Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

Hendrik

Jugend und Kindheit in Kriegs- und Nachkriegszeit 1940 - 1952

Familie

Ich wurde am 6. März 1934 in Hamburg geboren. Mein Vater war vor dem Krieg als junger Mann beruflich in England und Frankreich tätig gewesen. Meine Mutter, Französin, hatte in Berlin Kunstgeschichte studiert. Bis 1943 lebte ich mit meinen 5 Geschwistern in einem behüteten Elternhaus. Ab 1940 ohne den Vater, der zur Wehrmacht einberufen wurde.

Schule

Der Schulbesuch war gekennzeichnet durch viele Unterbrechungen und Umschulungen. Kinderlandverschickung, Aufenthalt bei Verwandten in Papenburg wegen der Fliegerangriffe auf Hamburg und schließlich Evakuierung nach Niederbayern und Heimkehr nach Hamburg. Die Texte der Lesebücher waren gespickt mit Beispielen tapferer, wehrhafter und mutiger Knaben. Voller Abscheu richteten sich viele Texte gegen Volksfeinde und Volksschädlinge. Bedingung für meine Aufnahme in die Oberschule war der Eintritt in das Jungvolk.

Die Stunde Null, das Ende von Krieg und Nationalsozialismus

Es war die Stunde Null, und es war absolut still. Nicht das gewohnte Tuckern der Trecker oder Stimmen oder ein Flugzeug, nichts. Gespannte, bedrückte Erwartung. Was wird geschehen?

Was war geschehen?

Und dann flogen sie vorbei, die Bilder der letzten Jahre, wie im Film. Die zerstörte Synagoge in Hamburg, Menschen mit gelben Sternen, unser jüdischer Kinderarzt, der plötzlich verschwunden war, Bombennächte im Keller, zitternd voller Angst. Feuer, Rauch und Ruinen. Pola, unser Kindermädchen, aus der Ukraine verschleppt, von der Gestapo misshandelt, die mit Tränen in den Augen sagte: „Haus kaputt", Schlüssel gerettet. Danach Evakuierung nach Niederbayern. Besuch der Oberschule ohne Eintritt ins Jungvolk nicht möglich. Verhör meiner Mutter, die Französin war, durch die Gestapo. Der Vorwurf: Feindsender abgehört, französische Kriegsgefangene mit Arzneien und Verpflegung versorgt. Bombenflugzeuge am Himmel, Tieffliegerangriffe, Flugzeugabsturz, Rückzug und Auflösung der Wehrmacht, Selbstmord unseres Fähnleinführers.

Ein Zug von Jammergestalten. KZ-Häftlinge. Brutale Wachmannschaften, Schüsse. Flüchtendes Militär und mit Ihnen das Ohr und die Augen des Überwachungsstaates, die Funktionäre der Macht, die örtlichen Nazigrößen.

Was wird geschehen?

Musste man jetzt in der Stunde 0 nicht mehr darauf achten, wenn man etwas sagte und zu wem? Konnte man endlich sagen, was man dachte, ohne denunziert zu werden? Nazis, die zum erbarmungslosen Endkampf aufgerufen hatten und Kinder und Alte zur Verteidigung zwangen, hatten ein Schreckensbild der Sieger gemalt. Über Schwarze, Neger wurden die schrecklichsten Gräuelmärchen in die Welt gesetzt, um den Widerstand zu stärken. Alles Untermenschen wie Polen, Russen, Zigeuner und alles Artfremde. Es herrschte unkontrollierte Angst und Beklemmung. Mussten wir büßen für die Zerstörungen, die unsere Soldaten in fremden Ländern angerichtet hatten? Wie konnten wir weiterleben? Kommen die Kriegsgefangenen, die Väter heim, kehren die Flüchtlinge zurück in ihre Heimat? Was wird aus den zerstörten Städten? Würde es jemals wieder ein normales Leben geben? Ein Leben in Frieden, wie vor dem Krieg?

Und dann die Angst vor Vergeltung der Sieger für Verbrechen, die durch die Nazis verübt worden waren. Über diese Verbrechen gab es kurz vor Ende des Krieges Gerüchte, die von den Nazis immer als Propaganda der Alliierten abgetan wurden. Aber nachdem sich immer mehr Gerüchte über Erschießungen und Verbrechen in den Konzentrationslagern verbreiteten, machte sich große Verunsicherung breit, welche diese Angst vor der Vergeltung durch die Sieger nährte Es herrschte eine unheimliche Ruhe und eine bange Erwartung. Ein paar mutige Dorfbewohner, darunter der Bürgermeister, hatten sich mit weißen Armbinden und einer weißen Fahne am Dorfeingang postiert und erwarteten dort die ersten Amerikaner.

Die Sieger

Und dann kamen sie. Von weitem hörten wir das Dröhnen der Panzerketten. Ich schaute vorsichtig aus dem Fenster und sah, wie ein Panzer auf den gegenüberliegenden Bauernhof fuhr. Mit lautem Krach war der schwere Holzzaun niedergewalzt und Soldaten, zum ersten Mal im Leben sah ich Schwarze, zogen mit entsichertem Gewehr die Dorfstraße hinunter und durchsuchten jedes Haus nach Soldaten oder Parteifunktionären.

Rückkehr nach Hamburg

Nach ein paar Wochen dann die Kapitulation und damit das Kriegende. Eines Tages im Jahr 1946 kehrte ich mit meinem Vater und meinem älteren Bruder auf einer abenteuerlichen Fahrt nach Hamburg zurück. Dort erwartete uns eine Trümmerwüste, viel schlimmer als ich sie in Erinnerung hatte, besonders in der Innenstadt. Meine Oberschule war nicht zerstört, und so setzten wir unseren Schulbesuch fort. Viele Lehrer waren im Krieg geblieben. Über den Krieg und die Folgen, die allgegenwärtig waren, wurde nicht gesprochen. Es war alles unzureichend, Schulbücher, Hefte und Schreibgeräte fehlten. Die knappen zugeteilten Lebensmittelrationen wurden immer weniger. Dann kam der kalte Winter 1946/1947. Es fehlten Kohlen und Heizmaterial. Wir froren und konnten manche Nächte vor Hunger und Kälte nicht schlafen. Das Schulgebäude war nicht geheizt, und der Unterricht musste nach der ersten Stunde abgebrochen werden, weil unsere Finger steif gefroren waren.

Mangelwirtschaft und die Folgen

Warme Kleidung, warmes Schuhwerk gab es nicht zu kaufen, nicht einmal auf Bezugschein. Abenteuerliche Gestalten schlichen in der Dunkelheit mit Axt und Säge durch die Straßen. Am nächsten Morgen lagen Äste und Zweige auf der Straße, und es fehlte ein Baum. Menschen verabredeten sich zum Kohlenklau und sprangen auf die Güterzüge, um Brennbares zu erbeuten. Nicht ungefährlich, mancher kam dabei ums Leben oder wurde von der Bahnpolizei verhaftet. Mein Bruder, der in den Trümmern Holz suchte, wurde unter einer herabstürzenden Giebelwand begraben und kam mit einer Kopfverletzung ins Krankenhaus. Im Inocentiapark trennten nun unzählige Metallbettgestelle winzige Parzellen ab, in denen dürftig Salat und Gemüsepflanzen gedeihen sollten. Wohlgemerkt sollten, denn wehe, eine Pflanze zeigte zu viel Grün, dann wurde sie über Nacht „wegorganisiert".

Die Menschen

Überhaupt, die Menschen auf der Straße. Viele Menschen liefen in alten, geänderten und gefärbten Uniformjacken oder Hosen herum. Zu groß oder zu klein. Es passte nichts. Und die vielen verkrüppelten Menschen, meistens Soldaten, mit fehlenden Gliedmaßen, manche ohne Beine. Auf einem Brett mit Rollen haben sie sich fortbewegt, Kriegsinvaliden grausam zugerichtet. Das war nicht das neue Deutschland, das der Führer Adolf Hitler versprochen hatte!

Dann die endlosen Plakate mit Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes, Kinder, Frauen und Männer, die von Ihren Angehörigen gesucht wurden. Die endlosen Suchmeldungen auch im Rundfunk. Eine furchtbare Zeit. Die Zeit der Trümmerfrauen. Zu Hunderten waren Frauen damit beschäftigt, in endlosen Ketten die Steine zertrümmerter Häuser zu bergen, von Putzresten zu befreien und an den Straßenrändern zu stapeln. Mit primitiven Werkzeugen, schlecht ausgerüstet, hungrig und frierend leisteten sie die Vorarbeit für den langsam beginnenden Wiederaufbau.

Meine Mutter war nach Frankreich gefahren, um nach ihrer Familie zu sehen. Ihr Bruder war in ein deutsches Konzentrationslager verschleppt worden, ihre Mutter hatte den Krieg nicht überlebt, und über den Verbleib ihrer Schwestern wusste sie nichts. An der Grenze wurde sie verhaftet, die Haare abgeschnitten und als Kollaborateurin in ein Gefängnis gesteckt, weil sie mit einem Deutschen verheiratet war und in Deutschland lebte. Später, lange Jahre nach dem Krieg, wurde ihr Genugtuung zuteil. Sie wurde vom französischen Staat für Ihre Verdienste besonders geehrt.

Aufklärung und Reeducation

Eines Tages wurden wir in der Schule auf eine Ausstellung in der „Brücke" hingewiesen, die wir uns unbedingt ansehen sollten. Die „Brücke" war das englische Kulturzentrum in Hamburg. Am Dammtorbahnhof auf den Moorweidewiesen war ein großes Zelt aufgebaut worden. Viele Menschen strömten hinein. Doch schon bald stockte Ihnen der Atem. Sie wussten, dass es sich um den Krieg und Verbrechen während des 3. Reiches handelte, aber was sie da sahen, hatten sie nicht erwartet. Und auch ich war entsetzt. Ich sah Bilder aus den Konzentrationslagern mit Bergen nackter toter Menschen, Männer, Frauen und Kinder und jammervolle, ausgemergelte Gestalten, die sich nicht auf den Beinen halten konnten.

Diese Großfotos auf mannshohen Schautafeln, das war unfassbar. Ich erinnere mich noch genau, wie Besucher gestützt werden mussten, weil sie den Anblick nicht ertragen konnten. Und immer wieder Aussprüche wie diese „ das ist furchtbar, das bei uns, das habe ich nicht gewusst." Oder aber auch, „Das hat der Führer nicht gewusst!" Ich dachte aber, was hätten sie unternommen, wenn sie es gewusst hätten? Hätten sie überhaupt etwas unternehmen können?

Mit meinem Detektorradio hörte ich 1946 die Übertragung der Nürnberger Prozesse. Natürlich konnte ich diese Prozesse nur sporadisch verfolgen, aber der Eindruck war jämmerlich. Keiner der angeklagten Generäle oder Parteiführer bekannte sich schuldig, alle beriefen sich auf die Führerbefehle und hatten nur wie tapfere gehorsame Soldaten ihre Pflicht getan.

Schuld und Verantwortung

Wer war verantwortlich, fragte ich mich? Der Führer hatte bis zum letzten Atemzug gekämpft und war den Heldentod in Berlin gestorben. So jedenfalls die offizielle Propaganda. Später stellte sich heraus, dass er feige Selbstmord verübt hatte, nachdem er die Bevölkerung zum Endkampf um jeden Preis aufgefordert hatte. Wer nun war verantwortlich für den Überfall auf Polen, die Besetzung Dänemarks, Hollands, Belgiens, Frankreichs und Norwegens. Wer war verantwortlich für den Einmarsch in Russland, Ungarn der Tschechoslowakei und Griechenland? Verantwortlich für Hunderttausende von Toten und Kriegsopfern, Massakern, Massenhinrichtungen und Konzentrationslagern? Wer war verantwortlich?

Nein, der größte Teil dieser Machthaber fühlte sich nicht schuldig. Sie beriefen sich auf Ihren Treueid, ihr Pflichtgefühl und ihre Soldatenehre. Waren wir alle schuldig geworden? Hatten wir das System geduldet? Gab es so etwas wie eine Kollektivschuld, und mussten wir alle für diese Verbrechen haften? Es wurde heftig um diesen Begriff gestritten. Mich hat diese Frage später, als die Gräuel und der Schrecken dieser Zeit nach und nach bekannt wurden, noch lange Jahre beschäftigt.

Eine Vergangenheitsbewältigung fand zu dieser Zeit in der Schule nicht statt. Über die schrecklichen Erlebnisse im Krieg oder in der Gefangenschaft wurde nicht geredet. Die Menschen waren damit bemüht, für das Allernötigste von Tag zu Tag zu sorgen. Sie hatten immer Sorgen um die unzureichenden Wohnverhältnisse. Viele Familien lebten noch in den Kellern der zerstörten Häuser. Heizung, Nahrung und Kleidung war nicht ausreichend zu beschaffen.

Im Jahr1948 reiste ich mit meinem Bruder zu Freunden meiner Eltern nach Zürich. Bei der Ankunft dachten wir, wir seien im Paradies gelandet. Unglaubliche Bilder auf dem Markt. Riesige Berge mit Orangen und Bananen. Stände mit Röstkastanien und eine Atmosphäre tiefsten Friedens ohne die Bilder von Not, Dürftigkeit und Zerstörung, die wir gewohnt waren.

Zurückgekehrt nach Hamburg, holte mich der Alltag bald wieder ein. Doch langsam besserte sich die Lage. Die Währungsreform hatte auch uns über Nacht volle Schaufenster beschert. Plötzlich war es vorbei mit den Tausch- und den Schwarzmarktgeschäften. Der Marshallplan, die Hilfe aus dem Ausland halfen, den Wiederaufbau zu beschleunigen.

Eine neue Zeit

Eine neue Zeit war angebrochen. Es herrschte Aufbruchstimmung. Die ersten Zeichen dieser neuen Zeit kündigten sich für uns Schüler mit der Einrichtung eines Schülerparlaments an Hamburger Schulen an. Das war so etwas wie die Einführung von Mitbestimmung, ein Zeichen der Demokratie. Und als ich zum Vertreter meiner Schule gewählt wurde und als Abgeordneter in das Hamburger Schülerparlament einzog, wurde mir endgültig klar, dass wir angekommen waren in einem neuen Staat, der Bundesrepublik, einer demokratischen Gesellschaftsverfassung..

Das Grundgesetz, welches am 23. Mai 1949 Gültigkeit erreichte, räumt den Bürgern wichtige Grundrechte ein, so z. B in folgenden Artikeln:

Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
            2: Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.
               Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Artikel 3: Gleichberechtigung von Männern und Frauen.
Artikel 4: Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit.
Artikel 5: Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit.

Rückblick und Wertung

Rechte, die von den Nazis mit Füßen getreten worden waren. Auch Rechte, die es vorher in Deutschland nie gegeben hat. Wo war die Würde der vielen Opfer? Wo die körperliche Unversehrtheit der Parlamentarier, Journalisten, Priester und der vielen Verfolgten, die in den Konzentrationslagern umkamen, weil sie meinten von Ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machen zu können? Oder weil sie es für Ihre Pflicht hielten, auf die menschenunwürdigen Vorhaben der Nazis in unserem Land aufmerksam machen zu müssen.

Stolz ein Deutscher zu sein? Nein, nach dem Erlebten bestimmt nicht. An die Überreste eines Hauses in Berlin hatte ein Heimkehrer nach dem Krieg geschrieben: „ Ich schäme mich ein Deutscher zu sein"

Und nachdem der Rundfunk, ich glaube es war im Jahr 1946 oder 1947, das Heinkehrerdrama „Draußen vor der Tür" von Wolfgang Borchert gesendet hatte, war mir der Irrsinn des ganzen Krieges, eines jeden Krieges klar geworden. Und der Irrsinn, für den so viele Soldaten den Tod gefunden hatten. 55 Millionen Menschen waren in diesem furchtbaren Krieg umgekommen. Nein, nicht für Führer, Volk und Vaterland, für keine Fahne und keine Ehre und für keine Nation. Und bei all der Erinnerung an das Elend des Krieges hat die immer wiederkehrende Frage des Heimkehrers Beckmann „ Gott wo bist du? Gott wo warst du?" - Wolfgang Borchert – viele Menschen in ihrer Not bewegt. Gott, der von allen Kriegsparteien in Anspruch genommen wurde.

Heute mag vielleicht folgende kleine Geschichte eine Deutung sein:

Ein nasskalter und stürmischer Dezembertag. Viele Menschen hasten durch die Straßen. Dazwischen ein kleines Mädchen hungrig, frierend, verängstigt, allein, weinend. Ein Mann der das sieht, sagt zornig zu Gott: „Wie kannst Du das zulassen? Warum tust du nichts dagegen? Eine Zeitlang sagt Gott nichts; aber in der darauf folgenden Nacht gibt er doch eine Antwort: „Ich habe etwas dagegen getan: ich habe dich geschaffen"

Stolz ein Deutscher zu sein? Nun, 57 Jahre danach, denke ich: Stolz nicht, aber froh, endlich in einer friedlichen Gemeinschaft mit europäischen Nachbarn zu leben, das bin ich schon.