socken, Taschentücher, selber, manchmal auch mit Zahnseife, wenn  das Waschpulver oder  die Seife ausgegangen waren. Dann dufteten die Strümpfe ungewohnt nach Pfefferminz. Ansonsten wurde die Wäsche in einer Wäscherei gewaschen.  

Doch nach etwa einem halben Jahr wurden wir wieder umgesiedelt, diesmal nach Wamberg, das etwas zentraler in der Tschechoslowakei lag.

Jetzt zogen wir in eine, für unsere Zwecke hergerichtete Schule. Zum Unterricht mussten wir allerdings jeden Tag  in ein anderes, ebenfalls für uns reserviertes Schulgebäude gehen. Und das in geschlossener Formation, denn langsam wurde es gefährlich für uns. Wenn wir einzeln unterwegs waren, konnte es passieren, dass  wir von den Einheimischen bedroht wurden. Inzwischen war es Ende 1944. Die Ostfront näherte sich. Einige ältere Schüler aus unserem Lager wurden jetzt zum Ausgraben von Schützengräben heran gezogen, einer Arbeit, die für die untrainierten Jugendlichen viel zu schwer war. Manche waren regelrecht verstört, als sie wieder zu uns stießen. 

Eines Tages hieß es: „Sofort die Koffer packen!“

Diesmal  verließen wir nicht nur den Ort, sondern das Land, die Tschechoslowakei, um ins „Deutsche Reich“ umzuziehen. Wieder mit einem Sonderzug. Aber nicht nach Hause. 

Das letzte Stück der Reise mussten wir per Bus zurück legen und kamen schließlich in einem wunderschönen Hotel am Walchensee (Oberbayern) an. Das Hotel lag sehr einsam. Der Ort hieß bezeichnenderweise Einsiedl. In der Nähe existierten nur ein Sägewerk und ein paar Ferienhäuser. Wenn wir zum Arzt mussten, bedeutete das  weite Fußmärsche nach Krünn. Zum Friseur ging’s nach Walgau. Manchmal hatten wir aber auch Glück und konnten mit einem Lastwagen des Sägewerks mitfahren. 

Ansonsten war das Leben immer noch von Regelmäßigkeit gekennzeichnet. Selbst unser Lagermannschaftsführer hatte uns hierher begleitet.

Nach wie vor litten wir keinen Hunger.

Ich hatte die Aufgabe, mit einem Freund zusammen täglich die Post aus dem 7 km entfernten Urfeld am anderen Ende des Walchensees zu holen. Jedes Mal, wenn ich zurück kam, stürmten mir meine Mitschüler schon entgegen, um zu erfahren, ob sie überhaupt Post bekommen hatten. Denn zunächst musste ich die gesamte Post beim Lagerleiter abliefern. Er verteilte sie dann. Immer öfter trafen inzwischen Nachrichten vom Tod eines Angehörigen oder von Bombenschäden zu Hause ein. Ich weiß nicht, ob die Briefe vorher geöffnet wurden, aber wenn eine Todesnachricht ankam, nahm der Lagerleiter den Jungen bei Seite um ihn nicht allein zu lassen.

Wir waren 14 Jahre alt und wurden etwa 2 Wochen vor Kriegsende in Urfeld  in einer schlichten Zeremonie konfirmiert, in der katholischen Kirche.

Hier mussten wir auch öfter zu Begräbnissen antreten, wenn Soldaten im nahe gelegenen Lazarett gestorben waren.

Unser Miteinanderleben war nach wie vor recht gut. Besonders interessant wurde es für uns, als sich Teile der deutschen Wehrmacht in dieser Gegend auflösten. Wir stromerten im Wald umher und entdeckten Waffen und Munition und kletterten auf zurück gelassene Wehrmachtsfahrzeuge. Glücklicherweise ist uns allen dabei nichts passiert.

Darüber hinaus hatten wir heraus gefunden, dass in etlichen Bootshäusern am See Lebensmittel, Alkoholika und Tabakwaren gehortet wurden. Einer von uns musste dann jeweils unter den Wänden hindurch tauchen, von innen ein Fenster öffnen und die Kostbarkeiten heraus reichen. Dabei durften wir uns natürlich nicht erwischen lassen. 

Plötzlich kamen immer mehr Leute in unser Hotel, die Anzahl unserer angeblichen Lehrer wuchs. In Wirklichkeit waren es Offiziere der Wehrmacht.

Unter ihnen war auch Generaloberst Guderian. Nie werde ich vergessen, wie er  jedem von uns die Hand gab mit den Worten: „Jungs macht ihr es besser als wir.“ (Am 10. Mai kam er in amerikanische Gefangenschaft.) 

Ende April, Anfang Mai 1945 erhielt jeder von uns zwei Brote, die nicht sofort verzehrt werden durften, sondern als eiserne Ration für die unbekannte Zukunft gedacht waren. Sie mussten nach einigen Tagen wieder abgeliefert, um durch neue ersetzt zu werden. Die alten wurden in der Küche  verbraucht, z. B. für Brotsuppe. Die Lebensmittelrationen waren kleiner geworden, und manch einer hatte nun Hunger. Sie höhlten geschickt das Innere der Brote für sich aus und gaben nur die Hülle ab. Einige stahlen auch. So hatte ein Freund Nudeln aus dem Vorratslager entwendet. Er wurde entdeckt und von den Mitschülern windelweich geprügelt. 

Eines Vormittags erschienen plötzlich amerikanische Jeeps.  Uns fielen die fremden Uniformen und Stahlhelme auf. Ich sah ich zum ersten Mal einen Schwarzen.

Alle Lehrer wurden auf einen amerikanischen Lastwagen verladen und verschwanden für einige Tage. Die Offiziere und der Lagermannschaftsleiter waren nicht mehr zu sehen.

Jetzt kümmerten sich die Lehrerfrauen um uns. 

Die Verbindung zur Heimat war abgerissen. Doch in Bielefeld blieben unsere Eltern nicht untätig. Den Staat gab es nicht mehr. Sie mussten sich jetzt selber kümmern.

Unserem Nachbarn, Herrn Grimm, gelang es, einen Sanitätsbus zu organisieren, der auf der Rückfahrt aus Bayern einige Mitschüler und mich  mit nach Bielefeld nahm.

Ich fand meine Eltern und mein Heim unversehrt vor.

Damit war für mich Ende Mai 1945 der Krieg zu Ende. Ich war 14 Jahre alt und zwei Jahre lang – bis auf 11 Tage – nicht zu Hause gewesen.

Die anderen Mitschüler wurden im Juni/Juli in zwei von der Stadt Bielefeld organisierten Fahrten zurück geholt.