Zeitzeugenberichte    - Ausbildung und Beruf -

 

Rudolf

Mein Berufsleben hatte viele Stationen

Nach meinem Abitur im Jahre 1951 begann ich eine kaufmännische Lehre bei der Fa. Dr. August Oetker in Bielefeld, einem Familienbetrieb, den schon der Großvater des jetzigen Inhabers, ein Apotheker, gegründet hatte. Nach zwei  Jahren machte ich meine  Prüfung als Industriekaufmann und begann hier auch meine erste praktische Tätigkeit im Vertrieb. Ich bearbeitete Kundenaufträge und Kundendaten.

Das genügte mir aber auf Dauer nicht. Darum nahm ich im Jahr 1954 das Studium der Betriebswirtschaft in Köln auf. Ein Studium war damals teuer: Man musste Semester- und Hörergebühren bezahlen. Meine Eltern waren nicht in der Lage, das aufzubringen. Daher bemühte ich mich um finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten. Und die gab es auch damals schon!

Bafög kannte man zwar noch nicht, aber ich bekam eine Studienbeihilfe und kostenlosen Mittagstisch in der Mensa, danach Unterstützung nach dem sog. Honnefer Modell. Dafür musste ich allerdings an jedem Semesterende, wenn meine Kommilitonen schon nach Hause fuhren, eine Prüfung ablegen. Außerdem unterstützte mich die Fa. Dr. Oetker mit einem kleinen, monatlichen Betrag – ohne jede Verpflichtung!

Tatsächlich habe ich in allen Familienbetrieben, in denen ich auch später tätig war, die Erfahrung gemacht, dass die Inhaber Wert legten auf ein gutes Betriebsklima und auf die Pflege guter Kontakte zu ihren Mitarbeitern.

Doch zunächst einmal galt es, meinen Lebensunterhalt während des Studiums zu finanzieren. Dafür reichten die knapp bemessenen Geldmittel nicht aus.  Ich musste also in den Semesterferien arbeiten. Das tat ich bei verschiedenen Bielefelder Firmen und Behörden:  bei Oetker, Dürkopp und im Finanzamt.

Dabei habe ich auch intensiv die Situation eines normalen Arbeiters bei Dürkopp kennen gelernt. Besonders haften geblieben ist mir der morgendliche Beginn, wenn die große Eingangstür hinter mir zuschlug und ich meine Anwesenheit mit Hilfe der Stechuhr dokumentieren musste. Meine täglich sich wiederholende, stumpfsinnige Arbeit bestand darin, fertige Kugellager und Kugellagerkäfige auf Maßgenauigkeit und dann auf Qualität zu überprüfen, indem ich sie aus einer gewissen Höhe auf eine Metallplatte fallen ließ und dabei den Klang testete. Machte es ping, war alles in Ordnung, bei einem anderen Klang nicht. Und das acht Stunden am Tag mit einer Mittagspause von 15 Minuten!

Nach meinem Examen im Jahre 1959 fing meine eigentliche Berufstätigkeit an. Ich begann sie wieder bei der Fa. Oetker, diesmal in der Revisions- und Organisationsabteilung. Vier Jahre lang wurde ich in vielen unterschiedlichen Branchen als Revisor eingesetzt, z.. B. bei Söhnlein, Langnese-Honig, Pick-Textil-Groß­handel, Meyer-Berlin (eine Supermarktkette), Gorbatschow (ein Wodkaproduzent), im Alpensanatorium Bad Wiessee  (als kommissarischer Direktor und als Verbindungsmann zu Brenners Parkhotel in Baden-Baden), in der Chemischen Fabrik Budenheim, in der Hanseatischen  Hochseefischerei Söhle KG oder in den Zweigfabriken in Berlin und Hamburg.

So lernte ich nicht nur die Vielfalt des Konzerns von seiner  Struktur und Innenperspektive her kennen, sondern gewann zu meiner theoretischen Ausbildung noch umfangreiche praktische  Erfahrungen hinzu.

Doch die vielen Reisen, die ich zunächst äußerst spannend fand, wurden mit der Zeit zur Routine und reizten mich nicht mehr so sehr.

Darum habe ich die neue Herausforderung, die sich mir innerhalb des Konzerns bot, gern aufgegriffen. Jetzt sollte ich im – mir völlig unbekannten - spekulativen Bereich beschäftigt werden: bei  der Fa. Orimex in Hamburg (Oetker Import- Export-Gesellschaft). Diese Firma  importierte Grundstoffe für den Oetker-Pudding: Mais und Kakao. Dabei musste der Preis insbesondere für die Kakaoimporte  abgesichert werden. Und diese Absicherung erfolgte an den Warenterminbörsen in New York, London, Paris und Amsterdam. In meine Zuständigkeit fiel die Finanzierung der Transaktionen und deren Kontrolle. Da ich noch keine Erfahrungen im Börsengeschäft hatte, hospitierte ich zunächst mehrere Monate lang als Gast bei einer Oetker-Tochter-Firma in London. Lauter neue Eindrücke!

Mein Schulenglisch verbesserte sich deutlich, was mir bald zu Hilfe kommen sollte. Denn ich wurde  u. A. mit der Aufklärung eines Betrugsvorfalles in der amerikanischen Tochterfirma befasst. Beinahe von einem Tag auf den anderen musste ich deswegen nach New York fliegen, in Englisch recherchieren und schließlich Konsequenzen einleiten. So musste ich ein zweimotoriges Privatflugzeug pfänden lassen und den Leiter der Firma, ein eigentlich immer fröhlicher, aber auch leichtsinniger Ire, entlassen. Dies war die unangenehme Seite der Aufgabe. Daneben aber gab es für mich überwältigend Neues und Interessantes. Dies war aber bei Weitem nicht die einzige Reise während dieser Tätigkeit. Immer wieder hieß es plötzlich: auf nach Paris oder Genua und Mailand.

Zusätzlich zu der Tätigkeit als Prokurist bei Orimex war ich damals noch für die Verwaltung der angeschlossenen Maisstärkefabrik in Hamburg zuständig.

1965 wurde ich dann von der Konzernleitung gebeten, die Verwaltung einer auch zu Oetker gehörenden Hoch- und Tiefbaufirma in Karlsruhe zu übernehmen. Dieser Betrieb war durch eine falsche Preiskalkulation bei einer großen Autobahnbaustelle in eine wirtschaftliche Schieflage geraten. Meine Aufgabe war es nun, zunächst einmal eine betriebswirtschaftliche Fehleranalyse durchzuführen und gemeinsam mit der technischen Leitung nach neuen Lösungen zu suchen. Im Laufe der Zeit gelang die Sanierung, u. a. auch durch Entlassungen.

Von 1967 bis 1969 war ich noch einmal in meiner vorherigen Funktion  in Hamburg tätig. Die Tätigkeit war nach wie vor aufregend, aber ich sah  bei der Fa. Orimex  bald keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr für mich  und entschloss mich, den Oetker-Konzern zu verlassen. Es zog mich in meine Heimatstadt zurück.

Ich bewarb mich bei einer renommierten Polstermöbelfabrik. In dieser wachsenden Firma übernahm ich die Leitung des Finanz- und Rechnungswesens. Jetzt war ich umgeben von edlem Design, nicht nur in der Fabrik selbst, sondern auch in einem anspruchsvollen Möbelhaus in Augsburg ,wo ich gleichzeitig Geschäftsführer war.. Da es hier wieder um  eine wirtschaftliche Hilfeleistung ging, fuhr ich länger als ein Jahr lang mittwochs mit dem Nachtzug dorthin und freitags mit dem Spätzug zurück. Die erste Hälfte der Woche war der Arbeit in der Möbelfabrik vorbehalten.

Diese Tätigkeit machte mir insgesamt Spaß, sie war aber leider nicht von Dauer. Als nämlich der Sohn des Inhabers meine Stelle  beanspruchte, musste ich die Firma verlassen. Daraufhin nahm ich mir vor, nie wieder in einem Familienbetrieb zu arbeiten. Doch als ich mich nach einer neuen Stelle umsah, bot sich  die beste Chance in einer bekannten großen Spedition, auch einem Familienbetrieb. Die beiden Inhaber waren Brüder. Und diese Konstellation sollte sich wiederum als negativ für mich heraus stellen. Was ich vorher nicht wusste, war die konflikthafte Beziehung der beiden Brüder. und dass ich als Prokurist häufig zwischen die Fronten geraten sollte.

Nach wenigen Jahren verließ ich die Firma wieder. Ich hatte ein neues Angebot von der Fa. Oetker bekommen! Und zwar  wurde mir jetzt die Leitung der Verwaltung in den Textilfabriken Windsor, Wappen-Wäsche und der Mantelfabrik Schmid und Tischmeyer in Bad Harzburg  übertragen, die alle zu Oetker gehörten. Hier war das Umfeld von Modekriterien geprägt. Eine für mich fremde Welt öffnete sich!  Ich habe nicht nur Modenschauen  erlebt, sondern auch  internationale Modeschöpfer wie Pierre Cardin oder  Giorgio Armani bei Li­zenzverhandlungen kennen gelernt. 

Doch der Textilbranche ging es zunehmend schlechter. Schließlich trennte sich die Fa. Oetker von ihrem gesamten Textilengagement. Für mich bedeutete das  einen neuen Wechsel, aber diesmal innerhalb des Konzerns. Ich wurde zuständig für den Ceres-Verlag, die Haushaltsgerätegesellschaft und später für eine Kerzenfabrik im Raum Heidelberg. Wieder musste ich hin und her reisen. Doch auf Dauer reichte dies halbe Engagement für das Management der Kerzenfabrik nicht aus. Vielmehr wurde die ständige Anwesenheit eines kaufmännischen Leiters vor Ort notwendig. Folgerichtig wurde mir nahe gelegt, hauptamtlich in der Kerzenfabrik tätig zu sein. Das aber hätte die ständige Trennung von der Familie bedeutet, da sie nicht noch einmal umziehen wollte. In­zwischen hatte meine Frau ihre Berufstätigkeit wieder aufgenommen, die Kinder gingen zur Schule, und wir hatten ein Haus gebaut. 

Also ging ich wieder auf Stellensuche, mit inzwischen 51 Jahren. Es war das Jahr 1981, der Markt war enger geworden, und ich wusste nicht, ob ich in meinem Alter noch etwas Passendes in meiner Umgebung finden würde. Meine Sorge war groß, und ich war bereit, Gehaltseinbußen hinzunehmen. Glücklicherweise hatte ich  mit meiner Initiativbewerbung bei der Landmaschinenfabrik Claas in Harsewinkel Erfolg. Wie aber schon erwartet, musste ich mich mit einem geringeren Einkommen zufrieden geben.

Mein täglicher Weg betrug nun in der Regel 35 km pro Fahrt, es sei denn, ich wurde in die Zweigfabrik nach Paderborn oder nach Großbritannien zu einer neu übernommenen Gesellschaft geschickt. Wieder war ich in einem Familienunternehmen gelandet, das – wie die Fa. Oetker - weltweit operiert. Je nach Ernteaussichten  gingen die Geschäfte gut oder weniger gut. Verkauft wurde nicht nur ins westliche Ausland, sondern auch in den Ostblock, sofern die Finanzierung in harter Währung gesichert war. Darüber hinaus ließ die Fa. Claas schon damals preiswert in Ungarn  und in der Tschechoslowakei Zubehörteile für ihre Mähdrescher produzieren. 

Meine Aufgabe war es zunächst, am Ausbau der betriebswirtschaftlichen Abteilung mitzuwirken. Hatte man früher die Mähdrescher einfach gewogen, um deren Wert zu ermitteln, so konnte es so natürlich nicht weiter gehen. Intelligente Technik lässt sich nicht nach ihrem Gewicht bemessen! Darum musste meine Abteilung den Erfordernissen eines global tätigen Unternehmens angepasst werden. Und sie musste sich darauf einlassen, die damals noch junge elektronische Datenverarbeitung für ihre Zwecke einzusetzen. 

Nun musste auch ich wieder ganz Neues erlernen.  Zwar hatte ich schon in  meinen früheren Betätigungsfeldern  die Vorstufen einer automatisierten Datenverarbeitung mit Lochkarten und  -maschinen erlebt, aber die waren natürlich mit den neuen, elektronischen Systemen nicht vergleichbar. Die Computer, die wir jetzt anschafften, hatten noch keine benutzerfreundliche Oberfläche. Der Bildschirm zeigte lediglich Zahlen, eine Art Code, den sich jeder mühsam aneignen musste. 

Diese Technologie brachte uns aber viele Vorteile. Sie ermöglichte uns, die Arbeitsabläufe, den Materialverbrauch und den Arbeitsaufwand zu erfassen und darzustellen. Eine neue Ära hatte begonnen ! Was lag also näher als dieses moderne System im gesamten Konzern einzuführen, also auch in den Zweigfabriken in Paderborn und Schloß Holte? Da ich mich im Hauptwerk in Harsewinkel mit dieser Materie  vertraut gemacht hatte, aber nach wie vor in Schloß Holte wohnte, kam diese Aufgabe wie selbstverständlich  auf mich zu. Mit 57 Jahren musste ich daher noch einmal meinen Arbeitsplatz wechseln. Doch endlich konnte ich jetzt meistens zu Fuß in meine Firma gehen, eine völlig ungewohnte Situation für mich.

Aufgrund einer neuen Konzernplanung wurde die Existenzberechtigung  dieses Werkes in Frage gestellt. Schließlich wurde es 1994 still gelegt. Da ich zu diesem Zeitpunkt schon 64 Jahre alt war,  traf mich diese Entscheidung nicht mehr persönlich. Die jüngeren Mitarbeiter wurden vom Paderborner Werk übernommen, und ich konnte beruhigt in die Rente gehen.

In diesem Bericht über mein berufliches Leben, das wohl nur in der boomenden Wirtschaft der Jahre 1960 bis 1990 möglich war, klingt vieles sehr glatt und problemlos. Doch sollte auch die Kehrseite eines solchen Lebens nicht ganz ausgeblendet werden. So habe ich damals schon unter dem ständigen Erfolgsdruck gelitten, und auch die Sorge vor dem Verlust meines Arbeitsplatzes hat mich belastet. Darüber hinaus kam das gemeinsame Familienleben viel zu kurz.