Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

Karin

Draußen ist Krieg und im Haus auch.

Ich wurde 1940 in Detmold geboren und habe eine 6 Jahre ältere Schwester. Die Frage nach meinen Eltern, ließ mich Recherchen anstellen. Wir sichten Hunderte von Ordnern mit Briefen meiner Eltern, meiner Großeltern und weiterer Verwandten, machten noch lebende ältere Verwandte ausfindig und stellen viele Fragen. Mein Vater machte bis zu seinem Tode 1993 keinen Hehl daraus, dass er Juden nicht mochte, dass er Angst vor dem Islam hatte. Aber ein Hitlerfreund ist er wohl auch nicht gewesen. Meine Mutter hat sich bis zu ihrem Tod 1985 nicht für Politik interessiert.

Mein Großvater gründet mit seinem Bruder zusammen 1903 die Malerschule in Detmold. Die Brüder haben nebeneinander liegende Häuser, die heutige Lagesche Str. 10 und 12. Kurze Zeit drauf eröffnet der Bruder eine Farbenfabrik und einen Farbenhandel und mein Großvater führt die Malerschule parallel zu seinem Malerbetrieb. 1925 renoviert er die jüdische Synagoge in Detmold von innen. Noch sind Juden anerkannte Leute und auf jeden Fall für Geschäftsleute gute Kunden. Mein Vater heiratet eine Fabrikantentochter und bekommt 1931 in Kiel eine Anstellung als Lehrer in einer Berufsschule. 1933 kommt Hitler an die Macht. Mein Vater ist gezwungen in die NSDAP einzutreten, weil er sonst seine Anstellung als Lehrer verliert, er hält von Hitler nicht so arg viel. 1934 wird meine Schwester geboren in eine ganz normale Familie hinein. Ein treusorgender stolzer Vater, eine vielleicht etwas zu oberflächliche Mutter, aber eigentlich alles im grünen Bereich.

Mein Großvater sieht seine geschäftliche und finanzielle Chance darin, hitlertreu zu werden und zeigt dies durch mehr als nur reines Mitläufertum. An die Fassade der Malerschule werden große Hakenkreuze gemalt, es werden dumme Sprüche auf Türen geschrieben z.B.: Es segne Gott die Erde, dass wir genug an Brot, er halt uns fern die Juden, dann ist gebannt die Not.

Außerdem will er in Konkurrenz zu seinem Bruder Johann einen Tapetenhandel aufmachen, den sein Schwiegersohn und seine Tochter führen sollen. Er geht sogar so weit, seinen Bruder Johann 1937 in Schwierigkeiten zu bringen, indem er im Stürmer, einer Parteizeitung, eine Anzeige aufgibt: Die Großhandelsfirma J... W.... beliefert ihre Kunden noch heute mit Waren vom Juden. Was ist in meinem Großvater vorgegangen? 10 Jahre vorher hat er noch das Gotteshaus der Juden renoviert? Ist seine Hitlertreue reine Geldgier? Will er so seinen Bruder vernichten?

1938 steuert Deutschland mit Riesenschritten auf den Krieg zu. Meine Familie zieht von Kiel nach Detmold ins Elternhaus meines Vaters. Neben seinen Eltern leben noch seine 2 Schwestern mit ihren Ehemännern im Haus. Mein Vater arbeitet neben seinem Beruf als Lehrer in Herford, noch in der Malerschule als Lehrer mit. Seine Schwester und ihr Mann sind Meister im Bespitzeln und Intrigieren, aber auch mit der zweiten Schwester ist der Umgang schwierig. 1939 wird mein Vater eingezogen und kommt als Wetterdienstinspektor nach Frankreich. Er hat Glück und kann relativ oft nach Hause kommen. Ich werde 1940 geboren, draußen ist Krieg und im Haus auch.

Meine Erinnerung setzt ein, dass ich vor dem Einschlafen mit dem Kopf hin- und herschlage. Ich will nichts hören. Keine Flugzeuge, keine Gewitter, keinen Streit im Haus. Mein Vater kommt für mich immer überraschend abends. Er tritt an meine Bett mit einer Taschenlampe die rotes und grünes Licht wirft. Er sieht mich mit dem Kopf hin- und herschlagen, reißt mich aus dem Bett und schlägt mich. Er hat wahrscheinlich Angst, ich sei nicht normal. Er selbst ist gegen die Erhaltung „unwerten Lebens" und nun hat er eventuell selbst so ein Kind. Für mich wird das Haus zum Hexenkessel. Meine Tanten darf ich nicht besuchen, dabei sind die doch lieb zu mir und ich gehe heimlich hin. Ich merke noch nicht, dass sie mich nur aushorchen wollen.

Der einzig ruhende Pol ist meine Großmutter mütterlicherseits. Sie ist aber schwer krank und ich habe nicht sehr viel von ihr. Auch sie hat Hitler zunächst bejubelt, aber nachdem die Synagogen brennen, sagt sie: „Wer Gotteshäuser ansteckt, mit dem nimmt es kein gutes Ende". Sie und meine Mutter umgehen auch den Hitlergruß. Mein Vater ist der einzige Mann im Haus, der im Krieg ist. Wenn er aus Frankreich kommt, wird er mit Vorwürfen und Forderungen seiner Geschwister und auch seines Vaters überfallen. Wenn er nicht da ist, wird meiner Mutter zugesetzt. Man neidet ihm Stand, Ausbildung und Intelligenz und wünscht unverhohlen, dass er im Krieg fallen möge.

Ich bin 5 Jahre alt, als der Krieg zu Ende ist. Ich erinnere mich noch genau, zunächst konnte ich es kaum glauben, aber dann die Gewissheit, keine Schießerei, kein Luftschutzkeller und kein Fliegeralarm mehr. Aber schon bald erkenne ich, der Krieg im Haus geht weiter. Mein Vater wird von seinen eigenen Geschwistern bei der Militärregierung angezeigt, er sei Blockwart gewesen, was nachweislich nicht stimmt. Er wird aus dem Schuldienst entlassen. Er durchläuft eine Entnazifizierung und darf erst 1948 seine Malerschule wieder aufmachen und wird 1950 wieder in den Schuldienst eingestellt.

Etwas zwischen 1938 und 1945 hat ihn verändert. Er war mit 20 ein Wandervogel, aber alle seine Ideale sind weg. Hat er sich vielleicht selbst verbogen, als er sich Hitlers Ansichten über die arische Rasse aneignete? Er hat mit 27 eine Kunstschule besucht und konnte malen, hat aber nie wieder gemalt. Konnte er es nach dem Erleben im Krieg nicht mehr? Er ist ein Mensch geworden, der kaum Freunde hat, vor dem seine Kinder Angst haben und der immer mehr vereinsamt.

Die Alliierten haben uns die Demokratie gebracht, aber in manchen Köpfen konnten auch sie nichts ändern. So habe ich in der Grundschule noch gesagt bekommen: „Die Juden haben unseren Heiland umgebracht, aber deshalb dürfen wir sie nicht umbringen. Zum einen haben die Römer Jesus aufgehängt, und von denen, die Jesus hängen sehen wollten, lebt gewiss keiner mehr", oder „Die Schwarzen in Afrika sind dümmer als die Weißen; und wenn sich Schwarze und Weiße mischen, dann gibt es Mulatten, sehr hässliche Menschen". – Dabei sind nachweislich Menschen, deren Eltern verschiedener Hautfarbe sind, meistens sehr hübsche Menschen. Außerdem hat die Wiege aller Menschen in Afrika gestanden.

Mein Weg führte mich – zum Glück – nach Frankfurt am Main. Wir hatten dort freundschaftliche Kontakte zu Amerikanern, später auch zu Türken. Ich erlebte gläubige Muslime, die nichts erschreckendes an sich hatten. Als Mitarbeiter hatten wir Spanier und Italiener. Die Werte Recht und Ordnung nehmen für mich nicht mehr die vordersten Stellen ein. An erster Stelle steht Menschlichkeit, Toleranz dem Andersartigen gegenüber. Rechte dem anderen einräumen ist mehr, als auf sein Recht pochen. Parolen gegenüber kritisch sein, alle Verallgemeinerungen hinterfragen. Mut zu haben, selbst anders zu sein, nur dem eigenen Gewissen zu gehorchen.

Zu leicht wird man vom Mitläufer zum Mittäter.