Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

Werner

 

Leben eines 10 jährigen Jungen in der eingeschlossenen Festung Breslau

Am 20. Januar 1945 begann die Evakuierung der Breslauer Zivilbevölkerung, als die Ostfront bis auf 60 km an die Stadt herangekommen war. Das Chaos auf den überfüllten Bahnhöfen ließ vielen keine andere Wahl, als sich zu Fuß bei 20 Grad Kälte in südlicher und westlicher Richtung auf den Weg zu machen. Obwohl es hieß, daß Frauen und Kinder die Stadt sofort zu verlassen hätten, entschlossen sich meine Eltern, sich nicht als Familie auseinanderreißen zu lassen, sondern lieber gemeinsam unterzugehen oder zu überleben. So blieben wir in der Festung Breslau, die am 15. Februar von der Roten Armee eingeschlossen wurde. Meine Mutter, meine 6 jährige Schwester und ich hausten im Keller, mein Vater - als Bäcker noch einige Wochen vom Wehrdienst befreit - wurde bald zum Volkssturm eingezogen. Es gab für 7 Mann nur ein Gewehr. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln war sowohl für die Soldaten als auch für die Zivilbevölkerung ausreichend, weil die angelegten Vorratslager eine zweijährige Belagerungszeit möglich gemacht hätten. Zuerst gab es noch elektrischen Strom in den Kellern, die durch Mauerdurchbrüche über ein ganzes Häuserviertel miteinander verbunden waren. Später fiel der Strom wegen der Bombenangriffe und der Granateneinschläge immer häufiger aus. Wir behalfen uns - so gut es ging - mit Karbidlampen, Petroleum und Kerzenlicht. Ständiger Begleiter in unserem Keller - Alltagsleben war die Angst.

Der Russe „arbeitete" nach der Uhr: Von Mitternacht bis zum frühen Morgen war es meistens verhältnismäßig ruhig. Von 6 bis 10 Uhr herrschte Artilleriebeschuß bis in die Innenstadt, mit dauerndem Rollen und dumpfen Explosionen, mal weiter weg, mal näher. Von 10 bis 13 Uhr folgten die Flugzeuge, erst Jäger, dann Bomber. Immer wieder bebten die Kellermauern und der Boden. Dazu kam die Furcht, die Kellerdecke könnte einstürzen und uns alle erschlagen. Die Sowjetflugzeuge hatten keinen weiten Weg zurückzulegen, weil sie nur außerhalb des Festungsringes zu starten und zu landen brauchten. Nach etwa 2 stündiger Pause gingen die Bombenangriffe weiter bis gegen 18 Uhr. Zu Beginn der Dämmerung tauchte ein eigenartiger russischer Doppeldecker auf. Er machte ein ähnliches Geräusch wie eine Nähmaschine und hieß deshalb auch so. Die Nähmaschine war gefürchtet, denn sie tauchte immer da auf, wo man sie nicht vermutete. Sie warf zuweilen eine Leuchtkugel ab und traf dann auch meistens das Ziel, das ihr ein Sonderauftrag bestimmt hatte. Nach 22 Uhr kamen manchmal noch deutsche Flugzeuge, meistens vom Typ Ju 52, und brachten uns Medikamente und Munition, vielleicht auch Post.

Sirenen für Fliegeralarm gab es schon ab Februar nicht mehr. Wir waren also auf unser Gehör angewiesen, das trotz Gefechtslärm immer feiner wurde für Flugzeuge auch in großer Höhe. Noch 8 Jahre später wachte ich nachts aus dem Schlaf, wenn ich ein einsames, friedliches Flugzeug „ortete", Wahrnehmung aus der Kriegszeit.

Der schlimmste Tag in meinem Leben war Ostersonntag, der 1. April 1945. Es herrschte strahlendes Frühlingswetter und bis 10 Uhr eine Ruhe wie im tiefsten Frieden. Aber dann kamen die ersten Angriffswellen, und das Inferno brach herein. Längst waren die Menschen in ihre Keller geflüchtet, als die Bomben schon an der nächsten Straßenecke in etwa 300 Meter Entfernung niedergingen und explodierten. Das Schlimmste folgte jedoch erst am Nachmittag. Wieder brummten die schwerbeladenen Bomber. Auf einmal ein leises Beben, ein Aufblitzen, dem ein lauter Knall folgte, und schon brach unter dem gewaltigen Luftdruck und unter den anprallenden Ziegelstücken die Kellertür zusammen. Nach wenigen Augenblicken war der Keller in Ziegelstaub gehüllt. Um frische Luft zu bekommen, verließen wir fluchtartig den Keller. Zum Glück war das noch möglich. Das Hinterhaus war ein Trümmerhaufen. - Kurze Zeit später traf uns die dritte Angriffswelle. Die Jagdflugzeuge fegten erneut mit ihren Bordwaffen die Straßen „sauber". Dann folgten die Bomber. Wieder ein leises Beben, ein langes Rollen, ein furchtbares Krachen; dann fuhr der Luftdruck durch den Keller, daß die Kerzen und Petroleumlampen im Nu verlöschten. Wieder eine gewaltige Detonation. Der Luftdruck schüttelte uns und warf uns gegen die Wand. Es war stockfinster, und wir bekamen kaum Luft durch den vielen Staub, der diesmal noch stärker war als vorhin. Im Nachbarkeller hielten wir dann nasse Handtücher vor Mund und Nase. Das wirkte gut, denn nach oben konnten wir jetzt nicht. Die Todesangst trieb uns ein Vaterunser nach dem anderen auf die Lippen. Gott hatte uns errettet. Aber die vielen Todesopfer! Wo war er in ihrer letzten Stunde? - Erst am Abend konnten wir uns aus dem Keller wagen. In der Nähe am Ohlauer Stadtgraben brannte ein großes Haus lichterloh. Vom Brummen der Motorspritze begleitet, schliefen wir ermattet ein, vollständig angezogen, um immer bereit zu sein. Am nächsten Morgen zogen wir in einen anderen Stadtteil in den Keller.

Diesen ersten Ostertag 1945 empfinde ich seitdem als meinen ersten Todestag und meinen zweiten Geburtstag. Träume vom Krieg und von der Bedrohung durch feindliche Flugzeuge habe ich manchmal noch bis heute.

Da der Flughafen Gandau an die Sowjets verlorenging, sollte mitten in der Stadt rund um den Scheitniger Stern ein sogenanntes „Rollfeld" gebaut werden. Nach der Sprengung ganzer Häuserviertel wurde zu den Räumungsarbeiten neben dem Volkssturm auch die Zivilbevölkerung herangezogen. Auch meine Mutter mußte unter Lebensgefahr dort arbeiten, denn der Platz stand unter Beschuß durch feindliche Tiefflieger. Drückebergerei gab es nicht, weil sog. „Arbeitskarten" täglich von der Ortsgruppenleitung gestempelt werden mußten. Sie waren stets bei sich zu führen und bei Kontrollen vorzuzeigen. Diese Vorschrift galt übrigens auch für Jungen ab 10 und für Mädchen ab 12 Jahren. So war auch ich dienstverpflichtet. Zum Glück wurde ich nicht als Melder an der Frontlinie eingesetzt, sondern „durfte" im sicheren Keller des Ortsgruppenleiters die Gläser vom Zechgelage der vergangenen Nacht spülen, um meinen Stempel zu bekommen. Diesem Umstand verdanke ich wahrscheinlich mein Leben. Daß meine Mutter ihre Arbeit auf dem Rollfeld wie durch ein Wunder ebenfalls überlebt hat, verdankt sie vielleicht meiner Schwester, die schweren Keuchhusten bekam. Ein ärztliches Attest befreite Mutter von der Arbeitspflicht. Der ebenso gefährliche Keuchhusten in stickigen Kellerräumen hat so meiner Mutter indirekt das Leben gerettet. Das Rollfeld wurde übrigens nur einmal genutzt: zur Flucht des Gauleiters Hanke in einem Fieseler Storch. Es zeigt die tragische Sinnlosigkeit der vielen vergeblichen Opfer.

Das Kriegsende - für Berlin am 3. Mai, für Breslau am 6. Mai - erlebten und überlebten wir im Keller unter der ausgebrannten Ruine und dem noch heißen Schutt unseres Wohnhauses. Mein Vater entzog sich durch „feige Flucht" aus dem Volkssturmkeller der russischen Kriegsgefangenschaft. Als kranker Zivilist verkleidet, kam er zu uns in den Keller zurück. Unsere Familie war nicht untergegangen. 5 Tage später wurde ich am 11. Mai 11 Jahre alt. Die Waffenruhe war mein schönstes Geburtstagsgeschenk.

Die Durchhalteparolen „Bis zur letzten Patrone", „bis zum letzten Atemzug" verfehlten auch bei uns nicht ihre Wirkung: Öffentliche Erschießungen der SS bei „Feigheit vor dem Feind" verstärkten unsere Angst, auch der Satz „Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt ihn in Schande". Hinzu kam die geschürte Furcht vor den „entmenschten" Russen.

Als die Rote Armee am 7. Mai 1945 in Breslau einmarschierte, gab es zahlreiche Plünderungen, Vergewaltigungen und Erschießungen. Der Krieg, von Deutschland unter Hitler ausgegangen, schlug nun mit voller Wucht auf uns zurück, auch noch lange nach dem Waffenstillstand.

(Erinnerungen, gestützt durch Tagebuchaufzeichnungen)