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Zeitzeugenberichte
- Ausbildung und Beruf -
Hendrik
Rückblick, ein
Berufsleben im Spiegel der Zeit und Gesellschaft
1952 – 1997 - 45
Jahre Industriekaufmann -
Einfach toll, zu Besuch in
meiner alten Heimatstadt, Hamburg, hier bin ich geboren, hier habe ich den größten
Teil meiner Jugend verlebt, geheiratet und hier sind alle meine 4 Kinder
geboren. Heute lebe ich seit fast 30 Jahren in Westfalen, und das hatte
berufliche Gründe. Ich erinnere mich.
1. Hamburg 1952 -
1955 – 1958 Die Firma
-
Lehrjahre sind keine Herrenjahre -
Hier fing alles an, Hamburg St.
Georg. Hier begann am 15. April 1952 meine Ausbildung zum Industriekaufmann.
Der Inhaber der Firma beschäftigte gut 100 Mitarbeiter,
die in verschiedenen Gewerken in den 5 Stockwerken eines Hinterhauses
Neonleuchtreklamen herstellten. Nun, wo ich nachdenklich vor dem alten Gebäude
stehe, werden plötzlich wieder Erlebnisse lebendig, die sich mir tief eingeprägt
hatten.
2. Lehrjahr 1954, 18:30
Uhr, ein grauer Tag. Ich sitze in der Telefonzentrale, die Tür zum Chefzimmer
ist weit offen. Der Chef telefoniert lange mit seinem wichtigsten Kunden und überzeugt
ihn schließlich, dass ein Preisnachlass für ein Projekte in
Frankfurt nicht möglich sei. Dann telefoniert er mit einem seiner
Lieferanten und setzt ihm die Pistole auf die Brust. 10% Nachlass oder der
Auftrag geht an die Konkurrenz, er musste schließlich auch gerade bluten.
„Ja, wenn das so ist“, mag der Gescholtene gesagt haben, denn ein Lächeln
auf dem Gesicht meines Chefs bekundete Erfolg
und Zufriedenheit.
Während ich noch dachte, wann
bekomme ich endlich die Briefe, die ich noch einkuvertieren und zur Post bringen
muss, manchmal saß ich in dem engen Raum bis 23:00 Uhr,
betrat Herr K, ein Grafiker, das Chefzimmer. Er war der Mann, der die tollen
Entwürfe der Leuchtreklamen auf schwarzem Karton mit leuchtender Schrift
zauberte, die den Kaufentschluss vieler Kunden beschleunigte. Unterwürfig, wie
zu der Zeit geboten, sagte er mit leiser Stimme: „Ich möchte
Sie davon unterrichten, dass wir einen Wahlausschuss gegründet haben, um einen
Betriebsrat zu wählen.“
„Was haben Sie gerade
gesagt?“ schrie der Chef, er neigte zu cholerischen Anfällen. „Wiederholen
Sie das!“ Die Stimme von Herrn K erstickte fast, ich konnte sie kaum
verstehen. Ich sah, wie der Chef,
ein kleines dürres Männchen aufsprang, den 20 Jahre jüngeren und kräftigeren
K packte, ihn hoch hob, fallen ließ und schrie: „Sie sind entlassen!“
Herr K verließ mit gesenktem Kopf das Büro und wurde nie wieder
gesehen. War er Kommunist und
wollte die Welt verändern, fragte ich mich damals?
Die Arbeit begann um 8:00 Uhr
und endete um 17:00 Uhr, sonnabends um 13:00 Uhr. Doch die meisten Kollegen im Büro
arbeiteten bis 18:00 Uhr. Oft genug klingelte um 18:30 an einem Arbeitsplatz das
Telefon. Der Chef hatte Rückfragen. Ich hörte dann in der Telefonzentrale die
Empörung: „Was, der ist schon nach hause gegangen, hat er es nicht nötig?“
Und ich selbst? Nachdem im 2.
Lehrjahr der andere Lehrling wegen einer Unregelmäßigkeit seine Ausbildung
abbrechen musste, saß ich fast jeden Abend in der Poststelle, lauschte den
Telefonaten meines Chefs, las die ganze Korrespondenz und bekam so einen
umfassenden Einblick in die Tiefen der kaufmännischen Seele. Das war der
Ausgleich für die langen Abende, die kaum andere Interessen oder sportliche Betätigung
zuließen. Widerspruch oder gar Anzeige wegen der vielen unbezahlten Überstunden
hätten zu einem gleichen Resultat
wie bei Herrn K führen können. Das wusste ich ebenso wie die Kollegen, und
deshalb folgten wir mit fast militärischem Gehorsam allen Anweisungen. Manche
harte Zurechtweisung wurde aber durch die gutmütige und hilfsbereite Chefin
gemildert.
Doch auch das sollte gesagt
sein. Jedes Jahr wurden Busse gechartert und rauschende Betriebsfeste im Grünen
gefeiert, die oft spät in der Nacht endeten. Während sonst sehr sparsam
gewirtschaftet wurde, zeigte sich der leicht aufbrausende Chef „Bester Mann,
Sie trübe Tasse“ von freundlicher Großzügigkeit.
Ja, ich beendete meine Lehre zum
Erstaunen meines Chefs mit „sehr gut“, wurde großzügig beschenkt und übernahm,
nachdem ich mich mit den Abgründen der Kostenrechnung beschäftigt und voller
Stolz einen schreibtischgroßen Betriebsabrechnungsbogen mit Kostenstellen- und
Kostenträgerrechnung erstellt hatte, die Aufgaben des Einkäufers. Nach 5 1/2
Jahren Einkauf, das Abenteuer der Preisermittlung und Vergabe, bewarb ich mich
bei der Firma W. Ich suchte neue Herausforderungen und andere Akteure.
Gesellschaftliches
Überall in dieser großen
Stadt hingen Hinweise auf Fortbildungseinrichtungen
. Die Rednerschule Fromm warb um neue Talente und große bunte Plakate empfahlen
die Werke Dale Carnegies für die Bewältigung von Lebenskrisen und Gestaltung
der neuen Zukunft. Der 17. Juni 1953 hatte auch in den
Folgejahren gezeigt, wie gespalten unsere Welt war. Ängste vor einem neuen
Krieg waren latent vorhanden und flammten immer wieder auf.
Der Aufbau der Bundeswehr und die Einführung der Wehrpflicht hatte heftige
Gegenreaktionen und Großdemonstrationen der KPD und anderer Organisationen zur
Folge. Es
war der Beginn des kalten Krieges, und ich hörte oft, wie mancher ehemalige Frontsoldat äußerte:
„Wir werden wieder gebraucht, mit den Amis gegen die Russen!“
1957 wurden die Römischen
Verträge unterschrieben. Die Gründung der europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft. Ein erster wichtiger Schritt zu einer neuen
europäischen Identität, der den alten belasteten Nationalismus in eine neue
Richtung wies.
2. Hamburg
1960 - 1962 Das Familienunternehmen
Hamburg - Winterhude war ab dem
1.10.1960 der Stadteil meiner neuen
Firma.
Eine noble Adresse, 5 Minuten entfernt von meinem zuhause. Ein
Hightech-Unternehmen würden wir heute sagen, denn es wurden elektronische Hörgeräte
in feinster Miniaturtechnik hergestellt und über eigene Niederlassungen in der
Bundesrepublik vertrieben. Der Chef war ein weitsichtiger
Unternehmer, der Entwicklungsingenieure beschäftigte, um mit innovativen
Techniken und Geräten neue Produkte und Märkte zu erschließen. So wurde auch
an völlig unterschiedlichen Entwicklungen wie drahtlosen Personensuchanlagen
und Getränkeautomaten gearbeitet. Zu damaliger Zeit ein unternehmerisches
Wagnis, denn wer wusste oder ahnte schon, dass diese Geräte und Apparate, die
es in Deutschland noch nicht gab, in wenigen Jahren unentbehrlich und
Massenprodukte werden würden.
Als Einkäufer musste ich all
die Materialien, die dafür und für die laufende Produktion der Hörgerätefertigung
benötigt wurden, in kurzer Zeit beschaffen. Doch woher, von wem und wer konnte
liefern? Meine Vorgängerin hatte scheinbar plötzlich das Unternehmen
verlassen. Lieferantenhinweise, Einkaufslisten oder Karteien waren nicht
vorhanden. Ich war in eine völlig
andere Branche geraten. Meine alten Verbindungen zur Glas-, Eisen-, Stahl-
Elektroindustrie und Handel konnten mir nur wenig nutzen. Es war die Zeit der
Vollbeschäftigung, des knappen Materials, dürftiger Informationssysteme und
langer Lieferfristen. Häufig genug warteten wir auf zugesagtes Material
unzuverlässiger Lieferanten. Einkäufer waren die von ihren
Produktionsabteilungen gejagten Erfüllungsgehilfen,
die immer dafür verantwortlich gemacht wurden, wenn die benötigten Materialien
in ausreichender Menge nicht rechtzeitig zur Verfügung standen.
Könige waren die Verkäufer,
die einen Umsatzrekord nach dem anderen aufstellten. Und da das Material knapp
war, kündigten manche Lieferanten nach dem Motto „Nimm, was du bekommen
kannst“ zwei mal im Jahr Preiserhöhungen
an. Die Begründungen dafür waren vorausgegangene Lohnerhöhungen als Folge der
letzten Preiserhöhung. Und so setzte sich das jedes Jahr fort,
eine scheinbar endlose Spirale. Um nicht immer wieder neue Preislisten
drucken zu müssen, wurden Teuerungszuschläge erfunden.
Die Preiserhöhungen waren jedoch ein Vielfaches der Lohnerhöhungen. Das
war immer Anlass genug für zähe Preisverhandlungen.
Die Zeit reichte jedoch nie, um
die endlosen Preisverhandlungen, Lieferanmahnungen und die nötigen Arbeiten für
die Warenbeschaffung in der betrieblichen Arbeitszeit zu erledigen. So blieb
vorerst nur wieder die unbezahlte Einschränkung der Freizeit durch unzählige
Überstunden. Das änderte sich erst, als ich erkannte, dass durch
Rationalisierung ein Vielfaches an Zeit- und Informationsgewinn zu erreichen
war.
Entsprechende Kartei- und Ordnungssysteme erleichterten die Arbeiten.
Schnell merkte ich, dass meine
Arbeit durch den Chef in besonderer Weise anerkannt wurde. Er schenkte mir sein
besonderes Vertrauen und bat mich, Baumaßnahmen in Auftrag zu
geben, Handwerker auszusuchen und
die Arbeiten zu überwachen. Ein Architekt sollte nicht eingeschaltet werden.
Ich hatte nicht die geringsten Fachkenntnisse und Voraussetzungen, die für dies
Aufgabe nötig gewesen wären und ließ
mich daher von den Handwerksmeistern der Anbieter beraten. Ein Blindflug über
Neuland, wie häufig in dieser Zeit, jedoch mit auch großem Glück ohne
Bruchlandung.
Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Ich
wurde beauftragt ein Villenparterre in bester Wohnlage anzumieten und
einen großen Citroen DS in Luxusausführung zu kaufen. Ein kaufmännischer
Direktor war eingestellt worden und diese Leistungen waren scheinbar Vertragsbestandteil.
Nie hatte ich vorher ein Kraftfahrzeug gekauft oder mit Wohnungsmaklern über
Luxus Appartements verhandelt. Mein Chef besaß eine Villa in bester Wohnlage
und wurde von seinem Chauffeur mit einem Cadillac gefahren. Er
hatte sicher ausreichend Erfahrung in diesen Geschäften. Warum
beauftragte er mich und erledigte sie nicht selbst?
Wenig später gab er mir 2
Mappen mit Bewerbungen und meinte, ich sollte eine Auswahl treffen und ihm je
einen Bewerber als Vertriebsleiter und Leiter der Verwaltung empfehlen. Diesen
Vorgang sollte ich jedoch vertraulich behandeln. Wieder fragte ich mich, wieso
ich, ausgerechnet für hoch dotierte leitende Angestellte? Für diese Aufgaben
gab es eine Personalleitung.
Nachdem ich meine Empfehlung
abgegeben hatte, sagte er: „Es ist besser, Sie sehen sich die Leute in
ihrem persönlichen Umfeld an, vereinbaren
Sie einen privaten Besuch und geben
Sie mir ihre Beurteilung.“ Ich hatte zwar inzwischen gelernt, mit Lieferanten
zu verhandeln, aber der Gedanke als gerade 25jähriger Jungkaufmann, gestandene
Profis, von deren Arbeit ich wenig verstand, zu befragen und zu beurteilen,
bereitete mir großes Unbehagen. Ich
fand mich in piekfein eingerichteten Wohnungen gepflegten älteren Herren gegenüber,
die über mein Ansinnen sehr erstaunt waren, gleichwohl alle Fragen willig
beantworteten. Beide wurden eingestellt. Unglaublich diese Mission, warum ich?
Doch bald sollte sich mir die Antwort erschließen.
Vielleicht, dachte ich, hat sein
Vertrauen etwas mit einem Vorgang zu tun, der einige Monate zurücklag. Aufgrund
einer größeren Reklamation besuchte mich der Vertreter einer Elektronikfirma
und übergab mir persönlich als Wiedergutmachungsgeste einen Umschlag mit DM
1000, ein Geldbetrag, höher als mein damaliges Monatsgehalt. Ich habe diesen
Vorgang als Bestechungsversuch gewertet und den Betrag meinem Chef übergeben
mit dem Bitte, dieses Geld als
Spende einer gemeinnützigen Organisation zukommen zu lassen.
Ich hatte den Eindruck, dass mir
meine Kollegen, die schon länger in diesem Unternehmen arbeiteten allmählich
mit Misstrauen begegneten. So suchte ich das Gespräch und
während ich mir im Vorraum eines WC´s die Hände wusch, wurde mir flüsternd
erklärt: „Über die Lautsprecher, die für betriebliche Durchsagen in jedem Raum
installiert sind, können alle Gespräche abgehört werden. Auch Telefonate
werden abgehört und, wenn nötig, mitgeschnitten.“
Nun wurde mir klar, was manchmal das Klicken in der Telefonleitung
bedeutete. Ich fiel aus allen Wolken. Das erklärte auch die merkwürdig zurückhaltende
Stimmung im Betrieb, wo selten gelacht und geredet wurde.
Ich fühlte großes Unbehagen,
besonders nachdem der Entwicklungsingenieur das Unternehmen verlassen hatte und
ich den Auftrag erhielt, all die teueren Messgeräte, die sich
in einem besonderen schalltoten Labor häuften, zu verkaufen. „Der Mann hat sich hinter all diesen teuren Geräten
wichtig gemacht,“ erklärte mir der Inhaber des Unternehmens. „Und im übrigen brauche ich alle
2 Jahre neue Gesichter.“ Inzwischen
hatte ich erfahren, dass der Chef, der ohne Zweifel ein erfolgreicher
Unternehmer und ein Pionier in diesem Geschäft war, nach dem Krieg die ersten Hörgeräte
aus den USA für den deutschen Markt importierte, bevor er diese topmoderne
Produktion aufgebaut hatte. Doch die Menschen, die ihm als Ingeneure und
Verkaufsspezialisten dabei geholfen hatten, saßen inzwischen in namhaften Großunternehmen
und hatten als Konkurrenten große Marktanteile gewonnen. Sie alle hatten sein
Unternehmen verlassen. Und ich
dachte wieder an die Bemerkung. „Ich brauche neue Gesichter, alle 2 Jahre.“
Nachdem mir immer mehr
Sonderaufgaben zugewiesen wurden, die Arbeitsgebiete anderer Kollegen
berührten und bei ihnen Unmut und Misstrauen erzeugten,
vertiefte sich das Unbehagen. Ich saß zwischen allen Stühlen und hatte
den Eindruck, dass in diesem Inhaber geführten Unternehmen durch ihn und seine
Familie nicht berechenbare und sehr wechselvolle Entscheidungen getroffen
wurden. Mein Vertrauen schwand und trotz allen Wohlwollens meines Chefs, der mir
sofort eine weitere Gehaltserhöhung anbot,
kündigte ich. Ich hatte mich bei verschiedenen großen
Aktiengesellschaften beworben und
hoffte auf beständige und
langfristig verlässlichere Entscheidungen des Managements eines Großbetriebes.
Gesellschaftliches
Viele junge Frauen gaben nach der
Eheschließung Ihren Beruf auf und fühlten sich trotz vieler wirtschaftlicher Einschränkungen und einem
bescheidenen Einstieg ins Privatleben in der Rolle der Ehefrau und Mutter
bestätigt,
das Ziel vieler junger Frauen damals. Berufstätige meist kinderlose Ehefrauen
erregten bei vielen Menschen in der Gesellschaft Ablehnung, nahmen sie doch den
Familienvätern die Arbeit weg und waren materialistisch ausgerichtet. Ein
Vorurteil, wie sich später zeigen sollte.
Den Krieg und die
Nachkriegszeit hatten ich und viele meiner Freunde als Kinder und
Jugendliche erlebt. Sie waren nach den in kurzen Zeitsprüngen bekannt
gewordenen ungeheuren Naziverbrechen, besonders kritische Beobachter geworden. Vieles von dem, was uns beigebracht
wurde, stellten wir infrage. Wir
lasen den Spiegel, und Konkret und waren entsetzt über die Spiegel Affäre und
die Rolle von Franz Josef Strauß
in unserer neuen Demokratie.
Die Gründung des Warschauer
Pakts unter Einschluss der DDR im Jahr 1955 schien die Teilung unseres
Vaterlandes endgültig zu besiegeln und zeigte deutlich die Spaltung der Welt in
2 Machtbereiche unterschiedlicher
Staats- und Wirtschaftsformen mit weltbeherrschendem Anspruch. Unsicherheit und
Angst vor einem neuen Weltkrieg überfiel uns. 1962, kurz nach Ausbruch der Kuba
Krise habe ich diese Angst in den Gesichtern der Menschen abgelesen, als ich
eines morgens in die Firma fuhr. Es herrschte eine gedrückte Stimmung in der
U-Bahn. Eine ungewisse Zukunft erwartete uns. Ein Zeichen der Hoffnung in dieser
Zeit, war aber die Unterzeichnung des deutschfranzösischen Freundschaftspaktes
1963 in Paris, das Ende jahrhundertealter Auseinandersetzungen mit einem unserer
Nachbarn.
3. 1962 – 1977
Die Aktiengesellschaft, der Konzern
Hamburg Stadtmitte, gegenüber dem Hamburger Springer Hochhaus,
Natursteinfassade mit großen Glasflächen, Foyer mit Pförtner,
Niederlassung eines angesehenen Elektrokonzerns, die Chance für einen jungen
Kaufmann.
„Im Einkauf liegt der
Gewinn“ - ein gängiger
Slogan -
Ja, es hatte geklappt. Ich war
als Einkaufsleiter eingestellt worden und hatte mich drei Monate unter den
Fittichen des langjährigen Einkaufschefs der Niederlassung in Köln
eingearbeitet. So wurde ich für meine Aufgaben in Hamburg
mit der umfangreichen internen Organisation des Konzerns vertraut
gemacht. Wie sich herausstellte,
eine weitsichtige Entscheidung. Als ich am Ende der Einarbeitungszeit in die
Gesichter meiner künftigen Mitarbeiter blickte, die alle älter waren, schon
lange in dieser Firma arbeiteten, über großes Fachwissen
verfügten und sich in der Konzernhierarchie auskannten,
machte sich ein beklemmendes Gefühl breit. Ich war der Jüngste, erst 28
Jahre alt und jeder von ihnen hatte vermutlich gehofft, die Leitung des Einkaufs
zu übernehmen. Wollten sie mich testen und warteten sie nun alle darauf, dass ich
versagte? Und tatsächlich hatten sie sich scheinbar vorgenommen, meine
Reaktion zu prüfen. So fand ich in den ersten Tagen, kurz vor Feierabend, alle
10 Postmappen, randvoll gefüllt mit eiligen Bestellungen, die ich schon lange hätte
unterschreiben müssen, auf dem WC. Keiner meiner Mitarbeiter wusste natürlich,
wie sie dahin gekommen waren. Ich nahm das mit Humor und bald schon hörten
diese „Späße“ auf. Dann folgte eine Phase guter gemeinsamer Arbeit und
Einkaufsverhandlungen mit Lieferanten.
Das Anlagengeschäft, welches
von den Ingenieuren der Projekt und Verkaufsabteilungen geführt wurde, erforderte die qualitäts- und
preisorientierte pünktliche Bereitstellung aller für den Anlagenbau benötigten
Materialien. Die Aufgabe meiner Abteilung, die mit mancher Herausforderung
verbunden war.
Technische Vorgaben und den
Lieferantenvorschlag mit Terminvorgabe für besonders zu beschaffende Apparate
und Sonderanfertigungen nach eigenen Konstruktionszeichnungen erhielten wir von
den Verkaufsabteilungen des Anlagengeschäfts.
Eine Ausnahme bildeten Standardmaterialien,
Roh- Hilfs- und Betriebsstoffe, die wir lagermüßig führten.
Bis vor kurzem noch saßen meine neuen
Mitarbeiter als Einkäufer in den Büros der Verkaufsabteilungen. Nach
Neuorganisation und Schaffung der zentralen Einkaufsabteilung sollten nun vorrangig
kaufmännische Kriterien bei der Auftragsvergabe zugrunde gelegt
werden. Ich war mit dieser Aufgabe betraut worden und fand mich zeitweise
in einer Schlangengrube
oder in einem Löwenkäfig wieder.
Wutentbrannt schrie mich der
Abteilungsleiter einer Verkaufsabteilung, ein älterer Diplomingenieur, der sehr geachtet war, er war
U-Boot Kommandant gewesen, laut hörbar für alle seine 30 Ingenieure, an:
„Sie, Sie Diener Merkurs, des Gottes der Kaufleute und Diebe, verschwinden
Sie, ich will mit Ihnen nichts zu tun haben!“
Mir stockte der Atem, der Schweiß kroch mir den Rücken herunter, und für
einen Augenblick dachte ich, das ist das Ende. Dann beruhigte ich mich und ging
in mein Büro. Es war nicht das Ende, es war die Folge der Umorganisation und
neuen Kompetenzverteilung. Vor Beginn meiner Tätigkeit lag die Kompetenz für
die Auftragsvergabe bei den Verkaufsabteilungen und nun unterschrieb ich als Einkaufsleiter alle Aufträge links,
als auch nach außen hin sichtbares Zeichen meiner Verantwortung. Das war bisher
ein Privileg der Abteilungsleiter des Verkaufs für ihren Geschäftsbereich.. Und
die Frage der Privilegien spielte in dem Konzern eine wichtige Rolle, wurde
damit doch die Wertschätzung und Verantwortung der Person für den Konzern nach
außen hin sichtbar. Aber noch
etwas anderes wurde mir bewusst, eine zunehmende Rivalität zwischen Kaufleuten
und Ingenieuren.
Nachdem das Ergebnis vieler
Preisverhandlungen zum Geschäftserfolg beitrug und ich mit meinen Mitarbeitern
bei manchem Großauftrag Nachlässe im Wert mehrerer 10.000 DM bis zu 20% des
Auftragswertes erzielte, beruhigte sich die gespannte Lage und die Einsicht
wuchs. Wir Kaufleuten und Ingenieure arbeiteten für ein Ziel, den gemeinsamen Erfolg. Aus dieser
Zeit sind mir aber noch 3 Begebenheiten in Erinnerung geblieben, die ich gern
schildern möchte.
1.
Eines Tages rief mich der kaufmännische Leiter in sein Büro, präsentierte
eine Rechnung, die ich zur
Zahlung freigegeben hatte und fragte mich: „Für wen haben Sie das
Kaffeeservice und die Gläser besorgt?“
„Für Herrn B, den Abteilungsleiter eines Geschäftsbereichs er hat es
beantragt, um Gäste zu bewirten“, antwortete ich. „Fräulein G“, rief
mein Chef empört, „zeigen Sie doch unsere Gläser.“ Fräulein G stellte ein Glas
auf den Schreibtisch. Es ähnelte verdammt einem
Zahnputzglas.
„In Zukunft
möchte ich derartige Bestellungen sehen und genehmigen,“ sagte der kaufmännische
Leiter und beendete das Gespräch. Er hatte sich bis dahin nie in das
Bestellwesen eingeschaltet. Ich war erschüttert und wurde sehr nachdenklich.
Am nächsten
Tag schrieb ich einen Brief mit
meiner Kündigung zum Quartal und
begründete das mit mangelndem Vertrauen. Ich konnte nicht verstehen, dass ich für
diese Gesellschaft rechtsverbindliche Einzelaufträge in Höhe bis zu DM
500.000,-- erteilen und verantworten
sollte, aber bei einer Bestellung über ca. 250,-- DM wegen irgendwelcher Eifersüchteleien
gemaßregelt wurde. Diese emotionalen Entscheidungen hatten mich schon
in den Firmen vorher zutiefst beunruhigt Sie konnten jederzeit der Anlass
sein, um meine Entscheidungen beliebig infrage zu stellen.
Nach 14 Tagen spannender Ungewissheit, gab es
ein klärendes Gespräch mit der Empfehlung zur Rücknahme meiner Kündigung.
Danach konnte ich weiterhin ohne Einschränkungen eigenverantwortlich
entscheiden.
2.
Eines Tages kamen zwei
Revisoren, Diplomkaufleute der Zentrale und prüften 14 Tage lang alle wichtigen
Unterlagen meiner Abteilung. Dann wurde ich zu einem Gespräch gebeten. „ Wir haben Ihre Abteilung geprüft und festgestellt,
dass Sie die Nummernkontrollen nicht entsprechend den Vorschriften unseres
Konzerns durchführt haben.“ Ich
wusste, dass Kopien unserer
Bestellungen numerisch abgelegt werden mussten, erfragte aber, was mit
„Nummernkontrolle“ gemeint war
„Vierteljährlich müssen Sie
sich überzeugen, dass alle Bestellkopien numerisch geordnet vorhanden sind und
dies mit handschriftlicher Notiz
und Ihrer Unterschrift im Ordner bestätigen,“
lautete die Antwort.
„Ist
das alles?“ fragte ich. Nachdem die beiden Diplom Kaufleute meine Frage bejaht
hatten, dachte ich an die hartnäckigen unzähligen Preisverhandlungen,
Lieferanmahnungen, Reklamationen, die Probleme und Schwierigkeiten, die bei der
Beschaffung manchmal brandeiliger Teile und Materialien häufig genug mit vielen
Überstunden verbunden waren. Ich
war erschüttert. Und dann fragte
ich: „Ja, haben Sie denn in den Bestellungen nicht auf die Versandanschriften
geachtet, ich habe doch für mein Haus diverse Materialien zu Lasten des
Unternehmens bestellt und die Rechnungen zur Zahlung freigegeben.“
Die beiden
waren überrascht. „Aber, Sie haben doch unser vollstes
Vertrauen!“ Mit einer freundlichen Verabschiedung endete schließlich das
Gespräch, und ich fragte mich, warum diese beiden hochbezahlten
Revisoren angereist waren. Ich
habe nie wieder von ihnen gehört.
3.
Und dann gab es eine merkwürdige Einkaufsverhandlung. Für ein Großprojekt
waren wasserdichte Leuchten im Wert von mehreren 100.000 DM, die bestimmten
Anforderungen in Hinblick auf Explosionsgefahr und Erschütterungen entsprechen
mussten, zu beschaffen. Nur zwei Anbieter kamen infrage. Jedoch nur für das
Angebot eines Lieferanten lag das geforderte Zertifikat einer Prüfbehörde vor,
und daher waren die Leuchten für vorausgegangene Projekte immer bei diesem
Lieferanten zu den geforderten Preisen bestellt worden. Das andere Angebot lag um mehrere 10.000 DM darunter. Die Leuchten
waren zum angebotenen Zeitraum von der Prüfbehörde positiv begutachtet , aber
das Prüfgutachten war noch nicht ausgestellt worden.
Die
Preisverhandlungen mit dem Vorlieferanten gestalteten sich schwierig. Die Geschäftsleitung
der Firma war für mich nicht erreichbar, und mir wurde bedeutet, dass die
Preise wie bisher nicht infrage zu stellen waren und auch die zuletzt erhobenen
Teuerungszuschläge nicht zurückgenommen werden könnten. Ich teilte dem für
diesen Bereich zuständigen Einkäufer und der technischen Leitung der
Vertriebsabteilung mit, dass der Auftrag an den Wettbewerber mit dem niedrigeren Angebot erteilt
werden würde. Und dann trat das ein, was ich erwartet hatte. Der Buschfunk
funktionierte auch diesmal.
Am nächsten
Morgen erhielt ich einen Anruf und eine Einladung in das noble Büro des
Lieferanten an der Alster und befand mich kurz darauf in einer Gesprächsrunde
mit dem Vertriebsleiter und dem Geschäftsführer. Nachdem man mir 2 oder 3 %
einmaligen Sondernachlass angeboten hatte, ich aber ablehnte und mich erhob, um
das Gespräch zu beenden, läutete das Telefon. Ein zufriedenes Lächeln sah
sich auf dem Gesicht des Geschäftsführers, der mir nach dem Gespräch erläuterte,
dass nur sein Produkt zugelassen
sei. Der Sachverständige der Prüfbehörde hätte ihn gerade informiert. „Sie
sehen ,“ sagte er, „mit uns sind Sie auf der bewährten sicheren Seite, eine
weitere Verzögerung wird die rechtzeitige Lieferung gefährden, wir notieren
den Auftrag wie besprochen.“ „Nein“,
sagte ich „Sie hören von mir“!
Kein Wort
hatte ich geglaubt und das Gespräch beendet. Wie ich anschließend in meinem Büro
nach mehreren Telefonaten feststellen konnte, hatte auch der zweite Anbieter das
Prüfzertifikat erhalten. Das vorgetäuschte Telefonat hatte augenscheinlich den
Zweck, mich zu überrumpeln.
Diese Verhandlung war
beispielhaft für manche Lieferanten, die bei der großen Nachfrage in der Zeit
des Wiederaufbaus häufig mit 2 Preiserhöhungen im Jahr saftige Preise
durchsetzen wollten. Und so lud ich die Einkaufsleiter unserer bedeutendsten
Wettbewerber zu einem Gespräch ein. Einige unserer gemeinsamen Lieferanten
meinten aufgrund noch fehlender Wettbewerber ein gewisses Preismonopol zu
haben und versuchten in unseren Augen unverschämte Preisforderungen
durchzusetzen. Dem wollten wir Einhalt gebieten. Im Kreis dieser älteren und
erfahrenen Herren, die über ein wesentlich größeres Einkaufsvolumen verfügten,
spürte ich etwas wie Ängstlichkeit vor meiner eigenen Courage. Doch sie
freuten sich über diese Einladung, und bald schon wurden in sehr kooperativer
Weise gemeinsame Maßnahmen beschlossen, die zur Rücknahme mancher Preiserhöhung
führte.
Dies alles geschah in eigener
Verantwortung, ohne Rückfragen bei der Geschäftsleitung,
und eröffnete mir einen interessanten Gestaltungsspielraum für meine
Arbeit und die unzähligen Preisverhandlungen
mit den Lieferanten, die immer neue Gründe zur Rechtfertigung teilweise
saftiger Preiserhöhungen, die wesentlich über den tariflichen Lohnerhöhungen
lagen, fanden. Ich begegnete wahren Supertalenten
der Preis- und Verkaufsargumentation.
Infolge der Arbeitszeitverkürzung
von 48 auf 45 und später auf 40 Stunden war der sich mit der starken Konjunktur
ständig vergrößernde Arbeitsumfang in immer kürzerer Arbeitszeit zu bewältigen.
Natürlich mit demselben Personalstand. Es wurden immer mehr Überstunden mit
dem Gehalt abgegolten, erforderlich, um unsere immer hektischer werdende Arbeit
zu bewältigen. Daher war es nötig, den schnell wachsenden Markt der
Organisationssysteme zu beobachten. Nur durch Rationalisierung und Vereinfachung
war eine Entlastung und bessere Aussage der
Informationen über Mengen- und Preisentwicklung der häufig benötigten
Waren und Dienstleistungen zu erhalten. Und da war bei meinem Eintritt in das
Unternehmen zu meinem großen Erstaunen wieder nichts oder nur wenig vorhanden gewesen.
Die Einkäufer suchten sich die
Bestelldaten und Adressen für Nachbestellungen aus alten abgelegten Rechnungs-
oder Bestellformularen zusammen, wenn sie vom Lager entsprechende
Materialanforderungen erhielten. Zeitraubende Arbeit und bei Krankheit oder
Urlaub waren mühsame Recherchen die Folge und stahlen die Zeit. Ich führte,
wie auch in den Firmen zuvor, Karteipendelsysteme ein, welche die
handgeschriebenen Material-Anforderungen für das Standardlagermaterial überflüssig
machten und genauen Aufschluss über Mengen- und Preisentwicklungen der letzen
24 Monate der einzelnen Artikel und die infrage kommenden Lieferanten gaben. Sie
enthielten Mindest- und Bestellmengen, berechnet auf die jeweiligen
Lieferzeiten. Mindestens 3 Angebote waren
Grundlage für den Preisvergleich und die Auftragsvergabe.
Der ständig wachsende
Materialfluss führte zu immer größeren Lagerbeständen, die eine größere
Kapitalbindung erforderten. Daher erreichte mich eines Tages der Ruf nach einer
Reduzierung des Lagerbestandes. In der Zeit der Hochkonjunktur mit ungewissen
Lieferfristen eine undankbare Aufgabe, die wieder großen Ärger ins Haus
bringen konnte. Ich beschloss daher, Kommissionslager einzurichten und stieß
nach zähen Verhandlungen bei einigen wichtigen Lieferanten auf wohlwollendes
Verständnis. Bekamen sie damit doch Lieferzusagen für einen längeren
Zeitraum, allerdings mit einer Preisgleitklausel. Da alle 4 Wochen nur das
verbrauchte Material abgerechnet wurde, brachte diese Maßnahme eine Entlastung
des gesamten Lagerbestandes von bis zu 25%,
bei einem Materialwert des Lagers von damals mehreren Millionen DM im Jahr, ein schöner Betrag.
Die anfängliche Distanz zu
meinen Kollegen wich schließlich einer aufgeschlossenen Zusammenarbeit. Der mir
nur zu gut bekannte Kommando Führungsstil mancher altgedienter
Abteilungsleiter, viele waren Offiziere gewesen, war mir zu autoritär. Autorität
und Akzeptanz, dachte ich, kann nur durch persönliches Beispiel und persönliche
Leistung entstehen und überzeugen. Das wurde der Beginn einer guten Teamarbeit.
Die Weihnachtszeit war auch die
Zeit der Werbegeschenke. Überwiegend Spirituosen, Zigaretten, Gläser,
Taschenmesser, Lederwaren , Kleinwerkzeuge und
allerlei mehr oder weniger geschmackvolle Souvenirs wurden mit Notizbüchern
und Kalendern überreicht. Es lag im Ermessen des jeweiligen Einkäufers, wie er
über die persönlich übergebenen Geschenke verfügte. Die Empfänger wurden
damit unmittelbar Nutznießer der
Arbeit auch ihrer Kollegen und Kolleginnen. Das bereitete mir Unbehagen. Daher
schlug ich als Höhepunkt für unsere
Weihnachtsfeier eine amerikanischer
Versteigerung der Weihnachtsgeschenke vor. Der Erlös sollte UNICEF zugute
kommen. Das fand besonders bei den 5 Damen begeisterte Zustimmung, und es gab
keinen Widerspruch. Auch in den folgenden Jahren haben wir die Vorweihnachtszeit
immer in gehobener Stimmung mit einer feuchtfröhlichen Versteigerung
beendet. Ich war inzwischen 34 Jahre alt geworden und hatte über 6 Jahre
meine Aufgaben im Einkauf mit großem Engagement wahrgenommen, als sich meine
beruflichen Aufgaben wieder ändern sollten. Ich wollte die andere Seite des
Geschäfts kennen lernen, den Verkauf.
Gesellschaftliches
Die erfolgreichen Kollegen im Außendienst
waren die kleinen Könige des Wirtschaftswunders, und ich würde auch bald dazu
gehören. Es galt nur noch das Königreich zu erobern, dachte ich nach diesen
Jahren des Aufschwungs, dessen Ende vielleicht schon
abzusehen war. Denn 1967 hatte der quirlige Wirtschaftsminister Karl
Schiller eine konzertierte Aktion zur Wiederbelebung der Wirtschaft angekurbelt.
Die ersten Arbeitslosen in der Bauwirtschaft waren für ihn Ausweis einer
zyklischen Wirtschaftsbewegung. „Defizitspending“ nannte
Professor Karl Schiller im Kabinett von Bundeskanzler Erhard, dem
Nachfolger Konrad Adenauers, der 1963 zurückgetreten war, das Programm zur
Finanzierung der staatlichen Ausgaben zur weiteren Belebung der Konjunktur.
„Der Verkauf
ist das Herz des Unternehmens“
Im Takt der Umsätze wächst
oder schrumpft das Unternehmen.
„Als Chef unserer Einkaufsabteilung haben Sie eine Führungsposition. Sie
haben sich die Achtung Ihrer Mitarbeiter erworben und der Pförtner grüßt Sie
jeden Morgen, wenn Sie das Haus betreten. Wollen Sie wirklich wieder von vorn
anfangen?“ sagte der kaufmännische Leiter als ich ihm eröffnete, im Verkauf
tätig zu werden. „Wir brauchen Sie im Einkauf, ich gebe Sie nicht frei!“ So
blieb mir nichts anderes übrig, als ihm klarzumachen, dass ich in ein anderes
Unternehmen wechseln würde, wenn er meinen Vorschlag ablehnte. Natürlich hatte
ich mich vorher vergewissert, dass mich der Leiter der Kälteabteilung für
einen pensionsreifen verdienten Akquisiteur in den Verkauf übernehmen würde.
Und so kam es auch. Mein
Verkaufsgebiet war das halbe Hamburg und ein großer Teil Niedersachsens bis an
die Elbmündung. Ein Riesengebiet und ein Riesenprogramm. Kälteanlagen für
Industrie und Gewerbe, Klimaanlagen, Spezialanlagen für die Obstkühlung, Kühl-
und Tiefkühlmöbel für Supermärkte und Fahrzeugkühlungen. Dazu ein Berg von
Prospekten und im Hintergrund das ganze Ingenieurwissen eines großen Konzerns.
Ich fühlte mich gewappnet, oder sollte ich sagen gut gerüstet. Doch langsam
entwickelte sich aus dem Verkäufermarkt ein Käufermarkt, und schon bei den
ersten Besuchen und Vorstellungsgesprächen wehte mir ein kräftiger Wind von
Fragen und Argumenten entgegen, denen ich in keiner Weise gewachsen war.
Die Produkte, die ich verkaufen
sollte, lernte ich durch das Lesen
der Prospekte kennen. Die 14tägige Einführungstour durch den pensionsreifen
Kollegen beschränkte sich auf eine Rundfahrt bei gutem Wetter mit Hinweisen und
Fingerzeigen, „Dort, die Firma sollten Sie auch mal besuchen.“
Kein einziger Kunde wurde besucht. Nun kannte ich viele Einzelkomponenten
der Kälteanlagen durch meine Einkaufstätigkeit, doch die Kenntnisse über
komplette Anlagen und die Funktionsweise für die
verschiedenen Produktions- und Lagerbereiche musste ich mir durch unzählige
Rückfragen aneignen. Es gab einfach keine Schulung oder Einweisung zu diesem
Zeitpunkt. Noch wichtiger wären
Marktkenntnisse gewesen. Kenntnis über das Angebot der Wettbewerber, das
Preisverhalten und die typische
Verkaufsargumentation. Kein Wort darüber, keine Information. Ich fühlte mich
wie ein Schulanfänger, der bei jedem Kundenbesuch eine Aufnahmeprüfung
durchlaufen musste. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Aber bald wurde mir klar, dass ich denselben Erwartungen, Forderungen und
Fragen gegenüberstand, die noch
vor nicht allzu langer Zeit zu
meinem eigenen Wortschatz gehörten.
Es war immer das Gleiche: Qualität,
Garantien, Kundendienst, verbindliche Lieferzusagen, Preis! Im Vordergrund stand
immer der Leistungsumfang und die Qualität der verwendeten Komponenten. Das war
der Sicherheitsaspekt des Käufers. Dazu gehörten natürlich umfangreiche
Garantiezusagen und der Hinweis auf einen verlässlichen Kundendienst, der
jederzeit, auch am Wochenende einsatzbereit war. Eine Selbstverständlichkeit,
die erwartet wurde. Viele Kaufinteressenten hatten gerade im Kundenservice
schlechte Erfahrungen gemacht. Gleiches galt für Lieferzusagen,
die bei Lieferverzug häufig Grund für einen Lieferantenwechsel waren.
Und dann der Preis. Da zeigte sich die Hartnäckigkeit und das Können des Einkäufers.
So konnte er für das Unternehmen seinen ganz persönlichen Erfolg
signalisieren!
Die Argumentation um den Preis
war mir durch unzählige
Verhandlungen mit ausgebufften Verkäufern in Fleisch und Blut übergegangen. Da
hatte ich keine Defizite, musste ich doch nur abschätzen können, wo die
Schwelle zwischen Interesse und Kaufabsicht bestand. – wie hoch gepokert wurde
– Aufschluss über ernste
Kaufabsichten und meine Chancen als Verkäufer gewann ich durch detaillierte Rückfragen
des Kunden zu technischen
Komponenten, Wirkungsweisen, Garantien und Kundendienst. Blieben diese aus, war
ich es, der diese Punkte am Anfang des Gesprächs ausführlich und oft mit
Absicht penetrant und nervend, erörterte. Je mehr sich der Kunde auf
die oft wiederholten Einzelheiten einließ, um so sicherer konnte ich
sein, dass er mein Angebot wohlwollend geprüft und interessiert nahe
stand. Im entscheidenden
Vergabegespräch diente mir dieser Teil der Verhandlung
immer als Gradmesser der Kaufabsicht.
Natürlich stand der Preis im
Mittelpunkt des Gesprächs, und meistens folgte der Begrüßung der Satz
„Sie sind viel zu teuer, über den Preis müssen wir noch reden!“
Darauf sofort einzugehen, wäre für den Kunden häufig genug Anlass gewesen,
das Gespräch bald zu beenden, um den nächsten Bieter zu weiteren Nachlässen
zu bewegen. Damit aber, war
kein Aufschluss über meine
Chancen für einem Geschäftabschluss möglich. Die Verhandlungen über größere
Anlagen im Wert bis zu 500.000 DM zogen
sich oft Wochen, manchmal auch Monate hin und es war in einer Vielzahl von
Besuchen nötig, um Überzeugungsarbeit zu leisten und das Vertrauen des Kunden
zu gewinnen. Immer wieder kamen Argumente von Wettbewerbern ins Spiel, die
angebliche Mängel in der Auslegung der Anlage oder der Komponenten betrafen, um
Qualität oder Leistung infrage zustellen und Ansätze von Vertrauen zu erschüttern.
Ein Spiel, welches ich im Alltag
der politischen Auseinandersetzung, oft auch noch gepaart mit persönlichen
Herabsetzungen beobachtete und das
mich fatal an die teilweise üblen abenteuerlichen Unterstellungen meiner
Wettwerber erinnerte, die durch keine begründete Erfahrung zu belegen waren.
Immer wieder mussten mit Referenzanlagen und positiven Kundenaussagen die
Bedenken zerstreut werden. Eine mühsame, zeitraubende aber lohnende Arbeit. Aus
Kundensicht eine wichtige Prüfung, konnten doch die hartnäckigen Wettbewerber
aus der Kenntnis ihres Branchenumfelds wichtige Informationen liefern. Das
wusste ich, doch das sollte ich später viel nachdrücklicher erfahren und
nutzen können.
Nachdem ich einen Teil dieser
Erfahrungen in vielen anfangs vergeblichen Bemühungen gesammelt hatte,
zeigten sich erste Erfolge. Und als ich erste Großkunden als
dauerhafte Abnehmer geworben hatte, war das Erstaunen meiner Kollegen,
langjährige Profis, groß. Und siehe da, nun
hatte ich mir wieder die Achtung meiner
Kollegen und der Geschäftsleitung erworben. Aber wie viel Arbeit und Mühe, oft
bis spät in die Nacht, zu Lasten der Familie waren nötig, um dieses Ziel zu
erreichen. Und wie viel Lernbereitschaft, Beharrungsvermögen und Ausdauer hatte
das alles gekostet. Es wäre viel
einfacher und ertragreicher gewesen, durch Schulung und der Vermittlung von
Marktkenntnissen, einen Teil dieses Wissen vor Aufnahme der Außendiensttätigkeit zu vermitteln. Das hätte einen schnelleren und sicheren
Erfolg bewirkt.
Später jedoch,
im härter werdenden Markt, fanden
Verkaufs- und Produktschulungen statt, um Erfahrungen und Kenntnisse über den
Markt, Kundenverhalten, Wettbewerber und Produkte auszutauschen. Das war der
Beginn des härter werdenden Verdrängungswettbewerbs.
Von der Illusion eines kleinen Königreichs blieb die Erkenntnis, dass nur
hart erarbeitete Erfolge einen Verbleib in diesem Arbeitsumfeld sichern
konnten. Denn ausschlaggebend für eine dauerhafte Tätigkeit waren nachweisbare Erfolge, und die wurden zuerst am Umsatz und später
auch am Ertrag, dem sogenannten Kostendeckungsbeitrag gemessen. Die damals
beginnende Frühverrentung älterer Kollegen war ein sichtbarer Beweis
gnadenloser Auslese.
Doch möchte ich durch drei Begebenheiten ein Schlaglicht auf
Faktoren werfen, die monate- oder jahrelange Kundenanbahnungen zunichte machen,
Motivation zerstörten und zunehmende Härte im Unternehmen und geschäftlichen
Umfeld verdeutlichten.
1.
Nach monatelangem Bemühen war es mir gelungen, von einer
Agrargenossenschaft einen Auftrag für eine Anlage im Wert von mehreren 100.000
DM zu erhalten. Dieser Auftrag sollte eine Referenzanlage werden, als günstige
Voraussetzung für weitere Großaufträge in diesem Gebiet. Ich war als Bieter
die Nummer 3 und neu in diesem Geschäft, da 2 Wettbewerber über jahrelange
Erfahrungen verfügten und mehrere
gut funktionierende Spezialanlagen
vorweisen konnten. Der Auftrag
wurde mir erteilt. Doch schon bald nach der feierlichen Übergabe zeigten sich
gravierende Mängel in der Lageratmosphäre, die die Ware später wesentlich beeinträchtigen
konnten. Die Prüfprotokolle der später auch vom Werk
angereisten Spezialisten ließen keine Ursachen für die offensichtliche
Beeinträchtigung erkennen.
Nachdem ca. 6 Wochen durch aufwändige Maßnahmen
im Wert von mehreren 100.000 DM ein Schaden von der eingelagerten Ware
abgewendet werden konnte, aber die Ursachen nicht gefunden und ein Ende der Sanierungsmaßnahmen nicht absehbar
war, erklärte mir der Kunde folgendes:
„Wir haben
einen Ihrer Wettbewerber eingeschaltet und die Zusage erhalten, die
Anlage innerhalb weniger Stunden ohne
großen Aufwand zu sanieren. Sollten Sie innerhalb der nächsten 14 Tage
nicht in der Lage sein, die Anlage zu unserer Zufriedenheit instand zu setzen,
werden wir Ihren Wettbewerber beauftragen, die Sanierung vorzunehmen und Ihnen
die anfallenden Kosten belasten!“
Für
ein renommiertes Unternehmen unserer Größe war das ein Gau auf diesem
Arbeitsgebiet und für mich die bitterste Enttäuschung meiner bisherigen
Laufbahn. Nachdem Ingenieure und Spezialisten verschiedener Fachrichtungen
wochenlang auf der Suche nach etwaigen Konstruktionsfehlern gewesen waren,
gelang es nun nach dieser Drohung, einem der beteiligten Ingenieure innerhalb
weniger Stunden der Ursache auf die
Spur zu kommen. Für die Wirkungsweise der Kühlung im Zusammenhang mit der
Lageratmosphäre mussten einige
Ventilgruppen nachreguliert werden. Tatsächlich war ein Aufwand weniger
Monteurstunden nötig, um den
Kunden zufrieden zu stellen. Ein Schaden war entstanden, der den Wert der Anlage
weit überstieg und ein Imageverlust, der auf diesem Gebiet nicht wieder gut zu
machen war.
2. Die
Zuspitzung der Wettbewerbslage und der Härte im Einkaufsverhalten wurde
deutlich, als ich zu der Vergabeverhandlung eines großen
Lebensmittelkonzerns geladen wurde. Es handelte sich um die Errichtung eines Kühllagers
im Wert mehrerer 100.000, DM. Erwartungsvoll ging ich in den
Konferenzraum in dem mich neben dem Geschäftsführer der Architekt und
der für den technischen Einkauf zuständige Leiter freundlich begrüßten. Dann
wurde mir folgendes eröffnet:
„Bitte
überprüfen sie den Preis ihres Angebots und teilen sie uns mit, welchen
Nachlass sie uns gewähren wollen. Halten sie gegebenenfalls Rücksprache mit
Ihrer Hauptverwaltung. Die technischen Voraussetzungen haben wir geprüft, sie
entsprechen unseren Anforderungen und den Leistungen der anderen Bieter, sodass
sich weitere Gespräche erübrigen. Wir werden Ihren Wettbewerbern, die
im Vorraum warten, die gleichen Möglichkeiten einräumen und bitten Sie, uns in
einer halben Stunde zu berichten.“ Ernüchtert
begrüßte ich im Vorraum die Kollegen des Wettbewerbs, führte ein belangloses
Gespräch mit meinem Büro, um dann einen leicht reduzierten
Preis, das Limit war bereits erreicht,
abzugeben. Man
bedankte sich höflich und gratulierte nach circa 15 Minuten einem
Wettbewerber zum erteilten Auftrag. Diese Prozedur wiederholte sich im selben
Jahr für ein anderes Objekt, jedoch
mit anderem Ergebnis.
Durch persönliches Einwirken
war nichts mehr zu gewinnen, und ich stellte mir die Frage über den Sinn meiner
Arbeit. Ein Telefonat oder ein Telex hätten denselben Zweck erfüllt und mir
die stundenlange Anfahrt erspart.
Noch war diese Art der Verkaufens eine Ausnahme. Doch der zunehmende
Preisverfall zwang viele Unternehmen zu scharfen Sparmaßnahmen.
Der Geschäftszweig
Klima/Kälte, in dem ich arbeitete, wurde in eine selbständige
Tochtergesellschaft mit Beteiligung eines amerikanischen Unternehmens
umgewandelt. Eines Tages anlässlich einer Betriebsversammlung wurden neue
Arbeitsrichtlinien verkündet. Nachstehend die zwei wichtigsten Vorschriften,
die völliges Unverständnis zur Folge hatten.
Zwischen 10:00 und 12:00 Uhr wurde eine „Kreative Zeit“ eingeführt.
In dieser Zeit konnten Telefonate angenommen, aber keine Gespräche zu Kunden
oder Lieferanten angewählt werden. Eine Maßnahme zur Einsparung von Telefongebühren.
Die Außendienstmitarbeiter bekamen Kostenbudgets zugeteilt mit einem Limit für
die Abrechnung der geschäftlich gefahrenen km. Gleichzeitig wurde ein neues,
dynamisch wirkendes Provisionssystem eingeführt, welches außerordentliche
Leistungen im besonderen Maße belohnte, die bisherige Leistung aber als
Durchschnitt definierte und zu Einkommensverlusten führen konnte.
Eine stärkere Polarisierung
zwischen Belegschaft und Geschäftsleitung war die Folge und führte bei der nächsten
Betriebsratswahl dazu, dass mich meine Kollegen als Interessenvertreter
in den Betriebsrat wählten. Später habe ich ihre Interessen auch als Mitglied des Gesamtbetriebsrats
vertreten. Immer gab es eine
freundliche, verständnisvolle Gesprächsbereitschaft der Geschäftsleitung
für alle Forderungen oder Verbesserungsvorschläge, doch blieben die
meisten Bemühungen wirkungslos. Ich stand zwischen zwei Interessen. Da ich die
Geschäftsinteressen unmittelbar
nach außen vertrat und täglich selbst erfuhr, wie schwierig es geworden war, für
die Aufträge eine angemessene Kostendeckung zu erzielen, hatte ich Verständnis für viele
Einschränkungen und den damit verbundenen Maßnahmen. Andererseits galt es Härten
für besonders Betroffene zu vermeiden und so befand mich oft in Widerspruch zu
manchen aus meiner Sicht zu der Zeit nicht vertretbaren Forderungen.
Ich war im doppelten Sinn
solidarisch und versuchte in den auftretenden Interessenkonflikten zu
vermitteln. Damit setzte ich mich manchmal zwischen alle Stühle. Das hatte
jedoch keinen Einfluss auf meine beruflichen Aktivitäten, die mir bald einen
dauerhaften Spitzenplatz in der Liga des Verkaufs einbrachten und mit
Auszeichnungen belohnt wurden. Merkwürdig, diese Art der Anerkennung war mir
auf der anderen Seite des Geschäfts im Einkauf trotz nachweisbarer Erfolge nie
zuteil geworden. Doch ein kleiner König?
Manchmal
hatte ich den Eindruck in einem spannenden Film zu sein, nur mit der Möglichkeit
durch interaktives Handeln auf den Ablauf der Ereignisse Einfluss zu nehmen,
ohne aber das Ende voraussagen zu können. Die Ereignisse und Bilder des Tages
verfolgten mich oft bis spät in die Nacht. Dann ein kurzer Schlaf, bis sie
wieder von mir Besitz ergriffen und den neuen Tagesablauf bestimmten. Bei allem
Erfolg war das ein Druck zu zwanghafter Erfüllung ständig steigender Budgets,
dem ich mich nicht länger beugen wollte. Diese
Fixierung auf ertragreiche Aufträge, war in meinen Augen plötzlich suspekt
geworden, kein lebenswertes Ziel. Die Ansprüche der Familie waren gewachsen.
Ich erkannte, dass ich zu wenig Zeit hatte, mich um die Familie und die
schulische Förderung meiner Kinder zu kümmern.
Kurzerhand fuhr ich zum nächsten
Arbeitsamt und erkundigte mich nach Umschulungsmaßnahmen. Als Berufsschullehrer
dachte ich, könnte ich jungen Menschen meine beruflichen Erfahrungen vermitteln
und damit eine sinnvollere Tätigkeit ausüben. Ich hatte von der Möglichkeit
gehört, als Seiteneinsteiger gefördert zu werden. „Sie wissen was Ihnen
fehlt, die Qualifikation der Hochschule, “ war die Antwort. Vielleicht dachte
ich, befand ich mich in einer „midlifecrisis“, damals ein gängiger
Ausdruck für ein unsicher fragendes
Überdenken der Lebenssituation. Würde mir eine neue, andere
berufliche Motivation helfen,
doch wo lag sie? Eines Tages sollte ich eine Antwort darauf erhalten.
Gesellschaftliches
Oswald
Kolle erklärte die Sexualität zum lustvollen Bedürfnis und befreite sie von
dem Makel "sündhafter Triebhaftigkeit". Die ersten Bilder von Teufel, Langhans
und der Kommune in Berlin dokumentierten ein völlig neues Bild des
Zusammenlebens, ein Tabubruch. Hitzige Diskussionen
mit empörten Teilnehmern bewegten die Gemüter. Lange Haare wurden zum Sinnbild
anderen Denkens und Kennzeichen innerer Opposition.
„Wir haben
abgetrieben“ lautete der Titel einer großen Illustrierten, in der sich mehr
oder weniger prominente Frauen zu einer neuen Moral bekannten und eine Änderung
des §218 forderten. Die neue Antibabypille
sollte künftig ungewollte Schwangerschaften verhüten und wurde zum Symbol
eines neunen Bewusstseins. Selbstbestimmung hieß die neue Formel für bewusstes
Leben.
Das zwang
zur Überprüfung persönlicher Standpunkte, die wesentlich
durch den Katalog religiös begründeter Gebote und Morallehre bestimmt
worden war. Eine neue Frauenbewegung hatte die gültigen Moralvorstellungen und
gesellschaftlichen Regeln infrage gestellt und forderte einschneidende
gesetzliche Reformen. Nach heftigen öffentlichen Diskussionen und politischen
Auseinandersetzungen mit deutlich ablehnenden
Stellungnahmen der großen Kirchen, trugen neue Gesetze dem geänderten Bewusstsein der Mehrheit in der Gesellschaft Rechnung. Dazu
gehörte auch ein neues
Scheidungsrecht. Es hatte ein Wertewandel
stattgefunden und viele Beziehungen wurden nun durch konträre Ansichten auf
eine harte Probe gestellt oder zerbrachen.
Es war eine Zeit in der
scheinbar alles möglich und erreichbar wurde. Menschen die scheiterten, wurden
durch staatliche Obhut, das neue „soziale Netz“, aufgefangen und
alimentiert. Sie hatten Anspruch darauf.
Die Jahre zwischen 1962 und
1977 waren durch bedeutende politische Ereignisse
geprägt, die zu starken Polarisierungen in Teilen der Bevölkerung führten und
häufig genug zu bis dahin ungewohnten Demonstrationen und Polizeipräsenz führten. Die
Bilder im Fernsehen aus Berlin und das Attentat auf
Rudi Dutschke waren furchterregend. Diese Auflehnung von Gewalt gegen
„Sachen und Autoritäten“ störten den gerade wieder gewonnenen
gesellschaftlichen Konsens, der in den Jahren zuvor eine
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geprägt hatte. Wie wir später
empört erfahren sollten, bekleideten ehemals
hochrangige Nazifunktionäre wieder wichtige Posten im öffentlichen Dienst. Die
Schatten der Vergangenheit verbargen immer noch Unrecht,
Grausamkeit und Verbrechen, die eine endgültige Beurteilung oder Bewältigung
dieses furchtbaren Kapitels deutscher Geschichte nicht zuließen. Ich hatte den
Eindruck, dass die Öffentlichkeit die Täter der damals laufenden Prozesse mit
schonendem Verständnis begleitete und häufig den Befehlsnotstand auf den sich
viele Täter beriefen, zum Maßstab ihrer Schuldfähigkeit machten.
Als 1969 die Truppen des
Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschierten und die
Fernsehberichte die Menschen erschütterten, spürte ich die wiederaufkeimende
Angst vor Gewalt und Krieg. Wie würden sich die Westmächte verhalten, wie
sicher war unsere Welt noch? Überall in meinem Umfeld hörte ich fragende,
besorgte und ängstliche Stimmen. Im Falle einer Auseinandersetzung zwischen Ost
und West, das war vielen Menschen klar, würden
beide Teile Deutschlands in ein riesiges Aufmarschgebiet verwandelt und unser
wieder aufgebautes Land vollständig zerstört
werden. Eine seit Ende des Krieges latente Angst bekam ein Gesicht.
Im selben Jahr 1969 wurde
Willi Brandt Bundeskanzler. 1970 besuchte er zum ersten Mal die DDR, ein Name für
den ostdeutschen Staat, der bis dahin in der politischen Öffentlichkeit nicht
benutzt werden durfte, fürchteten die Regierenden doch, damit den 2. Deutschen
Staat anzuerkennen. Man sprach von „Gebilde“ und fand andere Ausdrücke, um
im kalten Krieg den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik zu betonen. Ich
erlebte die Auseinandersetzung und die weitere Polarisierung zwischen den großen
politischen Parteien CDU und SPD über die Anerkennung der DDR und die
Ratifizierung des Moskauer und Warschauer Vertrags als tiefen Riss in der
Gesellschaft. Wie viele Menschen war auch ich zutiefst
davon überzeugt, dass die Aussöhnungsmission, die Konrad Adenauer im Westen
begonnen hatte durch Willi Brandt mit der Geste am Mahnmal des Warschauer
Ghettos und die Ostverträge vollendet wurde.
Die Verleihung des
Friedensnobelpreises an Willi Brandt war eine außerordentliche Bestätigung
seiner Politik. Die Kommentare in den Zeitungen jener Zeit spiegelten eine
Vielzahl von Argumenten und Interessen wider und schürten in bis dahin
nicht gekanntem Maß die Emotionen. Ähnliches galt für Berichte in
„Panorama“ oder Veröffentlichungen im Spiegel, die mit großer
Aufmerksamkeit verfolgt wurden. Die Fernsehbeiträge von Richard Löwenthal und der
schwarze Kanal von Eduard Schnitzler aus dem DDR-Fernsehen waren mediale Höhepunkte
des kalten Krieges.
Doch die Ereignisse überstürzten
sich. 1974 wurde Willi Brandt zum Rücktritt gezwungen und
Helmut Schmidt zum Bundeskanzler ernannt. Davor gaben die Fahrverbote
anlässlich der Ölkrise Gelegenheit zu sonntäglichen Spaziergängen auf der Autobahn.
Es war die Geburtsstunde einer neuen Diskussion über Energienutzung und
Nachhaltigkeit, die Jahre später in den politischen Auseinandersetzungen
eine wichtige Rolle spielen sollte.
Doch vor der Umweltbewegung,
den Auseinandersetzungen um Kernkraft und alternative Energien erreichte seit
den frühen 70er Jahren der
internationale Terrorismus die Bundesrepublik.
Die Entführung einer Lufthansa-Maschine und 1977 die Anschläge auf
Generalbundesanwalt Buback, den Arbeitgeberpräsident Schleyer und den Chef der Dresdner Bank Ponto erschütterten
die Menschen. Ich fragte mich, in welchem Maß die neuen verschärfenden Gesetze
unsere persönliche Freiheit beschneiden würden. Doch bei den vielen Straßenkontrollen
von Polizei und BGS mit dem Gewehr im Anschlag überfiel
mich ein beklemmendes Gefühl der Angst.
Wohin gehst du Bundesrepublik, fragte ich mich, wie viele Menschen damals.
Warum dieser Terror und was sind
die Motive?
4. 1977 – 1979
Die Holzwerkstoffindustrie
Ich hatte mich bei einem führenden Unternehmen der
Holzwerkstoffindustrie beworben und obwohl branchenfremd, wurde ich sofort
eingestellt. 3 Monate Einarbeitung in verschiedenen Werken machten mich mit der
Produktpalette vertraut. Holzwerkstoffe wie Spanplatten, Schichtstoffplatten,
Arbeitsplatten und Hartfaserplatten, die ich an Handel und Industrie,
vornehmlich an die Möbelindustrie, verkaufen sollte. Nach kurzer Rundreise mit
dem ausscheidenden sehr verdienten Gebietsleiter, wieder ein ehemaliger
U-Bootkommandant, lernte ich mein
Arbeitsumfeld kennen. Im Betrieb wurde ich, als Betriebs- und Branchenfremder,
neugierig beäugt.
Wirklich überrascht
war ich aber, als mir unser größter Wettbewerber, der Marktführer, eine Zusammenarbeit anbot. Der
Markt war enger geworden. Durch die vielen Fleischskandale hatte sich das
Verbraucherverhalten geändert und das schlug sich auch in den Umsätzen und
Erträgen der Kunden nieder. Eine Zusammenarbeit mit Kundenschutz für die
Mitarbeiter im Außendienst beider Unternehmen, war das möglich?
So machte ich mich auf, um
zuerst Weimar, die Geburtsstadt und Wirkungsstätte der großen Deutschen
Dichter zu besuchen. Die Zeit
schien stehen geblieben zu sein als ich in der Ferne die Silhouetten und die
ziegelroten Dächer der Dörfer in der hügeligen Landschaft Thüringens sah. Im
Jahr 1943 irrten wir Bombenflüchtlinge aus Hamburg mit unserem Zug nach
Nirgendwo durch Thüringen, bis wir schließlich Straubing in Niederbayern
erreichten. Vielleicht erinnerte
ich mich an diese Fahrt. Der Eindruck einer Zeitverschiebung
verstärkte sich, als ich Berge von Kohlen und Briketts vor den Häusern
im Zentrum der kleinen Stadt sah. Keine Ölheizungen dachte ich an diesem
dunklen, regnerischen Tag, während der ungewohnte Geruch aus den Auspufftöpfen
der Zweitakter in den oft stundenlangen Staus meine ungeübten Nasenschleimhäute
reizte. Doch die Begegnung mit dem Lebensraum
Goethes und Schillers und des Nationalmuseums haben mich für die mühevolle
Tagesfahrt reichlich entschädigt. Nie hätte ich gedacht, diesen Tag erleben zu
können.
Heute finde ich folgenden Eintrag im Internet unter
www.Bleicherode.de - das
Kaliwerk stellte die Produktion ein -
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