Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -

 

Siegfried

Wie alle Menschen bin auch ich, ohne es zu wissen, hineingeboren in eine bestimmte „Zeit". Diese war geprägt durch einen verlorenen Krieg, 1914-1918, eine neue, noch wenig stabile Staatsordnung, die „Weimarer Republik" mit etwa 30 Parteien, mit Wirtschaftskrisen und wachsender Arbeitslosigkeit.

Als 2. prägendes Element sehe ich heute das Land an, im Osten Deutschlands, also eher ein „Grenzland" mit Jahrhunderte langer Geschichte und Tradition, der Menschen in Schlesien mit ihrer Sprache, Geschichte, ihrem Brauchtum, mit Städten, Dörfern, Kirchen und Klöstern voll Kunst, Wissenschaft, Religiosität, Heimatverbundenheit.

Das 3. Element ist die Familie mit ihrem alltäglichen Leben und Wandel. Erste Erinnerungen gehen zurück bis in die „Spielschule", so nannten wir den heutigen „Kindergarten". Dann folgte eine 1-klassige katholische Volksschule mit einem Lehrer in einem Schulkomplex mit 3 Gebäuden und mehreren hundert „evangelischen" Schulkindern. Ich erlebe als Kind, was eine „Minderheit" ist, dass nicht nur „die Großen", sondern auch „die Kleinen" sehr unterschiedlich sind. Dennoch haben wir uns miteinander verbunden gefühlt. Sport-, Turn-, Gesang-, Schützenverein-, Kirchengemeinde, aber auch Gegensätze, besonders durch die „Parteien". Eine richtige Straßenschlacht haben wir miterlebt und alle Parolen mitgerufen: „Wer macht uns dumm, das Centrum!" „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" „Hitler verrecke, im Drecke!" Lieder haben wir gesungen, wir wollten überall dabei sein. Mit meinem Wechsel auf die Oberrealschule 1934 begann ein neuer Abschnitt. Ich kam mir dort komisch vor, denn seit 1933 war mein Vater arbeitslos. 16,50 RM pro Woche „Stempelgeld" für eine 5-köpfige Familie. „Schulgeldermäßigung" gab es, aber dafür wurde nicht nur eine gute Leistung gefordert, sondern auch ein Engagement in der „Nationalen Erhebung" und „neuen" Jugendbewegung. Aber Turnen, Fußball und die kirchliche Jugendgruppe füllten mich aus. Dann wurde der „Staatsjugendtag" eingeführt: Alle „Nichtorganisierten" mussten samstags in die Schule zum „nationalpolitischen Unterricht" und Sport. Alle „öffentlichen Veranstaltungen" durch Vereine, Kirchen, Verbände bedurften der Genehmigung, z.B. Wettkämpfe für Jugendliche unter 14 Jahren. Pfiffigkeit, Zivilcourage, Menschenkenntnis waren gefragt. Wer war ein „echter" Nazi, und wem durfte man vertrauen?

Regional gab es aber große Unterschiede Zum Beispiel trafen wir Verwandten uns alle Jahre im Sommer im Riesengebirge bei den Großeltern in Hermsdorf unterm Kynast. Da staunten meine Cousins, dass ich noch mit dem „ND"- Abzeichen, dem Erkennungszeichen des Bundes Neudeutschland - katholische Jugendorganisation – herumlief, obwohl alle kirchlichen Jugendverbände längst verboten waren! Wir hielten weiter Briefkontakt. Prompt kam die „Gestapo", sowohl in Westfalen als auch bei uns in Hirschberg, ins Haus zur Hausdurchsuchung, und ich musste zum „Verhör".

Dieser Zwiespalt zwischen Vaterlandsliebe, Nationalbewusstsein und abendländischer Geschichte und dieser radikalen, brutalen und großkotzigen Ideologie wurde uns durch den Krieg noch mehr zur Belastung. Aber wir „Nonkonformen", durch die katholischen Jugendbewegung geprägt, dachten abendländisch-europäisch und sahen im "Bolschewismus" die größere Gefahr für Europa, wohl wissend, dass es den Chefideologen der „Partei" nach dem Endsieg vor allem darum ging, die Pfaffen auszurotten. Merkwürdig, um Ausrottung ging es den damaligen Rechtsradikalen auch schon. Heute geht es gegen den „Terrorismus". Wir heute und hier werden eine andere Lösung finden müssen!

Ich glaube, für mich nach dem Krieg eine gefunden zu haben, die sogar allgemeingültig sein kann, also übertragbar in das Leben einzelner und solcher, die sich verbunden wissen im Wirken für eine gemeinsame Verantwortung. In dem Maße, wie wir unser eigenes Leben begreifen, werden wir auch andere verstehen, die uns fremd scheinen.