Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

Heinrich  

1945 Niedergang und Aufbruch                      

Die Kapitulation der deutschen Wehrmacht (8. Mai) erlebte ich in einem der berüchtigten Rheinwiesenlager (Büderich bei Wesel), von wo aber ein Großteil der Kriegsgefangenen in ein noch schlimmeres Lager (Rheinberg) verlegt wurde. Nach der Kapitulation wurde der Status des „Prisoner of war /PoW), der auch einen gewissen Schutz durch die Genfer Konvention verleihen sollte, einseitig durch den Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, den US-amerikanischen General Dwight D. Eisenhower, aufgehoben und stattdessen wurden wir „DEF“ – Disarmed Enemy Forces“- Entwaffnete Feindstreitkräfte – ohne jeden Schutz. Das zeigte sich schnell an den Verpflegungsrationen. Im Gegensatz zu den alliierten Behauptungen, dass man der Masse der gefangenen Soldaten nicht anders Herr werden konnte, hat der kanadische Author James Bacque in seinem Buch: „Der geplante Tod“ (Ullstein, 9. Auflage) nachgewiesen, dass genau dieses das Ziel der US-Streitkräfte war, denn außer den französischen Truppen haben sich die anderen nicht an die Vorgabe gehalten. Dann kam irgendwann im Juni 1945 die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und Nordwestdeutschland wurde ein Teil der britischen Besatzungszone, somit auch Rheinberg, das in der Nähe von Moers gelegene Kleinstädtchen auf dem Wege zum niederländischen Venlo.

Eines Sonntags wurden die „Stars & Stripes“ eingezogen und durch den „Union Jack“ ersetzt. Die US-amerianischen Wachen verschwanden und ein schottisches Regiment übernahm den Wachdienst. Am späten Sonntagabend kommt ein einzelner britischer Offizier, offensichtlich unbewaffnet, nur mit seinem „swagger stick“ unter dem Arm in das Lager, um sich umzuschauen. Der Eindruck vor Hunger tausender sterbender Soldaten, die ohne Schutz vor den Frühjahrsregen in Erdlöchern hausten, muss wohl so einen starken Eindruck auf den Offizier gemacht haben, denn 3 Tage später gab es plötzlich so genannte 24-hour rations, kleine Päckachen mit konzentrierter Kraftnahrung, jedoch Ein-Mann-Päckchen für zwei Kriegsgefangene. Diese wurden nach ein paar Tagen erweitert durch größere Päckchen für 3 oder 4 Soldaten, die dann aber jeweils mit der doppelten Zahl geteilt werden mussten, jedoch u.a. Leckereien wie Rollschinken, Ölsardinen, Plumpudding und Sweets enthielten. Gleichzeitig lief eine große Entlassungsaktion an und zwar beginnend mit den unter 20-jährigen. Hierzu gehörte auch ich, ich war gerade zuvor in einem Lazarett 17 Jahre alt geworden. Bevorzugt wurden in der Reihenfolge Land-, Berg- und Transportarbeiter. So wurde ich „farm worker“ bei einem nahegelegenen Bauern, auf dem Papier (Entlassungsschein), dessen Namen ich flüchtig aus meinem Heimatort kannte.

Als nächstes kam die Aufteilung nach Besatzungszonen, Regierungsbezirken und zuletzt Kreisen. So mussten wir mehrfach innerhalb des Lagers umziehen, aber nach ungefähr 14 Tagen, irgendwann im Juli, stehen plötzlich hochrädige LKW vor den Lagertoren und wir, vielleicht 40, werden aufgefordert aufzusteigen, d.h. alle aus dem Kreis Lemgo, heute aufgegangen im Kreis Lippe. Im Führerhaus befinden sich zwei britische Soldaten, die uns zunächst über eine Pontonbrücke über den Rhein fahren, weiter geht es zum Münsterland, wir fahren durch das total zerstörte Münster in Richtung Minden. Bei den zahlreichen Teepausen, die die Soldaten an fahrbaren Kantinen am Straßenrand einlegen, werden uns von ihnen jedes Mal Zigaretten und Schokolade herauf geworfen. Jedoch vor Minden wendete sich der LKW in Richtung Herford und hält an. Der Beifahrer springt heraus und erkundigt sich, ob jemand Englisch spricht? Als frühere Luftwaffenhelfer waren wir fast alle auf eine höhere Schule gegangen, so dass das keine Schwierigkeiten bot. Der Fahrer eröffnete uns, dass sie keinen Nachweis über unsere Ablieferung beim Landratsamt (Brake bei Lemgo) führen müssten, so dass jeder der in die Nähe seines Heimatortes käme, nur einfach auf das Führerhaus schlagen solle, sie würden dann anhalten und der Betreffende könne herunterspringen.

Als einzige Salzufler befand ich mich mit meinem guten Kameraden Karl Hilker auf dem LKW. Wir waren schon als Luftwaffenhelfer, Arbeitsmänner, Soldaten und schließlich Kriegsgefangene zusammengeblieben. Als wir die Herforder Straße herunterführen und um das „Rheingold“ herum, denn die „Steege“ war Einbahnstraße, kamen wir über die Lange Straße direkt vor der heutigen Dresdner Bank wieder in die Fahrtrichtung Osterstraße und somit Rudolf Brandes Allee. Dort sahen wir zum ersten Mal britische Nachrichtenhelferinnen in Khaki, allerdings stark geschminkt. Es war mittlerweile Abendzeit geworden, aber der Eindruck ist bis heute geblieben. Die deutsche Frau schminkt sich nicht, hatten die Nazis verkündet, denn sie wollten einen Frauentyp, der nur aufs Kinderkriegen ausgerichtet sein sollte. So etwas hatten wir noch nicht gesehen, denn dazu kam eine Gepflegtheit, von der wir in unserem damaligen Zustand Lichtjahre entfernt waren. Aber der LKW fuhr weiter und an der nächsten Straßenecke klopften wir auf das Dach des Führerhauses, der LKW stoppte, und wir sprangen herunter. Ein kurzes Winken und der LKW verschwand unter den Bäumen der Rud. Brandes Allee. Ich ging die letzten 200 m nach Hause, wo man mich gleich in die Waschküche führte und dort im Waschkessel meine sämtlichen Uniformteile verbrannte. Ich muss wohl derartig gestunken haben, kein Wunder bei über 3 Monaten ohne vernünftige Waschmöglichkeit. 

Meine Eltern hatten keine Ahnung, wo ich mich befand, und überschlugen sich nun, alles Erdenkliche für mich zu tun. Ein schmales aber leckeres Abendessen, ein reines Bett, saubere Unterwäsche u.v.a.m. 

Ich musste allerdings in der Mansarde schlafen, denn wir hatten Einquartierung bekommen: Die Patentante meiner Schwester, eine Oberstudiendirektorin, die gleichzeitig „förderndes Mitglied der SS“ war, musste ihr Haus den Besatzungstruppen zur Verfügung stellen und war deshalb von meinen Eltern aufgenommen worden. Schlimm allerdings war, dass sie auch bei uns zu Tisch saß, so konnte ich ihr nicht entgehen. Bei einem der ersten Mittagessen erzählte ich von den schrecklichen Entdeckungen der britischen Truppen bei der Befreiung des KZ Bergen-Belsen. Im Gefangenenlager gab es gelegentlich eine Lagerzeitung und die hatte ausführlich über diese furchtbaren Entdeckungen mit Aufnahmen berichtet. Darauf brach ich in Weinen aus, nicht aus Mitleid mit den von den Grausamkeiten betroffenen Menschen, sondern über mich, den Vaterlandsverräter, der sich nicht scheute, die angebliche Kriegspropaganda der Alliierten zu glauben und weiterzugeben. 

Sie war Junggesellin und hatte sich in einen sehr gut aussehenden SS-Führer verliebt. Dieser wohnte mit seiner Frau und zwei Kindern (Junge und Mädchen) in ihrem Haus. Sie hatte ihm während der Zeit der Weimarer Republik Zuflucht gewährt und später war er zum Landeshauptmann einer deutschen Provinz ernannt worden, in der man bald nach der Machtübernahme begann, sogenanntes „lebensunwertes Leben“, in der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar in Hessen, zu beseitigen. Sein Sohn wurde Offizier bei der Leibstandarte SS A.H. und seine Tochter Roselinde heiratete später den Gesandten in Berlin des Kaiserreichs Mandschukuo, einem japanischen Satellitenstaat. Nachdem die US-Militärpolizei den Vater verhaftete, beging dieser Selbstmord. Der fernöstliche Gesandte verschwand in einem Internierungslager. Irgendwann hat dann Roselinde den Gesandten für tot erklären lassen, aber begann noch vorher ein Verhältnis mit einem verheirateten Schlachter, Engländer, der für die britische Verwaltung in einem Lebensmittelgeschäft arbeitete. 

Ich hatte hier ein paar Monate übersprungen. Zuerst befand sich die Verwaltung der britischen Besatzungszone in Bad Oeynhausen, ca. 14 km von Bad Salzuflen entfernt, aber eine Reihe von Verwaltungsstellen waren auch in der Umgebung untergebracht, denn Ostwestfalen ist ja geradezu von Kurorten übersäht, die fast alle den Krieg heil überstand hatten. Bis Mitte 1946 war die Verwaltung militärisch, wurde jedoch im Laufe des Jahres 1946 mehr und mehr durch zivile Dienststellen übernommen, die in der CCG – Control Commission for Germany - zusammengefasst waren. Die Kontrolle wurde vom War Office dem Foreign Office in London übertragen. 

Bevor wir weitergehen, zuvor noch ein kleiner Rückblick auf meine Jugendzeit in Bad Salzuflen, damals einem Städtchen von ca. 13.000 Einwohnern, die teilweise recht spießig ein Renter-/Pensionärsleben führten. Wir begehrten dagegen auf, indem wir während des Krieges den Londoner Rundfunk, die BBC, hörten und später die von Sefton Delmer erfundenen „schwarzen“ Propagandasender, die Soldatensender Calais und Atlantik. Diese Stationen gaben sich als deutsche Soldatensender, waren jedoch in Wirklichkeit „Feindpropaganda“ und auf das Abhören standen empfindliche Strafen wie bei allen ausländischen Sendern, ja in Extremfällen sogar die Todesstrafe. In den Jahren 1942 und 1943 trafen sich 3-4 Freunde regelmäßig nachmittags in dem Haus der Eltern eines von ihnen, vorgeblich um gemeinsam Schularbeiten zu machen. Diese Eltern besaßen ein besonders gutes Radio und so hörten wir dort die Reportagen von Sefton Delmer, Linley Frazer, Hugh Carlton Greene, dem Bruder von Graham Greene, der später den NWDR aufbauen sollte. Diese Berichte kamen teilweise direkt von den gerade im Augenblick interessanten Frontabschnitten und waren natürlich in deutscher Sprache gehalten. Dazwischen gab es teilweise Jazzmusik, Swing, beides war im Nazireich streng verboten. So kamen wir schon sehr jung in Kontakt mit Glen Miller, Louis Armstrong, Benny Goodman und die anderen Größen dieser Musikrichtung. In Deutschland versuchte Willy Berking in Frankfurt eine abgeschwächte Version vorzustellen. Später, ab Januar 1944, wurde ich so genannter Luftwaffenhelfer, d.h. Richtkanonier an einem Flakgeschütz in Bielefeld. Jeder Zug, jeweils 3 Geschütze, hatte ein Radiogerät, in dem wir die Luftlageberichte hören konnten. Wir „missbrauchten“ jedoch das Gerät und hörten, vor allem nachts, den Londoner Rundfunk. 

Nach dem Einzug der Briten in B.S. beschlagnahmten sie den „Luisenhof“, ein mittelgroßes Hotel, und machten daraus das „Corner House“, einen Soldatenclub. Deutsche Musiker wurden mit Noten dieser Musik ausgestattet und mussten dort am Abend zum Tanz aufspielen. Wir schlichen uns häufig abends auf den Parkplatz hinter dem Hotel, um von dort moderne Musik hören zu können. Für die eigenen Truppen richteten die Briten das BFN – Britisch Forces Network – später BFBS – British Forces Broadcasting Service – ein. Auf dessen Stationen hörten wir in Sendungen wie den „1600“ – sixteenhundred – club mit Neville Powley und später Chris Howland. Deren lockere Art war im deutschen Radiowesen vollkommen unbekannt. 

Durch meine Zeit von den Luftwaffenhelfern bis zur Entlassung aus der Gefangenschaft hatte ich natürlich keinen anerkannten Schulabschluss. Verschärft wurde meine persönliche Lage durch die Verhaftung meines Vaters 14 Tage nach meiner Rückkehr. Er war durch einen Telegrafenarbeiter aus Schötmar, der seinen Sohn in den letzten Kriegstagen verloren hatte, beim Field Security Service als großer ehemaliger Nazi angezeigt. Nazi war er schon, jedoch kein allzu großer. Er verschwand auf fast 4 Jahre im No. 5 Civilian Internment Camp in der Senne. Außerdem wurde unser Vermögen blockiert. Ich hatte noch eine kleine Schwester und eine Mutter, die keinen Beruf ausgeübt hatte. 

So war ich gezwungen, plötzlich meinen Teil zur Versorgung der Familie zu leisten. Ich hatte schon mit den Möglichkeiten des Schwarzmarkts Bekanntschaft gemacht. Ich war abends in der dunklen Allee vor unserem Haus von britischen Soldaten angesprochen worden, ob ich nicht Kameras und wertvolle Uhren besorgen könne? Ich habe dann in der Verwandtschaft, Bekanntschaft und bei den  Nachbarn nachgefragt und entwickelte zu einigen Soldaten eine gewisse Freundschaft, die soweit ging, dass sie in den Sommer- und Herbstmonaten in unserem großen Obstgarten für uns die Kirschen, Äpfel und Birnen pflückten und später auch zum Tee blieben. Die allgemeine Währungsgrundlage war die Zigarette, die vielfach einen Preis von RM 5,-- (Reichsmark) erreichte. Letztere wurde erst mit der Währungsreform im Juni 1948 abgeschafft. Der Austausch Ware gegen Zigaretten fand dann auf der Toilette im Keller statt. Ich kann mich noch dann daran erinnern, als mir ein britischer Soldat, er hatte wohl nichts anderes mehr, vielleicht hatte er es auch einfach vom Tisch in der Kantine geklaut, eine Flasche mit „Pan Yam Pickles“ andrehte. Zu Hause wussten wir nichts damit anzufangen, aber Frau Theissen erklärte uns, dass man den Inhalt zu Bratkartoffeln nehmen könne. Aber meine große Zeit als „Schwarzhändler“ sollte erst ein Jahr später kommen. 

Letztlich konnte ich aber mit diesen mühseligen Spielchen die Familie nicht mehr am Leben halten. Und so bewarb ich mich ca. acht Monate später beim Arbeitsamt, ob sie nicht eine Stelle in einer britischen Einheit für mich hätten? Nun war bei uns um die Ecke die ehemalige Berufsschule umgewidmet worden zum „HQ (Headquarter) Western Europe EFI“. E = Expeditionary, F = Forces, I = Institutes, die Versorgungsorganisation der britischen Truppen. Aus diesen entwickelte sich dann im Zuge der zivileren Verwaltung das HQ NAAFI – Navy, Army, Air Force Institutes – für Westeuropa. Dort sollte ich mich bei einem Captain Green, dem Personalchef melden. 

Gesagt, getan. Captain Green war ein umgänglicher Mensch, der mich aufgrund meiner Sprachkenntnisse in die Abteilung „Supplies“ steckte, wo es von Nachrichtenhelferinnen geradezu wimmelte. Diese steckten auf riesengroßen Landkarten die Standorte aller Truppenteile ab. Man hatte dazu den Zeichensaal als geeigneten Raum entdeckt. Die jungen Damen rauchten wie verrückt und schmissen die Asche und die Kippen einfach auf den Boden. Sie boten mir zwar auch Zigaretten an, damals wusste noch niemand wie schädlich Rauchen sein konnte, aber nach mehreren Tagen brachte ich von zu Hause Aschenbecher mit, in die ich Asche und Kippen pointiert tat. Sie merkten natürlich die Absicht und waren verstimmt. 

Eine von den jungen Damen muss sich wohl beim Captain über den jungen arroganten Deutschen beschwert haben, denn ich musste zu ihm ins Büro kommen. Er lachte sehr über meine Erklärung, die er überhaupt nicht übel nahm, sondern steckte mich in den „Post Room“ im Keller. Dort musste ich außer Post sortieren, in erster Linie die Vervielfältigungsmaschinen bedienen, worauf man auf Matrizen geschriebene Rundschreiben druckte. Hier war außer einem Corpora Bob auch Mary Barlow tätig, eine junge hübsche brünette Engländerin, die einen stark geschminkten Mund hatte und eine Klasse Figur. Als sie sich eines Sommertages zu den Kellerfenstern drehte, sie hatte ihr Uniformbluse weit geöffnet, sah ich dass die Gesichtshaus eine ganz andere war als die Haut vom Hals abwärts: im Gesicht sah sie rosig aus und je weiter man abwärts kam, um so mehr verschwand dieser rosige spannende Schimmer. Nun darf man mein Alter nicht vergessen, ich war gerade 18. Jedenfalls erlebte ich dort die wahren Schminkkünste. 

Täglich schaute Captain Holdershaw nach dem rechten. Man brachte mir bei, dass als Anrede „Sir“ genüge. Kein Soldat zeigte aber die zackigen, unterwürfigen Haltungen wie bei der deutschen Armee. Aber gelegentlich bekam Bob Besuch von einem Sergeanten James - Jimmy – Page. Dieser war der Chef der Unterkunft und Messe für die Unteroffiziere auf der Walhallastraße. Ich lernte täglich mehr flüssiges Englisch und kam so gelegentlich mit Jimmy ins Gespräch. Eines Tages lud er mich ein, zu der Messe zu kommen. Er erwirkte einen Passierschein und ich wurde zu einem opulenten Mahl eingeladen und konnte auch etwas für die Familie mitnehmen. Hieraus entwickelte sich fast eine Freundschaft, die aber zuerst mit einer handfesten geschäftlichen Verbindung begann. 

Jimmy bezog aufgrund getürkter Personalstärken mehr Lebensmittel, als die Messeangehörigen aufessen konnten. Ihm kam es auf die Verpflegungszigaretten und die Schokolade an, die ich auf dem Salzufler Schwarzmarkt absetzen sollte. Er hatte seine deutschen Angestellten fest im Griff, die sowieso nicht durch seine Buchführung blicken konnten. Als Hintergrund muss man dabei die verzweifelte Versorgungssituation der deutschen Bevölkerung sehen, die auf der einen Seite durch die Ausgabenpolitik des Dritten Reiches, die den 2. Weltkrieg durch den Druck neuer Banknoten glaubte finanzieren zu können, an der Inflation litt und zum anderen durch die Unterbrechung der Versorgungswege, die durch den deutschen U-Bootkrieg hervorgerufen wurde, doppelt getroffen war. Das einzige stabile Element schien die Zigarette zu sein, ergänzt von wichtigen Lebensmitteln. Im Grunde waren aber fast alle Güter des täglichen Lebens knapp bzw. nur durch Tausch zu erwerben. Die auf Marken verteilten Lebensmittel reichten nicht aus, um den Hunger zu stillen. Bad Salzuflen war noch verhältnismäßig gut gestellt, denn hier hatten viele Einwohner selbst Gärten und man war von einer landwirtschaftlich genutzten Fläche umgeben. Trotzdem waren aber alle möglichen Artikel von Seltenheitswert, so Schuhcreme, Seife u.v.a.m. 

Für Jimmy war jedoch ein Problem aufgetaucht, an das er nicht vorher gedacht hatte:

Wohin mit den vielen Dosen mit Lebensmitteln, gefüllt wie M & C, Meat and Vegetable, eine Mischung aus Möhren, Bohnen, Kartoffeln, Hammelfleisch, ähnlich dem Irish Stew. Baked Beans, Beet Roots, Rote Beete und anderes Gemüse, das er zusammen mit den Zigaretten und Schokolade für die nur auf dem Papier existierenden Mannschaften empfing? In dem Haus Walhallastraße .., in der die Messe mit der Küche untergebracht war, wohnten nur noch er und sein Kamerad Bob aus Liverpool. Darüber war noch ein Stockwerk frei. Kurzerhand füllte er zwei Zimmer mit den zuviel empfangenen Dosen. Er beauftragte den Sergeanten Taffy, David Ashley, ein Welshman, von „Works and Buildings“, der Bauabteilung, die Zimmerzugänge zuzumauern und die Türseite zu tapezieren. Ich sehe heute noch die großen Augen der späteren Bewohner, als sie vor dem Haus standen und sinnierten, da müssen doch noch mehr Zimmer sein? Sie gingen immer wieder die Treppe hinauf und sahen nur auf glatte Wände. Schließlich holten sie die SIB, die Special Ivestignation Branch, die aus pensionierten Beamten von Scotland Yard bestand. Mich hatte man als bekannten Freund von Jimmy Page dazugeholt. Aber nach seiner Entlassung vom Wehrdienst – demob – hatte Jimmy niemanden eingeweiht. 

Die Beamten ordneten den Aufbruch der Wände auf dem obersten Treppenabsatz an und die Entdeckung war eher lustig, es waren so viele Dosen aufgestapelt, dass man einen 4 t LKW benötigte, sie alle abzufahren. Ich schwitzte Stein und Blut, denn täglich sah ich die Militärpolizei kommen und unser Haus auf der Rud. Brandes Allee (11) durchsuchen und mich als Mitwisser und vielleicht Mittäter verhaften. Aber nichts passierte. Ich weiß bis heute nicht, ob man Jimmy zu Hause in seiner Heimatstadt belästigt hat. 

Aber etwas anderes war im Büro geschehen. Bald, etwa Herbst 1946, wurden auch Bob und Mary entlassen, letztere ersetzt durch Lorna, die mit ihrer Schwester Mary vorher als Marinehelferin beim Kommando „Western Approaches“ in Nordirland den Krieg erlebt hatte. Sie kam aus Bristol, einer Stadt etwa so groß wie Essen, in Westengland (Somerset/Wiltshire) am Avon-Fluß. Sie waren beide katholisch, da der Vater aus Südirland stammte. Er war Arzt und hatte eine Waliserin zur Frau, somit waren Lorna und ihre Schwester rein keltisch. Sie waren beide in einem strengen katholischen Konvent von französischen Nonnen erzogen, daher umfassend gebildet. Es muss wohl Liebe oder zumindest Zuneigung auf den ersten Blick gewesen  sein, denn sie war wesentlich älter. Sie war zierlich klein und sah  trotz der Khaki-Farbe in ihrer Uniform recht attraktiv aus. Ich lud sie, ihre Schwester und die unvergessene Marjorie Locke zu uns nach Haus ein. Marjorie war doppelt so alt wie ich, aber sie schien an mir sehr viel Gefallen gefunden zu haben, denn sie hat mir Jahre später durch ihren Einfluss eine tolle Stelle in London besorgt. 

Zunächst war ich aber ein schüchterner junger Mann, der seine neuen Bekanntschaften in erster Linie zum Vertiefen seiner Sprachkenntnisse benutzte.  Außerdem war natürlich die „neue“ westliche Welt für uns, die wir bei der Machtübernahme Adolf Hitlers erst fünf Jahre alt gewesen waren, wie ein fremder Erdteil, zu dem auch die Musik gehörte, die wir zuvor nicht hören durften. So war, ich erwähnte es schon, „swing“ und „jazz“ verboten, aber auch Komponisten jüdischer Herkunft, wie Mendelsohn-Bartholdy wurden nicht gespielt. Nachdem die Oberstudiendirektorin wieder ausgezogen war, sie und ihre Freundin Käthe, die Ehefrau des SS-Oberführers, hatten eine gemeinsame Wohnung bekommen, wurden uns in der Wohnraum knappen Zeit zwei andere Mieter zugeteilt. Sie stammten aus der Tschechoslowakei, Sudetendeutsche also, einer von ihnen war Trompeter in einer Blaskapelle gewesen. Er wurde nun umgeschult auf Jazz, wozu ihm die Briten Noten verschafften, und er musste hinfort in ihrem Soldatenclub, im „Corner House“, jeden Abend in einer Tanzkapelle spielen. Ich erlitt meinen ersten Anfall an Eifersucht, als er mir erzählte, dass er Lorna tanzen gesehen habe. Er musste dieses natürlich ausschmücken, indem er berichtete, dass sie eine hervorragende Tänzerin sei, die sich richtig in die Arme ihrer Tanzpartner gelegt habe. Aber ich lag da vollkommen falsch, denn sie erwies sich als sehr anhänglich, zu anhänglich eigentlich, denn sie brachte es fertig, mich nach England zu lotsen zu ihren Eltern, wo wir dann 1950 heirateten. 

An dieser Stelle eine Zwischenbemerkung: Mary, die Schwester, heiratete im Winter 1948 in der katholischen Kirche an der Grabenstraße James (Jim) Vaughan, einen irischen Katholiken, den sie im „Allied Missions Club“ („RHEINGOLD“) beim Tanzen kennen gelernt hatte. Marie B. einen polnischen Offizier, Edward Mischkowsky, mit dem sie später nach Australien auswanderte. 

Zuvor hatte Lorna ihre Entlassung von der NAAFI erreicht und sich bei der CCG, der Control Commission for Germany, beworben, die seit der Ablösung der Militärregierung durch zivile Stellen, die Verwaltung der britischen Besatzungszone durchführten. Die CCG unterstand dem Foreign Office, dem Außenministerium in London. Aufgrund ihrer Sprach- und Stenografiekenntnisse wurde sie Sekretärin eines Obersten, der in Bielefeld die „CCG“ Monthly Reports“ herausgab, in denen von den jeweiligen Fortschritten, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, monatlich berichtet wurde. Sie selbst bekam einen Quasi militärischen Rang, Staff Sergeant, der sie berechtigte, Alkoholika wie Whisky und Cognac zu beziehen, damals sehr wichtig, denn diese waren auf dem deutschen, entwöhnten Markt sehr beliebt. Auch bemaß sich ihr Wohnraumanspruch auf der Bielefelder Stapenhorststrasse nach dem Rang. 

So konnte ich selbst meinen Dienst bei der NAAFI quittieren und noch einmal zur Schule gehen. Ich machte auf der Höheren Handelsschule in Herford 1948 meinen Abschluss. Ich habe dann von 1950-1957 in Bristol und später in London gearbeitet, und rückblickend waren diese die glücklichsten Jahre meines Lebens, wenn auch nicht in dieser Zweierbeziehung. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland 1957 arbeitete ich bis zu meinem Pensionierung für zwei rheinische Konzerne und kann deshalb den Unterschied ziemlich gut beurteilen.

In England habe ich viel Verständnis und Rücksichtnahme gefunden, in den oberen Etagen in Mühlheim/Ruhr und Düsseldorf überwiegend Boniertheit und Rücksichtslosigkeit.