Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

Karlheinz

Meine Erlebnisse und Erfahrungen mit dem Faschismus.

während des Krieges

Die menschliche Erinnerung reicht bis in die früheste Kindheit zurück. Bei mir sind insbesondere solche Erlebnisse im Gedächtnis geblieben, die sehr intensiv waren und die ich als Kind nicht verarbeiten konnte. 1940/41 war ich 4 Jahre alt. Mein Vater fuhr mit mir nach Frankfurt a.M. zu Verwandten. In der Frankfurter Innenstadt geschah etwas Merkwürdiges:

In einer der Einkaufsstraßen hatten die Braunhemden eine Kette durch Schulterschluss gebildet, die von einer Straßenseite zur anderen reichte. Auf diese Weise kämmten sie den ganzen Bereich durch. Alle Passanten wurden hindurchgelassen; mein Vater auch, denn er trug die Wehrmachtsuniform und war auf Heimaturlaub. Alle Juden jedoch wurden beim Passieren der Kette geohrfeigt. Später hörte man öfter den Ausspruch: "Ein paar Ohrfeigen haben noch niemandem geschadet." Diese Auffassung ist sehr fragwürdig, denn sie lässt unbeachtet, dass hinter den Ohrfeigen der Bruch mit dem Rechtsstaat steht.

Plötzlich gab es zwei Sorten Menschen. Auf der einen Seite standen die Herrenmenschen, auf der anderen Seite die rechtlosen Nichtarier. Jeder Kontakt war bei Strafe verboten. Selbst Kinder wurden in der Schule zur Rechenschaft gezogen, wenn sie jüdische Spielkameraden hatten. 1942 wurde ich als 5-jähriger eingeschult. Hier ging es mit den Ohrfeigen weiter. Es wurde jedoch ein Unterschied gemacht, ob die Eltern in der Partei waren oder nicht. Mich und meine Geschwister traf es fast täglich; wir gingen total verängstigt in die Schule. Aber auch außerhalb der Schule war man nicht sicher. Traf man die Lehrerin z.B. nachmittags in der Stadt, musste man den deutschen Gruß „Heil Hitler" rufen und den rechten Arm heben. Da ich noch unsicher war, welcher Arm es nun sein sollte, erhob ich auch schon mal versehentlich den linken Arm. Die Folge waren Ohrfeigen mitten in der Stadt.

Im Unterricht erklärte man uns, was Juden sind: Waren wir laut, bevor die Lehrerin hereinkam, hieß es gleich: „Das ist ja wie in der Judenschule!" Ein Bild in unserem Lesebuch der ersten Klasse zeigt die Juden als ekelhafte Gestalten mit öligem Haar und krummer Nase. Die arischen Kinder dagegen waren blond und zukunftsfroh dargestellt. Im gleichen Schuljahr erzählte man uns auch, wie ein jüdischer Ritualmord an deutschen Kinder geschieht: Also, die Kinder werden mit den Füßen an der Decke der Synagoge aufgehängt. Sodann schneidet man Ihnen die Kehlen durch und fängt das herausfließende Blut mit Schüsseln auf, um es noch warm zu trinken. Das dazugehörige Bild war sehr überzeugend.

1943 kam mein Vater in das Zuchthaus von Torgau. Hier wurde weiter geprügelt; man begnügte sich nicht nur mit Ohrfeigen. Anlass dafür war die passende Antwort, die er einen jungen Offizier gegeben hatte, der gerade von der Hitlerjugend aufgerückt war. „Es lebe unser geliebter Führer!" hatte der Offizier anlässlich einer Feier ausgerufen. Mein Vater antwortete darauf: „Hör auf mit Deinem Scheiß-Hitler!" Vor dem Militärgericht hatte er als einzige Rechtfertigung, dass er infolge Alkohol nicht mehr wusste, was er sagte. Die Richter wussten aber, dass Betrunkene erst ihre sonst unterdrückte wahre Meinung sagen. Im Zuchthaus gehörten Misshandlung und Folter zur Tagesordnung, sowie tagelange Dunkelhaft im Hungerkeller, in dem so viele Gefangene waren, dass man nur stehen konnte. Ein Klo gab es dort nicht. Täglich wurden Delinquenten erschossen; das mussten die Mitgefangenen tun.

Das Fazit aus alledem: Die Partei hatte die absolute Staatsmacht inne. Das war überall spürbar, in jeder Form der Obrigkeit. Für uns Kinder waren Schule und Hitlerjugend die Verkörperung dieser Gewalt. Auch wenn wir noch zu jung für die HJ waren, so bekamen wir doch den dort herrschenden militärischen Drill mit. In unserer Nachbarschaft hatte sich ein Junge diesem Zwang entzogen. Das hatte zur Folge, dass eine HJ-Kolonne vor dem Haus aufmarschierte und immer wieder im Chor skandierte: „Johan soll Kommen!" Wenn auf der Straße ein Mann im wehrpflichtigen Alter ohne Uniform ging und statt dessen einen Hut und Ledermantel trug, dann wusste jeder sofort, das ist die Gestapo. Die Gestapo war allwissend, denn die Denunziation stand in hoher Blüte. Immer wieder verschwanden einzelne Personen, die oft nichts anderes getan hatten, als im Radio den Sender BBC einzuschalten.

Nach dem Krieg

Kürzlich berichtete der Journalist Sebastian Haffner über seine Erfahrungen als Rechtsreferendar im 3. Reich. Alle bedeutenden Stellen, wie z.B. die Stelle des Berliner Kammergerichtspräsidenten wurden durch junge aufstrebende Faschisten besetzt, nachdem die Vorgänger an eine unbedeutende Stelle in der Provinz versetzt wurden. Diese neuen Vorgesetzten zeichneten sich nicht durch profunde Rechtskenntnisse oder Erfahrung der Rechtsanwendung aus, sondern waren bereit, jedes Gesetz im Sinne des Faschismus zum Entsetzen der ihnen nachgeordneten altgedienten Richter zu beugen. Als 1949 die Bundesrepublik gegründet wurde, besetzte der Bundeskanzler viele leitende Stellen in den Gerichten und beim Militär mit ehemaligen Nazis, die im 3. Reich die gleichen Stellen besetzt hatten. Seine Begründung war ganz lapidar. "Wir können diese Stellen nur mit den Menschen besetzen, die wir haben; andere sind nicht verfügbar."

Die Folgen dieser Stellenbesetzungen waren vorauszusehen und vielleicht sogar beabsichtigt: Die Naziverbrechen wurden tabuisiert und totgeschwiegen, so dass sie bis heute nicht aufgearbeitet werden konnten und immer noch die ganze Nation belasten. Statt dessen hört man solche Sprüche, dass man endlich aufhören soll, in der Vergangenheit herumzubohren. Die Studentenunruhen von 1968 waren Ausdruck der Unzufriedenheit der nachwachsenden Generation über das Schweigen ihrer Väter. Wiederholte Berichte aus der Bundeswehr erschrecken uns immer wieder: Führende Neonazis werden zu Vorträgen eingeladen und in den Bundeswehrhochschulen werden Dissertationen zur Schuldfreistellung der Verantwortlichen in den besetzten Ostgebieten akzeptiert.

Fazit: Die Altnazis haben alles getan, um das faschistische Gedankengut über den Generationswechsel zu erhalten. Daraus erklärt sich auch, dass junge Skinheads jüdische Friedhöfe verwüsten, obwohl Juden im öffentlichen Leben gar nicht mehr wahrnehmbar sind.