Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

Margitta

28. Januar 1945

Es war eigentlich nichts Besonderes, dass in der Ferne geschossen wurde. Die Russen waren im Anmarsch, wie wir seit Tagen wussten. Mein älterer Bruder hielt mich auf dem laufenden. Er war schließlich schon 14 Jahre und ich erst 9 Jahre alt. Er nahm mich mit zu seinem „Ausguck". Dort durfte ich durch das große Fernglas schauen, im Liegen ging es ganz gut, denn das Bodenfenster war halbrund und vom Fußboden ca. 1,5 Meter hoch. Ich hielt Ausschau nach etwas Ungewöhnlichem, Aufregendem, denn das Ausmaß und die Tragweite dessen, was um mich her geschah, und was meine bislang so schöne Welt vernichten sollte, konnte mir damals nicht bewusst sein, woher auch? Was war bisher meine 9 Jahre alte Welt? Es war die Schule, die mir Spaß machte, das schöne Zuhause meiner Großmutter nahe der Steilküste, das Meer, an dessen Strand Bernstein herum lag, wie anderswo Steine. Das Schönste aber war das Wasser, ich schwamm wie ein Fisch und genoss die Freiheit der Ferien und Wochenenden.

Seit einem Jahr nun wohnten wir ganz hier „evakuiert", wie meine Mutter immer etwas traurig sagte. Ich konnte nichts Trauriges daran finden, schließlich genoss ich nun auch noch den Winter in meinem geliebten Palmnicken im Samland, ca. 50 km von Königsberg entfernt. An das Wort „Krieg" hatte ich mich gewöhnt. Es war schade, dass mein Vater im Krieg war, aber ich vermisste ihn nicht so sehr, denn in 6 Jahren war er nur dreimal auf Urlaub gewesen. Er war mir fremd geworden und stand mir wie auf einem Heldenpodest vor Augen. Erinnern konnte ich mich gut an einige Tage vor 2 Jahren. Er turnte und schwamm mit mir um die Wette. Das war schön. Auch an Königsberg, wo ich geboren bin, habe ich wenig Erinnerung an das Zusammensein mit meinem Vater. Besonders fehlte er mir bei den Bombenangriffen, wenn der Alarm und die Sirenen später kamen, als die Bomben fielen. Dann, wenn wir komplett angezogen abends ins Bett gehen mussten, weil sonst zuviel Zeit verging, um in den schützenden Keller zu kommen. Einmal erzählte mir meine Mutter, bin ich schlafend beim ersten Sirenenton 2 Treppen hinuntergelaufen.

Mein Bruder lief mir nach und schüttelte mich, damit ich aufwachen konnte. Es war ein großes Glück, dass wir die Großmutter in Palmnicken hatten, sonst wären wir vielleicht bei den zwei großen Angriffen im August und September 1944 in Königsberg umgekommen. Seit 14 Tagen war meine liebe Großmutter verreist, um das Geschäft meines Onkels aufzulösen in Pobethen. Meine Tante mit ihren 3 Kindern hatte noch „ glücklicherweise" Schiffskarten für die Gustloff ergattert, die sie sicher in den Westen bringen sollte. Sie verpassten das Schiff um einige Stunden. Großmutter war also nicht bei uns in den nächsten Tagen, von denen ich damals nicht ahnen konnte, dass sie mein kommendes, wechselhaftes Leben so sehr prägen sollten und meine bisherige unbeschwerte Kindheit beenden würden.

In den letzten Tagen des Januars 1945 war Schnee gefallen. Die Schule war geschlossen worden nach Weihnachten. Meine Mutter schickte mich nach Brot ins Dorf. Elli, meine 3 Jahre ältere Freundin aus der Nachbarschaft ging mit mir. Die wenigen Leute, die uns begegneten, flüsterten und hatten, wie mir schien, rastlose, gehetzte Gesichter. Im frisch gefallenen Schnee befanden sich große Pfützen, rot wie Blut... es war Blut! Überall waren Pfützen und Blut.....

Die Bäckersfrau gab uns das Brot und sagte „geht schnell nach Hause, und zwar auf dem kürzesten Weg, schnell geht, geht.." Der Waldweg war näher. Wir gingen schnell, das Brot unter dem Arm. Hinter uns bemerkten wir einen Mann. Ich weiß nicht, wie lange er uns schon folgte. Er war groß, schmal, eigenartig angezogen und hatte eine Schirmmütze auf dem Kopf. Elli und ich drehten uns mehrmals nach ihm um. Seine Augen waren braun und glänzten und bewegten sich, wie mir damals schien, hastig.

Diese Augen haben mich 50 Jahre danach begleitet. Ich konnte sie nie mehr vergessen. Ansonsten hielt der Mann sich circa 3 bis 4 Meter hinter uns. Wir Kinder waren nicht ängstlich, aber es übertrug sich eine Unruhe auf mich, die ich in dieser Weise niemals mehr erfahren habe, und die für mich heute noch nicht zu beschreiben ist. Heute weiß ich, dass dieser Mann, den ich auf ungefähr Mitte dreißig schätzte, glänzende Augen vor Angst und Hunger hatte. Er gehörte zu einer großen Schar Juden, die man eilig und in großer Panik vor den nahenden russischen Truppen aus einem Königsberger Lager bis zu uns vorantrieb. Man sperrte sie in den Stollen des Bernsteinwerkes in Palmnicken, aus dem einige in der Nacht fliehen konnten, sich in Scheunen und Ställen versteckten. Andere wurden auf offener Straße erschossen. Riesige Blutlachen im Schnee......

Als ich mit meinem Brot nach Hause kam, wartete mein Bruder schon, nahm mich bei der Hand und sagte: „ Komm schnell mit, überall werden Menschen erschossen." Er zog mich mit sich. Schließlich standen wir an der großen Chaussee. Wir standen und regten uns nicht, hatten uns fest an den Händen gefasst und waren auch nicht fähig, den Ort zu verlassen. Man hatte Männer, Frauen und Kinder wie Vieh eingefangen, aus Ställen herausgeholt und nun wurden sie an uns vorbeigetrieben. Es war ein langer Zug Menschen mit leeren Gesichtern. Plötzlich sah ich den Mann mit den glänzenden Augen. Ca 19 Meter von mir entfernt, drehte er sich um und löste sich aus dem Elendszug. Ein SS-Mann rief ihn an, aber er kümmerte sich nicht darum. Erstarrt blickte ich auf die zuckenden Schultern, hörte das Fallen dumpf und schnell. Ein SS-Mann hatte ihn von hinten erschossen. Die Dorfbewohner, die wie wir dastanden, starr und stumm und eisig, als wären ihre und unsere Seelen und Münder zugefroren, wagten, wie wir, nicht sich zu rühren.

Später zog mein Bruder mich mit sich. Wir gingen nach Hause, dass nur noch 2 Nächte und Tage unser Zuhause bleiben sollte. Dieses furchtbare Erlebnis verschloss ich 50 Jahre lang in mir. Immer, wenn es sich in meinen Träumen in der Kindheit oder später im Erwachsenensein meldete, ließ ich gedanklich Schnee darüber fallen, das Erlebnis wurde zugedeckt und eingefroren.