Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -


Irmgard

Aus den Erinnerungen einer Großmutter

Elf Jahre war ich alt und erinnere mich genau, dass mein Vater mich mitten in der Nacht rüttelte und schüttelte, um mich wach zu bekommen. Ich höre noch: „Kind, so wach doch auf! Es gibt Krieg, und ich muss Soldat werden. Wir müssen uns doch verabschieden." Er erklärte mir noch, dass die Mutter ja oft krank sei und nicht sehr stark. Ich müsse ihr zur Seite stehen, ihr helfen und für sie sorgen. Ich nahm das sehr ernst mit meinen elf Jahren. Dann war wohl auch schon die Kindheit vorbei.

Nach wenigen Tagen stand Vaters Einheit, und die Verlegung in Richtung Osten konnte erfolgen. Als Adresse hatten wir eine Feldpostnummer. Wo er sich befand, wussten wir nun nicht mehr. Mutter schrieb täglich und Vater soweit möglich ebenfalls. Der Briefträger wurde immer sehnlichst erwartet, und die Frauen nahmen die Briefe schon auf der Straße in Empfang. Traurig waren diejenigen, die kein Lebenszeichen bekamen.

In unserem Haus hatten nur wir ein Radio. Die ganze Hausgemeinschaft war in unserer Wohnküche versammelt, als am 1. 9. 1939 der Krieg bekannt gegeben wurde. Alle Erwachsenen weinten. Nur Kinder konnten mit dem Begriff Krieg nichts anfangen. Eifrig wurden weiter Nachrichten gehört. Im Sturm wurde Polen erobert. Adolf Hitler hielt zündende Reden. Noch besser konnte es sein Reichspropagandaminister Goebbels. Einmal schrie er; „Wollt ihr den totalen Krieg?" Abertausend Stimmen antworteten: „Jaaaaa!" Er machte Propaganda für den Krieg.

Über all´ dem Kriegsjubel trafen aber auch die ersten Nachrichten über Opfer ein. Feldpostbriefe kamen zurück mit dem Vermerk: „Gefallen für Großdeutschland". Eine der ersten Maßnahmen, die wir in der Heimat zu spüren bekamen, war die Rationierung von Lebensmitteln, bald auch von allen Gebrauchsgütern, sowie von Strom und Gas. Oft haben wir im Finstern gesessen, wenn der Strom generell abgestellt war. In der Schule änderte sich vieles. Die jüngeren Lehrer wurden eingezogen und alte Herren aus dem Ruhestand zurückgeholt. Bei Klassenstärken von zum Teil über sechzig Schülern konnten sie sich nicht einmal alle Namen merken. Erschwert wurde ihre und unsere Arbeit dadurch, dass es bald an Schulbüchern mangelte.

Wir durften nicht mehr mit „Guten Morgen" grüßen, sondern mit dem "Deutschen Gruß", und der hieß "Heil Hitler". Dazu wurde strammgestanden und die rechte Hand ausgestreckt. Es hieß auch: „Die deutsche Jungend glaubt an ihren Führer." Was war da zu glauben? Dass er die ganze Welt erobern würde, wie in den Straßen von Soldaten, von der Hitlerjugend und dem Bund deutscher Mädchen gesungen wurde: „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt."?

1940 wurde zum Schlag gegen Frankreich ausgeholt. Per Sondermeldung erfuhren wir, dass diese oder jene Stadt erobert, Paris gefallen und Flüsse überquert waren. Bald standen deutsche Truppen am Atlantik. Und wieder kamen die Nachrichten: „Gefallen für Großdeutschland." Manche Soldaten kamen heim und mussten mit schweren Behinderungen weiterleben. Ein Arm, ein Bein oder beide waren amputiert, eine Lunge zum Teil zerfetzt. Oft war die Folge eines Kopfschusses eine Gehirnschädigung. Wie viele Schmerzen mussten ertragen werden, vielleicht für den Rest des Lebens? Andere Feldpostbriefe kamen zurück mit dem Vermerk: „Vermisst." Bis heute sind viele Soldaten verschollen in Polen, in Russland, in Frankreich und ........

Wann nun eigentlich die Fliegerangriffe von der deutschen Luftwaffe über England und umgekehrt von den Engländern über Deutschland begannen, weiß ich nicht mehr. Nun gab es auch Tote an der „Heimatfront." Ganz Deutschland musste abends verdunkeln. Überall war es finster in Stadt und Land. Eine Maßnahme, die bewirken sollte, dass man deutsche Städte aus der Luft nicht ausmachen konnte. Über das Ausmaß der Zerstörungen wurden wir am besten von den Evakuierten informiert, die in Hamburg, in einer der Ruhrgebietsstädte oder sonst wo alle Habe verloren hatten, die oft nur mit einem Notköfferchen bei uns ankamen und bei Verwandten oder irgendwo Zuflucht suchten. Später kamen noch Flüchtlinge aus den Ostgebieten dazu. Man rückte geduldig zusammen, aber ohne Probleme ging es nicht ab.

Von Anfang an hatten es Juden besonders schwer. Auch eine Mitschülerin musste den Judenstern mit dem Aufdruck „Jude" an der Kleidung tragen und saß meistens mit gesenktem Kopf still in der Bank. In der Stadt gab es Plakate mit dem Aufdruck: „Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter. Volksverräter gehören an die Wand." Damit sollte gesagt sein: Der muss erschossen werden. Der Kontakt zu Juden war untersagt.

Es war immer eine Freude, wenn Vater Urlaub bekam. Ich weiß noch heute, wie sehnlich wir ihn erwarteten und wie glücklich wir waren, wenn wir ihn vom Bahnhof abholen konnten. Schmerzlich war jedoch immer der Abschied. Nie wussten wir, ob und wann wir ihn wiedersehen würden. Als deutsche Truppen in Russland einmarschierten, war mein Vater wieder dabei. Wir bangten sehr um ihn, und mit Urlaub war nun nicht zu rechnen. Ab und zu kam ein Feldpostbrief, und viele erreichte wieder die traurige Nachricht „Gefallen für Großdeutschland".

Die Versorgungslage wurde bei uns sehr ernst. Doch wie viel besser hatten wir es gegenüber den Menschen in den großen Städten, die den Luftangriffen ausgesetzt waren oder denen, die vor den Kriegsereignissen flüchten und alle Habe zurücklassen mussten? Deutschland hatte manches Land erobert, und es wurde noch gesungen: „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt." Doch mit dem Russlandfeldzug änderte sich bald alles. Die riesigen Weiten des Landes und die strengen Winter ließen unsere Wehrmacht an Grenzen stoßen. Die deutschen Waffen versagten bei der Kälte, und den Soldaten erfroren die Glieder. Das Blatt wendete sich.

Es waren so viele Soldaten gefallen, dass man nun die älteren Männer und Invaliden in den „Volkssturm" holte. Alle waren von der Sinnlosigkeit einer Fortführung des Krieges überzeugt. Eine englisch/amerikanische Invasion von England aus in Frankreich hatte schon 1944 stattgefunden. Nun befanden sich die gegnerischen Truppen von Osten und Westen unaufhaltsam im Vormarsch. Dann besetzten amerikanische Truppen unsere Stadt, das Rathaus, die Kasernen, die Fabriken, und in den Straßen wurden Panzer postiert. Alle Arbeit ruhte, alle Geschäfte waren zunächst geschlossen. Zum Glück hatten wir einen mutigen Bürgermeister, der die Stadt kampflos übergeben hatte, so dass sie nicht zerstört wurde. Er selbst wurde dafür noch von deutscher SS verschleppt und erschossen.

Kurz darauf war das Ende da. Deutschland wurde in Besatzungszonen aufgeteilt. Kampfhandlungen gab es nicht mehr, aber viel Not. Viele deutsche Soldaten litten in Gefangenenlagern verschiedener Länder und viele starben. Bald kehrten die ersten Soldaten heim und wurden nach der langen Trennung freudig empfangen. Manche fanden ihre Lieben nicht wieder. Die Städte waren zerstört, die Häuser verlassen, die Menschen irgendwo in Deutschland, aber wo? Das DRK hat sich lange Jahre bemüht, solche Schicksale zu klären und die Familien wieder zusammenzuführen. Etliche Heimkehrer mussten feststellen, dass ihre Frauen nicht treu geblieben waren und sich anderen Männern zugewandt hatten. Oder für tot geglaubte und erklärte Männer kamen doch zurück, und die Frauen waren inzwischen wieder verheiratet. Es hat auch Männer gegeben, die zu anderen Frauen gefahren sind. Da gab es schwere Nachkriegsschicksale. Viele Menschen, die in den Konzentrationslagern gefangen gehalten worden waren, kamen nun frei. Erst jetzt erfuhren wir, wie unendlich sie gelitten hatten, dass ganze Familien ausgelöscht waren, besonders jüdische. Konnte nun hier noch ihre Heimat sein? Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde, zog es viele Juden dorthin, in das Land ihrer Väter.

In den durch Bombenangriffe zerstörten Großstädten begannen die Aufräumarbeiten. Diese schwere Arbeit wurde hauptsächlich von Frauen geleistet, von den „Trümmerfrauen". Über Jahrzehnte prägten Ruinen die Bilder unserer Großstädte. Alle Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei wurden überprüft und gegebenenfalls in Nürnberg vor das Kriegsverbrechergericht gestellt. Mancher Akademiker oder hoher Offizier arbeitete später an einer Maschine in einer Fabrik oder war als Knecht bei einem Bauern anzutreffen, weil er von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen war oder seinen akademischen Beruf nicht mehr ausüben durfte. Das NS-Regime war tot. 1948 kam für alle der spürbare Einschnitt der Währungsreform. Wir lebten unter Fremdherrschaft, bis 1949 die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde.

Bald lohnte Arbeit wieder, da sie mit der neuen Währung bezahlt wurde, und langsam ging es bergauf. Reich war niemand, aber fleißig waren alle, und Deutschland erlebte einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Auf den Straßen wurden nun nicht mehr die stolzen Lieder gesungen, und die ganze Welt war nicht gewonnen worden, sondern Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt, befand sich im weitesten Sinne noch immer unter Fremdherrschaft, gelangte aber wieder zu wirtschaftlicher Eigenständigkeit, und bescheidener Wohlstand begann sich auszubreiten.

Unsere Kinder durften in Frieden aufwachsen, und uns war nie selbstverständlich, dass wir ihnen immer satt zu essen geben konnten. Dafür waren wir täglich dankbar. Möchten sie doch weiter in Frieden leben dürfen, im Herzen Frieden haben und in ihren Familien auch. Möge jeder ein kleiner Friedensbringer sein an dem Platz, wo er steht.