Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

     Helga       Bericht  von Helga Brachmann, Arbeitsgruppe Zeitzeugen der Universität Leipzig Erstveröffentlichung unter
                                                                          www.uni-leipzig.de/fernstud/Zeitzeugen/

 

Wie ich den 4. Dezember 1943 in Erinnerung habe.

Dass die Luftschutzsirenen mit ihrem schauerlich-hohlen Klang und dem Auf- und Ab ihrer Tonskala nachts uns aus den Betten holten, um vor feindlichen Fliegerangriffen zu warnen, das war im Herbst 1943 in Leipzig nichts Ungewöhnliches. So schlüpften meine Schwester und ich am 4. Dezember kurz nach 3 Uhr in die Trainingsanzüge, warfen Kleider Wäsche, Mäntel in den krossen Wäschekorb und eilten in den einzigen fensterlosen Raum des Hauses, den kalten Vorraum zu7m Heizungskeller, nur mit dem  e i n e n Wunsch, dass die Entwarnungstöne  der Sirenen uns bald wieder ins Bett zu gehen erlaubten.

Aber nichts von Entwarnung, es gab einen ohrenbetäubenden Lärm, eine Wolke aus Mörtelstaub, die Glühbirne flackerte und erlosch. „Müssen wir jetzt alle sterben?“ flüsterte mein kleiner Bruder. Nasse Tücher legten wir uns über Nase und Mund unerwarteten frierend. Aber das erlösende Entwarnungszeichen blieb aus. Mein Vater ging ins Freie. „Ihr könnt hinaufgehen, man hört kein Flugzeuggeräusch mehr, aber Leipzig brennt!“ und dann der Schreck auf dem Korridor: Wir hatten keine Decke mehr über den Kopf, der dunkle Himmel breitet sich direkt über uns aus.

Vormittags säuberte mein Vater die Fensterrahmen von Glassplittern und vernagelte mit Pappe die offenen Fensterhöhlen. Meine Mutter, meine Schwester und ich waren mit dem Reinigen der Möbel im Korridor beschäftigt, am schwierigsten war es aus der Nähmaschine, die aufgedeckt den gesamten Dreck von der Korridordecke abbekommen hatte, mit einem Pinsel, Mörtel, Farbreste und Schmutz herauszukratzen.

Nachmittags hatten meine Schwester und ich einen Vorspieltermin in der Grassistraße, im Saal der Hochschule für Musik, in der5 unsere Musikschule für „Jugend und Volk“ Gastrecht hatte. Erschro9cken sahen wir die Feuer in der damaligen Kaiser-Friedrich-Straße (heute Lützowstraße), die Trümmerteile auf den Schienen ließen keine Straßenbahn fahren. Der Geruch nach verbrannter Farbe und versengtem Bohnerwachs legte sich auf den Magen. Keine Feuerwehr zu sehen! Fünfhundert Schritte waren plötzlich ein Trümmerhaufen, wo

Schweigend eifrig geschaufelt wurde. „Hier wohnt doch Lucie Specht“ rief ich, da drehte sich ein älterer Mann zu mir um: “Die ist da unten verschüttet, zusammen mit Vater und Mutter und ihre 4 Geschwistern, eben hat man noch Klopfzeichen gehörte. „Der Mann schippte weiter. Die fröhliche Lucie, mit der ich vor acht Tagen noch Luftschutznachtdienst in der Schule hatte! Nicht auszudenken! Doch wir glaubten noch immer, dass wir pünktlich zum Vorspiel in die Stadt müssten. Wir eilten von der Unglücksstelle in der Erfurter Straße zur Richterstraße, wo damals der Musikschuldirektor wohnte (Paul Schenk, der durch theoretische Schriften noch heute jedem Musikstudent ein Begriff ist.) Er öffnete uns, rußverschmiert und grau im Gesicht, in seinem Haus hatte es gebrannt, auch hier waren alle Fenster kaputt. „Geht nach Hause, Kinder“, sagte er, „Ihr kommt nicht durch in die Stadt“. Also drehten wir um, gingen wieder zur Erfurter Straße, kein Mensch schippte mehr... was bedeutet das? Eine ältere Frau stand nur weinend nahe dem Trümmerhaufen. „Der Tunnel, den die Leute hier graben wollten, um Familie Specht zu retten, ist eingestürzt. Jetzt gibt niemand mehr Klopfzeichen!“ Meine Schwester und ich waren sprachlos vor Entsetzen und gingen weinend nach Hause. Vier Wochen später fand in unserer Schulte (Gaudigschule, später Herderinstitut, nahe Nordplatz) eine bewegende Trauerfeier für Familie Pfarrer Specht statt...