Zeitzeugenberichte   - Kriegs- und Nachkriegszeit -   

 

    Helga     Bericht  von Helga Brachmann, Arbeitsgruppe Zeitzeugen der Universität Leipzig Erstveröffentlichung unter
                                                                     www.uni-leipzig.de/fernstud/Zeitzeugen 

Meine Erinnerungen an den 8. Mai 1945

Lebhaft erinnere ich mich an das Frühjahr 1945. Im April war Leipzig von amerikanischen Truppen besetzt worden. Welche Erleichterung empfand ich „dass die Fliegeralarme und damit die Bombenangriffe vorbei waren! Alles andere aber erschein in jenen sonnigen Frühlingstagen trostlos. Stundenlang standen meine Schwester und ich vor Lebensmittelgeschäften an, um so ungewohnte Dinge wie Hirse, getrocknete Kartoffelscheiben oder Gerstenkörner zu ergattern. Der Hunger quälte, dazu kamen all die Ungewissheiten. War noch Krieg? Hatten wir noch eine deutsche Regierung? Wann würde es wieder zu Hause Strom geben, damit man Nachrichten hören konnte? Zeitungen erschienen nicht mehr. Wann würde es wieder Gas geben, um kochen zu können? Wann würde die Schule wieder anfangen? Und würden die amerikanischen Besatzer ein Musikstudium zulassen?

Meine Mutter meinte, die Menschen würden immer Musik brauchen, und dies ermunterte meine Schwester und mich, wenn wir nicht gerade nach Lebensmitteln anstanden, fleißig zu üben, sie Geige, ich Klavier. Außerdem wollte mein Verlobter, dass ich nicht nachließ, mich auf das Studium vorzubereiten. Er selbst war von den Amerikanern interniert worden, zusammen mit anderen Ärzten in Uniform. Man bewachte die Männer in einer Schule im Stadtteil Lindenau, Uhlandstraße, wo es sehr human zuging. Frauen, Mütter oder Bräute durften einmal in der Woche4 unter Aufsicht amerikanischer Soldaten Besuche machen, dabei sah ich erstmals fröhlich lachende Uniformierte mit schwarzer Haut, ich hatte bis dahin noch nie Gelegenheit gehabt, Afrikaner (außer im Kino) zu betrachten.

Obwohl es sicherlich noch viel zu früh war, in der Hochschule für Musik mich nach den Studienmöglichkeiten zu erkundigen, lief ich doch in die Grassistraße. Ich war im Krieg Oberschülerin und gleichzeitig Studentin der Musik gewesen, ein Status, den es später nicht mehr gab. Welch traurigen Anblick bot das stattliche Hochschulgebäude! Trümmer versperrten den Zugang, Fensterscheiben fehlten, alles war still, menschenleer, geschlossen. Kein Aushang, zum mindesten hatte ich auf so etwas gehofft.

Beklommen ging ich zurück zum Königsplatz, der heute Wilhem-Leuschner-Platz heißt und weitgehend als Parkplatz genutzt wird. Damals hatte man riesige Trümmerberge dort angehäuft, um die Straßenbahnschienen wieder freizulegen. Plötzlich rief jemand: „Hallo, Helga, wart doch mal!“ Es war ein gleichaltriger junger Cellist, den ich von der Musikschule her noch kannte und der nicht zum Volkssturm eingezogen worden war. „Du, der >Krieg ist aus!“ „Woher willst Du das wissen? Wieso?“ „Nun, wir in Stötteritz haben seit gestern wieder Strom, und heute früh haben sei das im Radio verkündet!2 Eigentlich ein historischer Moment, auf den man jahrelang gewartet hatte! War ich erleichtert? Freute ich mich? Es war ein sehr unfeierlicher historischer Augenblick, Trümmerfelder, knurrender Magen, Angst vor der Zukunft unter einer Besatzungsmacht – und doch, ich erinnere mich genau, war auch ein klein wenig Freude und Erleichterung bei dem Gedanken dabei, dass der Krieg zu Ende war. Ich verabschiedete mich schnell von dem Cellisten, um nach Hause zu laufen und meinen Eltern und Geschwistern die Neuigkeit zu bringen. Es war der 8. Mai 1945.