Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

Rosemarie

Kindheit in Angst und Unfreiheit

An meinem 3. Geburtstag spazierte ich mit meiner Mutter und den älteren Schwestern durch die Straßen unserer Heimatstadt H. im heutigen Brandenburg. Aus den Fenstern des 2. Stocks eines jeden Hauses hing eine lange Hakenkreuzfahne. Hoch über der Straße, im Zick-Zack gespannt, flatterten unzählige schwarz/weiß/rote Wimpel. Vor den Geschäften und öffentlichen Einrichtungen standen hohe Masten, an denen sich überlange Fahnen sanft im Wind bauschten. Darunter paradierten Männer, Jungen und Mädchen in schwarz/braunen Uniformen.

Gefeiert wurde der Tag der Machtergreifung des Führers Adolf Hitler, aber das wusste ich noch nicht. Ich wanderte durch eine Wunderwelt von Schwarz, Weiß, Rot und Braun. „Mutti, ist das alles, weil ich heute Geburtstag habe?" fragte ich sie, und sie lachte leise und sagte: "Natürlich, mein Kind." So hat mir das 3. Reich auch ein schönes Erlebnis beschert. So oder so ähnlich könnte der Anfang eines Buches über diese Zeit lauten. Doch ich muss auf eine Seite beschränken, was meine Kindheit in der national-sozialistischen und später kommunistischen Zwangsherrschaft ausmachte. Also, Stichworte zur Zeit im 3. Reich.

Sozialer Stand: Vater, Leiter der Landwirtschafts- und Forstkasse des Kreises, Mitglied der NSDAP, denn ohne Mitgliedschaft – keine Arbeit im öffentlichen Dienst. Mutter: Hausfrau, 4 Töchter, Mutterkreuzträgerin, Nichtmitglied der Partei oder der Frauenschaft, Christin.

Adolf Hitler: Übervater, Held, Retter, allmächtiger Herrscher über die arische Herrenrasse. Allgegenwärtig, sein Bild in jedem Wohnzimmer, Schaufenster, Klassenraum, Büro. HitlerGruß bei jeder Begegnung mit anderen Menschen.

Schule: Allmorgendlicher Fahnenappell – Muskelstrapaze -, Anwesenheit ist Pflicht. Harte Disziplin, Erziehung zum Deutschen Kind: tapfer, treu und wahr, für Führer, Volk und Vaterland. Liedgut: Patriotische Lieder. Mutter lehrt uns die alten Volkslieder. Erziehung zur Nichtachtung aller „Nichtarier". Mutter verlangt, diese „Untermenschen" mit Höflichkeit und Achtung zu behandeln.

Lebenslauf eines deutschen Kindes: Mit 10 Jahren Eintritt in das Jungvolk. Noch keine Pflicht, aber wer nicht mitmacht, wird abgeholt. Der Zwang steigert sich. Mit 15 Pflichtjahr der Mädchen. Kostenloser Einsatz, fern vom Elternhaus, bei fremden Menschen. Für die Jungen vormilitärische Ausbildung. Mit 18 melden sich die meisten freiwillig zum Dienst an der Waffe. Wer immer noch kein Nationalsozialist ist, kommt zum Arbeitsdienst, wird mit dem Spaten geschliffen, d.h. Feldarbeit beim Bauern für die Mädchen, harter Straßenbau o.ä. für die jungen Männer. Leben in kasernenähnlicher Gemeinschaft. Nach 6 oder 7 Monaten Eintritt in die Armee, Frauen gehen in die Munitionsfabrik oder werden Rot-Kreuz-Helferin bzw. Blitzmädel. Wer sich jetzt entzieht, gilt als fahnenflüchtig, wenn aufgegriffen, Konzentrationslager oder Tod.

Krieg: Die Angst steigert sich, Bombenangriffe, nachts keinen Schlaf, alles wird „eingezogen": unser Hund, unser Schlitten, alle überzähligen Betten und Decken. Menschen, die wir kennen, verschwinden einfach wie die Zirkusfamilien Blum und Geissler, die seit einigen Jahren in unserer Nähe wohnen. Zusammen haben sie viele Kinder. Angesiedelt im Osten, ist die offizielle Auskunft. Nach dem Krieg kehrt nur Herr Blum und eine der Geisslertöchter zurück. Alle anderen sind in Auschwitz vergast worden. Sie hatten das Pech, Nichtarier (Juden und Roma) zu sein. Onkel und Cousins fallen an der Front. Die Angst um den Vater ist täglicher Begleiter. Ich fürchte mich vor Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern. An den Ladentüren Schilder: „An Juden und Polen wird nichts verkauft". Verwundete, Krüppel und Flüchtlingstrecks aus dem Osten. Durchhalteparolen aus Radio, Lautsprecher und auf Kundgebungen. Spitzel sind überall. Der gestreckte Zeigefinger an den geschlossenen Mund gelegt, wird Mutters häufigste Geste. Vater ist im Osten.

Die Stunde Null: Die Russen kommen. Wir fliehen viel zu spät, landen mitten in der Front im Torgauer Kessel. Hilfeschreie der vergewaltigten Frauen und Mädchen, Erschießungen von Zivilisten auf offener Straße. Tote und schreiende Verwundete überall. Mutti will mit uns in die Elbe gehen, wir können alle nicht schwimmen. Sie bringt es nicht fertig. Irgendwie überleben wir, - ohne Hoffnung, ohne Zukunft, ohne Ideale, ohne Brot - klammern uns aneinander und sind doch froh, noch da zu sein. Alles, alles liegt in Trümmern. Welten sind eingestürzt.

Was habe ich mit ins Leben genommen aus dieser Zeit?

Materielle Dinge haben wenig Stellenwert. Sie sind heute da und morgen fort. Wert allein hat das menschliche Miteinander. Es gibt keine besseren oder schlechteren Völker – es gibt nur Menschen, gute oder böse. Menschen sind leicht durch Propaganda und schöne Reden verführbar. Ich lasse mich nicht verführen, hinterfrage alles, höre die verschiedenen Seiten an und bilde mir mein eigenes Urteil. Autoritäten beeindrucken mich nicht, es sei denn, ich kann sie anerkennen. Freiheit ist ein kostbares Gut. Sie kommt nicht von allein, sie muss gebaut, nötigenfalls verteidigt werden. Die Demokratie ist die beste Lebensform, die wir kennen, sie hat Fehler, aber man kann verhältnismäßig angstfrei leben.

Ich hatte keine angstfreie Kindheit. Genau genommen hatte ich keine Kindheit und auch keine Jugend. Ich habe noch heute eine tiefsitzende Grundangst, ein Misstrauen allem und jedem gegenüber. Ich habe gelernt, damit zu leben, aber es wird mich bis zum Lebensende begleiten.