|
Zeitzeugenberichte - Ausbildung und Beruf -
Werner 12 Jahre auf dem Weg zum „richtigen“ Beruf
Bielefeld,
7. Februar 2005 (1952 - 1963) 1) Schulentlassung Bei meiner Entlassung aus der Klasse 10 einer
Mittelschule im Osnabrücker Land war ich schon 18 Jahre alt. Durch den Krieg
hatte ich zwei Jahre verloren. Aus finanziellen Gründen (Schulgeld) und wegen
der großen Entfernung bei schlechten Verkehrsverbindungen konnte ich kein
Gymnasium besuchen. Für das Zeugnis der sog. Mittleren Reife mußten wir eine
Abschlußprüfung ablegen: Drei Tage schriftlich in Deutsch, Englisch und
Mathematik (Klassenarbeiten in versiegelten Briefumschlägen vom Regierungspräsidenten)
und einen Vormittag alle zehn Schüler zusammen mündlich unter Vorsitz eines
Regierungsschulrates. 2) Berufswahl Schon ein Vierteljahr vorher stellte sich die Frage:
Welchen Beruf will ich wählen? Leider spielten Eignung und Neigung nur eine
untergeordnete Rolle. Hauptsache war für meine Eltern, daß mich der Beruf vom
ersten Tag an finanziell unabhängig machen würde. Da gab es für mich nur zwei
Möglichkeiten zur Auswahl: Kohlebergbau im Ruhrgebiet oder mittlerer
Postdienst, 250 DM oder 140 DM monatlich im ersten Lehrjahr. Ich entschied mich
für die Post, nachdem ich die Eignungsprüfung bestanden hatte. 1952 gab es
noch viel zu wenig Lehrstellen: Von 480 Bewerbern kamen 120 in die engere Wahl,
60 wurden im Bezirk Bremen eingestellt. 3) Mittlerer Postdienst Im mittleren Postdienst war ich Bundesbeamter auf
Widerruf, drei Jahre später auf Probe. Die Deutsche Bundespost vor 50 Jahren
war völlig anders als heute. Hier einige Beispiele: Wir trugen taubenblaue
Uniformen mit einem gelben Posthorn. Zu unserer Ausbildung gehörten der Dienst
als Briefträger, am Postschalter und im handvermittelnden Fernsprechamt.
Vorwahl gab es noch nicht. Der normale Brief kostete 20 Pf, die Postkarte 10 Pf.
Wir mußten in Posterdkunde viele Städte und Bahnstrecken auswendig lernen.
Postleitzahlen im heutigen Sinne gab es ebenfalls noch nicht, nur
Postleitgebiete als Überbleibsel aus dem 2. Weltkrieg. Die monatlichen
Rundfunkgebühren in Höhe von 2 DM wurden vom Briefträger bar einkassiert. Die
Monatsrenten wurden am Postschalter bar ausgezahlt. Acht Jahre blieb ich bei der
Post. Mein erstes Monatsgehalt betrug 140 DM, mein letztes als Postassistent
320 DM netto. Zuletzt
bekam ich
16 Werktage
Jahresurlaub, als Lediger meist im November, manchmal noch unterbrochen,
wenn sich jemand krankmeldete. 4) Jugendarbeit und Berufswechsel Neben meiner hauptberuflichen Tätigkeit, oft auch im
gehobenen Dienst in der Kraftfahrzeugstelle, widmete ich mich in meiner Freizeit
der Jugendarbeit in der evangelischen Kirchengemeinde, zusammen mit anderen
Jugendleitern. Wir waren Anfang bis Mitte 20, also schon etwas älter als die
Jugendlichen in der Gruppe. Bibelarbeiten, Themen, Spiele, Lieder, Sport,
Wanderungen und Zeltlager gehörten zu unseren Veranstaltungen. So reifte nach
und nach der Entschluß, meine pädagogische Tätigkeit zum Hauptberuf zu
machen. Da ich kein Abitur hatte, bot sich mir der zweite Bildungsweg an,
entweder um Pfarrvikar oder um Volksschullehrer zu werden. Ich schrieb einen
ausführlichen Lebenslauf und meldete mich bei der Pädagogischen Akademie in
Dortmund zur Begabtensonderprüfung an. Die schriftlichen Arbeiten waren Mitte
Januar 1960, die mündlichen Prüfungen einen Monat später. Das Zeugnis über
die bestandene Prüfung entsprach einem Nachabitur und berechtigte zum Studium
an einer Pädagogischen Hochschule. Auch hier wieder eine strenge Auslese: Von
200 Bewerbern bestanden schließlich nur 25. Ich kündigte bei der Post, ein Jahr vor der
Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit, um noch einmal von vorn anzufangen, ohne
Gehalt und mit einem Sparbuch von 700 DM als bescheidene Ersparnisse. Würde das
gut gehen? 5) Studium für den Lehrerberuf Es ging gut, und ich begann - hochmotiviert und mit
Feuereifer - mein Lehrerstudium an der Pädagogischen Hochschule in Dortmund.
Anfängliche Bedenken, mit den „richtigen“ Abiturienten Schritt halten zu können,
zerstreuten sich schon sehr bald. Wir „begabten Sonderlinge“ waren etwa 7
Jahre älter und reifer und hatten alle - von der Schulbank weg -
Berufserfahrung gewonnen und im praktischen Leben gestanden. - Mit Interesse und
Lernbegier stürzte ich mich auf die Vorlesungen und Seminare. Was gab es da
nicht alles zu erfahren für mich als Aufsteiger! Wir hatten die Fächer Pädagogik,
Psychologie, Didaktik, Soziologie und Philosophie, ferner Fachdidaktik in
Deutsch, Mathematik und einem Wahlfach - für mich Ev. Theologie - sowie
Methodik in Sport, Kunst, Musik (Schwerpunkt) und den sog. Sachfächern,
für mich Physik als Schwerpunkt. 6) Lebensunterhalt Im 1. Semester wohnte ich privat, vom 2. - 6.
Semester in einem Doppelzimmer im Studentenheim. Ich erhielt monatlich etwa 250
DM nach dem Lastenausgleichsgesetz (LAG) für Ostvertriebene. Nebenbei arbeitete ich bei der
Post, im Semester abends im Bahnhofsdienst für Pakete, in den Semesterferien
auch am Schalter des Hauptpostamts Dortmund. An manchen Wochenenden verdiente
ich als „Touropa“- Zugbegleiter von Samstag bis Montag etwa 80 - 100 DM
(einschließlich Trinkgelder). Als Vertrauensstudent der Ev. Studentengemeinde
konnte ich im 5. und 6. Semester sogar mietefrei wohnen, weil das Studentenheim
der Westfälischen Landeskirche gehörte. 7) Praktika und Prüfung Unser ganzes Studium war praxisnah angelegt, um den
sog. Praxisschock von vornherein auszuschließen. Deshalb gehörten eine Reihe
von mehrwöchigen Praktika zu unserem Studiengang, zum Beispiel
a)
ein Hospitationspraktikum in einer Volksschule b)
ein freiwilliges Kindergartenpraktikum c)
zwei Sozialpraktika bei der Inneren Mission Dortmund:
Ferienbetreuung
von etwa 50 Kindern im Weserbergland und auf der Nordseeinsel Juist d)
schulpraktische Übungen in verschiedenen Klassen und Fächern einmal
wöchentlich während des Semesters e)
ein Stadtschulpraktikum und f)
ein Landschulpraktikum. Die Erste Lehrerprüfung bestand aus einer
wissenschaftlichen Hausarbeit, meist im Wahlfach. Die mündlichen Einzelprüfungen,
etwa in Pädagogik und Psychologie, verteilten sich bei mehr als 400 Kandidaten
über längere Zeit. Nun war der Weg in den erstrebten Lehrerberuf endlich
frei. Die Schulämter warteten schon auf uns, herrschte doch 1963 ein
erheblicher Lehrermangel. Meine kurz vor der Pensionierung stehende
Klassenlehrerin sagte bei meiner Entlassung zu mir: „Was willst du im Bergwerk
oder bei der Post? Du bist doch der geborene Lehrer!“ Ich wollte ihr damals
nicht glauben. Gibt es das überhaupt, den „geborenen“ Lehrer? Aber sie
sollte recht behalten - wenn auch erst 12 Jahre später.
|
|