Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

Irmgard

Ungeahnte Folgen!

Mit Ankunft der ersten Aussiedler – Russlanddeutscher – und der Beobachtung, wie sie in ihrer sogenannten alten/neuen Heimat aufgenommen und abgelehnt wurden, lösten in mir viele Erinnerungen aus. Dies, sowie auch die Behandlung farbiger Asylanten und andersgläubiger Gastarbeiter, verstärkten meine Betroffenheit. Kam doch auch ich nach 5-jähriger Zwangsarbeit im Ural in meine alte Geburtsheimat Lippe. Ohne Familie und ein Zuhause erfuhr ich Ablehnung und Isolation; ich erlebte die grausame Härte des Ausgestoßenseins eines Eindringlings in die „heile" Welt der Ortsansässigen und fühlte mich verlassen und allein.

Im Jahr 1933 wurde ich eingeschult und bekam vermittelt, dass der deutsche Mensch ein Herrenmensch sei, blond und groß. Weder traf dies auf mich zu noch auf die Kriegsgefangenen, die auf unserem Hof zur Zwangsarbeit und Erntehilfe kamen, Letten und Russen. Ich konnte keinen Unterschied zum Aussehen und Verhalten arischer Menschen feststellen, und Zweifel befielen mich. So erlebte und erlitt ich als junger Mensch die Sinnlosigkeit eines Krieges, den Größenwahn und die Gewaltbereitschaft einer Handvoll verantwortungsloser und machthungriger Menschen in seinem ganzen Ausmaß.

Ende 1944 bis Februar 1945 erlebten wir in Ostpreußen die ganze Härte des Krieges. Wochenlang lag unsere Ortschaft in der Nähe von Königsberg im Kampfgebiet. In den Jahren vorher blieben wir von großen Einwirkungen des Krieges verschont. Nach Durchzug und Belagerung der russischen Kampftruppen in unseren Ort im Februar 1945 wurde ich zusammen mit vielen anderen deportiert. Knapp 5 Jahre schwerste Zwangsarbeit im Ural – Langholz fällen, Eisenbahnschwellen verlegen, Ziegeleiarbeit – sollten mich erwarten. Auf Druck unterschrieb ich eine Verpflichtung, in der stand:

Ich verpflichte mich auf 5 Jahre zur Wiedergutmachungsarbeit, was die deutsche Wehrmacht zerstört hat."

Es begann eine vierwöchige Fahrt, bei minus 30-40° zusammengepfercht  im Viehwaggon. Wie die Heringe mussten wir stehen. In den ersten Tagen kein Essen, nichts zu trinken. Für die Notdurft waren im Boden des Waggons Rillen gelassen, die aber bald zufroren; unbändiger Lebenswille ließen mich Fäkalien-, Leichengestank, Hunger und Durst aushalten. An jeder Station wurden Leichen herausgeworfen, greifbare Personen hereingestoßen, damit die Gesamtzahl der Zwangsarbeiter stabil blieb. Irgendwann bekamen wir auch zu essen, um unsere Arbeitskraft zu erhalten.

Angekommen im Lager im Ural, fielen wir wie tot auf die Pritschen, und irgendwann weckte uns Babygeschrei.... ein junge Frau hatte die Strapazen hochschwanger überlebt und ein gesundes Kind geboren. Auch im Winter arbeiteten wir notdürftig bekleidet bei tiefsten Wintertemperaturen. Krankheiten wie Diphterie, Ruhr, Typhus schwächten uns und ließen viele sterben. Doch Sehnsucht und Hoffnung, Eltern und Geschwister eines Tages wiederzusehen, ließen mich sogar undefinierbare Flüssigkeiten, die uns als Medizin gegeben wurden und Urin enthalten sollte, trinken. Mein Überlebenswille fand Ende 1949 seine Erfüllung, ich wurde nach Lippe entlassen. Es dauerte dann noch Wochen und Monate, bis ich Eltern und Geschwister wiederfand.

Inzwischen ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, und Kriegsherde gibt es unverändert. Unschuldige Menschen müssen leiden, weil Fanatiker immer noch Ideologien verbreiten und durchzusetzen versuchen.