Zeitzeugenberichte    - Ausbildung und Beruf -

 

Hendrik

Rückblick, ein Berufsleben im Spiegel der Zeit und Gesellschaft
1952 – 1997   - 45 Jahre Industriekaufmann -

Einfach toll, zu Besuch in meiner alten Heimatstadt, Hamburg, hier bin ich geboren, hier habe ich den größten Teil meiner Jugend verlebt, geheiratet und hier sind alle meine 4 Kinder geboren. Heute lebe ich seit fast 30 Jahren in Westfalen, und das hatte berufliche Gründe. Ich erinnere mich.

1.  Hamburg  1952 - 1955 – 1958  Die Firma   - Lehrjahre sind keine Herrenjahre -

Hier fing alles an, Hamburg St. Georg. Hier begann am 15. April 1952 meine Ausbildung zum Industriekaufmann.  Der Inhaber der Firma beschäftigte gut 100 Mitarbeiter, die in verschiedenen Gewerken in den 5 Stockwerken eines Hinterhauses Neonleuchtreklamen herstellten. Nun, wo ich nachdenklich vor dem alten Gebäude stehe, werden plötzlich wieder Erlebnisse lebendig, die sich mir tief eingeprägt hatten.

 2. Lehrjahr 1954, 18:30 Uhr, ein grauer Tag. Ich sitze in der Telefonzentrale, die Tür zum Chefzimmer ist weit offen. Der Chef telefoniert lange mit seinem wichtigsten Kunden und überzeugt ihn schließlich, dass ein Preisnachlass für ein Projekte in Frankfurt nicht möglich sei. Dann telefoniert er mit einem seiner Lieferanten und setzt ihm die Pistole auf die Brust. 10% Nachlass oder der Auftrag geht an die Konkurrenz, er musste schließlich auch gerade bluten. „Ja, wenn das so ist“, mag der Gescholtene gesagt haben, denn ein Lächeln auf dem Gesicht meines Chefs bekundete  Erfolg und Zufriedenheit.

Während ich noch dachte, wann bekomme ich endlich die Briefe, die ich noch einkuvertieren und zur Post bringen muss, manchmal saß ich in dem engen Raum  bis  23:00 Uhr, betrat Herr K, ein Grafiker, das Chefzimmer. Er war der Mann, der die tollen Entwürfe der Leuchtreklamen auf schwarzem Karton mit leuchtender Schrift zauberte, die den Kaufentschluss vieler Kunden beschleunigte. Unterwürfig, wie zu der Zeit geboten, sagte er mit leiser Stimme: „Ich möchte Sie davon unterrichten, dass wir einen Wahlausschuss gegründet haben, um einen Betriebsrat zu wählen.“ 

„Was haben Sie gerade gesagt?“ schrie der Chef, er neigte zu cholerischen Anfällen. „Wiederholen Sie das!“ Die Stimme von Herrn K erstickte fast, ich konnte sie kaum verstehen. Ich sah,  wie der Chef, ein kleines dürres Männchen aufsprang, den 20 Jahre jüngeren und kräftigeren K packte, ihn hoch hob, fallen ließ und schrie: „Sie sind entlassen!“  Herr K verließ mit gesenktem Kopf das Büro und wurde nie wieder gesehen.  War er Kommunist und wollte die Welt verändern, fragte ich mich damals?

Die Arbeit begann um 8:00 Uhr und endete um 17:00 Uhr, sonnabends um 13:00 Uhr. Doch die meisten Kollegen im Büro arbeiteten bis 18:00 Uhr. Oft genug klingelte um 18:30 an einem Arbeitsplatz das Telefon. Der Chef hatte Rückfragen. Ich hörte dann in der Telefonzentrale die Empörung: „Was, der ist schon nach hause gegangen, hat er es nicht nötig?“ 

Und ich selbst? Nachdem im 2. Lehrjahr der andere Lehrling wegen einer Unregelmäßigkeit seine Ausbildung abbrechen musste, saß ich fast jeden Abend in der Poststelle, lauschte den Telefonaten meines Chefs, las die ganze Korrespondenz und bekam so einen umfassenden Einblick in die Tiefen der kaufmännischen Seele. Das war der Ausgleich für die langen Abende, die kaum andere Interessen oder sportliche Betätigung zuließen. Widerspruch oder gar Anzeige wegen der vielen unbezahlten Überstunden hätten  zu einem gleichen Resultat wie bei Herrn K führen können. Das wusste ich ebenso wie die Kollegen, und deshalb folgten wir mit fast militärischem Gehorsam allen Anweisungen. Manche harte Zurechtweisung wurde aber durch die gutmütige und hilfsbereite Chefin gemildert.

Doch auch das sollte gesagt sein. Jedes Jahr wurden Busse gechartert und rauschende Betriebsfeste im Grünen gefeiert, die oft spät in der Nacht endeten. Während sonst sehr sparsam gewirtschaftet wurde, zeigte sich der leicht aufbrausende Chef „Bester Mann, Sie trübe Tasse“ von freundlicher Großzügigkeit.

Ja, ich beendete meine Lehre zum Erstaunen meines Chefs mit „sehr gut“, wurde großzügig beschenkt und übernahm, nachdem ich mich mit den Abgründen der Kostenrechnung beschäftigt und voller Stolz einen schreibtischgroßen Betriebsabrechnungsbogen mit Kostenstellen- und Kostenträgerrechnung erstellt hatte, die Aufgaben des Einkäufers. Nach 5 1/2 Jahren Einkauf, das Abenteuer der Preisermittlung und Vergabe, bewarb ich mich bei der Firma W. Ich suchte neue Herausforderungen und andere Akteure.

Gesellschaftliches

Überall in dieser großen Stadt hingen Hinweise auf  Fortbildungseinrichtungen . Die Rednerschule Fromm warb um neue Talente und große bunte Plakate empfahlen die Werke Dale Carnegies für die Bewältigung von Lebenskrisen und Gestaltung der neuen Zukunft.  Der 17. Juni 1953 hatte auch in den Folgejahren gezeigt, wie gespalten unsere Welt war. Ängste vor einem neuen Krieg waren latent vorhanden und flammten immer wieder auf. 

Der Aufbau der Bundeswehr und die Einführung der Wehrpflicht hatte heftige Gegenreaktionen und Großdemonstrationen der KPD und anderer Organisationen zur Folge.  Es war der Beginn des kalten Krieges, und ich hörte oft, wie mancher ehemalige Frontsoldat äußerte: „Wir werden wieder gebraucht, mit den Amis gegen die Russen!“  

 1957 wurden die Römischen Verträge unterschrieben. Die Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Ein erster wichtiger Schritt zu einer neuen europäischen Identität, der den alten belasteten Nationalismus in eine neue Richtung wies.

 2. Hamburg   1960 - 1962   Das Familienunternehmen

Hamburg - Winterhude  war ab dem 1.10.1960 der Stadteil meiner  neuen Firma.  Eine noble Adresse, 5 Minuten entfernt von meinem zuhause. Ein Hightech-Unternehmen würden wir heute sagen, denn es wurden elektronische Hörgeräte in feinster Miniaturtechnik  hergestellt und über eigene Niederlassungen in der  Bundesrepublik vertrieben. Der Chef  war ein weitsichtiger Unternehmer, der Entwicklungsingenieure beschäftigte, um mit innovativen Techniken und Geräten neue Produkte und Märkte zu erschließen. So wurde auch an völlig unterschiedlichen Entwicklungen wie drahtlosen Personensuchanlagen und Getränkeautomaten gearbeitet. Zu damaliger Zeit ein unternehmerisches Wagnis, denn wer wusste oder ahnte schon, dass diese Geräte und Apparate, die es in Deutschland noch nicht gab, in wenigen Jahren unentbehrlich und Massenprodukte werden würden.

Als Einkäufer musste ich all die Materialien, die dafür und für die laufende Produktion der Hörgerätefertigung benötigt wurden, in kurzer Zeit beschaffen. Doch woher, von wem und wer konnte liefern? Meine Vorgängerin hatte scheinbar plötzlich das Unternehmen verlassen. Lieferantenhinweise, Einkaufslisten oder Karteien waren nicht vorhanden.  Ich war in eine völlig andere Branche geraten. Meine alten Verbindungen zur Glas-, Eisen-, Stahl- Elektroindustrie und Handel konnten mir nur wenig nutzen. Es war die Zeit der Vollbeschäftigung, des knappen Materials, dürftiger Informationssysteme und langer Lieferfristen. Häufig genug warteten wir auf zugesagtes Material unzuverlässiger Lieferanten. Einkäufer waren die von ihren Produktionsabteilungen gejagten  Erfüllungsgehilfen, die immer dafür verantwortlich gemacht wurden, wenn die benötigten Materialien in ausreichender Menge nicht rechtzeitig zur Verfügung standen.

Könige waren die Verkäufer, die einen Umsatzrekord nach dem anderen aufstellten. Und da das Material knapp war, kündigten manche Lieferanten nach dem Motto „Nimm, was du bekommen kannst“ zwei mal im Jahr  Preiserhöhungen an. Die Begründungen dafür waren vorausgegangene Lohnerhöhungen als Folge der letzten Preiserhöhung. Und so setzte sich das jedes Jahr fort,  eine scheinbar endlose Spirale. Um nicht immer wieder neue Preislisten drucken zu müssen, wurden Teuerungszuschläge erfunden.  Die Preiserhöhungen waren jedoch ein Vielfaches der Lohnerhöhungen. Das war immer Anlass genug  für zähe Preisverhandlungen. 

Die Zeit reichte jedoch nie, um die endlosen Preisverhandlungen, Lieferanmahnungen und die nötigen Arbeiten für die Warenbeschaffung in der betrieblichen Arbeitszeit zu erledigen. So blieb vorerst nur wieder die unbezahlte Einschränkung der Freizeit durch unzählige Überstunden. Das änderte sich erst, als ich erkannte, dass durch Rationalisierung ein Vielfaches an Zeit- und Informationsgewinn zu erreichen war. Entsprechende Kartei- und Ordnungssysteme erleichterten die Arbeiten.

Schnell merkte ich, dass meine Arbeit durch den Chef in besonderer Weise anerkannt wurde. Er schenkte mir sein besonderes Vertrauen und bat mich, Baumaßnahmen in Auftrag zu geben,  Handwerker auszusuchen und die Arbeiten zu überwachen. Ein Architekt sollte nicht eingeschaltet werden. Ich hatte nicht die geringsten Fachkenntnisse und Voraussetzungen, die für dies Aufgabe nötig gewesen wären und  ließ mich daher von den Handwerksmeistern der Anbieter beraten. Ein Blindflug über Neuland, wie häufig in dieser Zeit, jedoch mit auch großem Glück ohne Bruchlandung.

Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Ich wurde beauftragt ein Villenparterre in bester Wohnlage anzumieten und einen großen Citroen DS in Luxusausführung zu kaufen. Ein kaufmännischer Direktor war eingestellt worden und diese Leistungen waren scheinbar Vertragsbestandteil. Nie hatte ich vorher ein Kraftfahrzeug gekauft oder mit Wohnungsmaklern über Luxus Appartements verhandelt. Mein Chef besaß eine Villa in bester Wohnlage und wurde von seinem Chauffeur mit einem Cadillac gefahren. Er  hatte sicher ausreichend Erfahrung in diesen Geschäften. Warum beauftragte er mich und erledigte sie nicht selbst?

Wenig später gab er mir 2 Mappen mit Bewerbungen und meinte, ich sollte eine Auswahl treffen und ihm je einen Bewerber als Vertriebsleiter und Leiter der Verwaltung empfehlen. Diesen Vorgang sollte ich jedoch vertraulich behandeln. Wieder fragte ich mich, wieso ich, ausgerechnet für hoch dotierte leitende Angestellte? Für diese Aufgaben gab es eine Personalleitung.

Nachdem ich meine Empfehlung abgegeben hatte, sagte er: „Es ist besser, Sie sehen sich die Leute in ihrem persönlichen Umfeld an,  vereinbaren Sie einen  privaten Besuch und geben Sie mir ihre Beurteilung.“ Ich hatte zwar inzwischen gelernt, mit Lieferanten zu verhandeln, aber der Gedanke als gerade 25jähriger Jungkaufmann, gestandene Profis, von deren Arbeit ich wenig verstand, zu befragen und zu beurteilen, bereitete mir großes Unbehagen.  Ich fand mich in piekfein eingerichteten Wohnungen gepflegten älteren Herren gegenüber, die über mein Ansinnen sehr erstaunt waren, gleichwohl alle Fragen willig beantworteten. Beide wurden eingestellt. Unglaublich diese Mission, warum ich? Doch bald sollte sich mir die Antwort erschließen.

Vielleicht, dachte ich, hat sein Vertrauen etwas mit einem Vorgang zu tun, der einige Monate zurücklag. Aufgrund einer größeren Reklamation besuchte mich der Vertreter einer Elektronikfirma und übergab mir persönlich als Wiedergutmachungsgeste einen Umschlag mit DM 1000, ein Geldbetrag, höher als mein damaliges Monatsgehalt. Ich habe diesen Vorgang als Bestechungsversuch gewertet und den Betrag meinem Chef übergeben mit dem Bitte, dieses  Geld als Spende einer gemeinnützigen Organisation zukommen zu lassen.

Ich hatte den Eindruck, dass mir meine Kollegen, die schon länger in diesem Unternehmen arbeiteten allmählich mit Misstrauen begegneten. So suchte ich das Gespräch und  während ich mir im Vorraum eines WC´s die Hände wusch, wurde mir flüsternd erklärt: „Über die  Lautsprecher, die für betriebliche Durchsagen in jedem Raum installiert sind, können alle Gespräche abgehört werden. Auch Telefonate werden abgehört und, wenn nötig, mitgeschnitten.“  Nun wurde mir klar, was manchmal das Klicken in der Telefonleitung bedeutete. Ich fiel aus allen Wolken. Das erklärte auch die merkwürdig zurückhaltende Stimmung im Betrieb, wo selten gelacht und geredet wurde.

Ich fühlte großes Unbehagen, besonders nachdem der Entwicklungsingenieur das Unternehmen verlassen hatte und ich den Auftrag erhielt, all die teueren Messgeräte, die sich  in einem besonderen schalltoten Labor häuften, zu verkaufen. „Der Mann hat sich hinter all diesen teuren Geräten wichtig gemacht,“ erklärte mir der Inhaber des Unternehmens. „Und im übrigen brauche ich alle 2 Jahre neue Gesichter.“  Inzwischen hatte ich erfahren, dass der Chef, der ohne Zweifel ein erfolgreicher Unternehmer und ein Pionier in diesem Geschäft war, nach dem Krieg die ersten Hörgeräte aus den USA für den deutschen Markt importierte, bevor er diese topmoderne Produktion aufgebaut hatte. Doch die Menschen, die ihm als Ingeneure und Verkaufsspezialisten dabei geholfen hatten, saßen inzwischen in namhaften Großunternehmen und hatten als Konkurrenten große Marktanteile gewonnen. Sie alle hatten sein Unternehmen  verlassen. Und ich dachte wieder an die Bemerkung. „Ich brauche neue Gesichter, alle 2 Jahre.“

Nachdem mir immer mehr Sonderaufgaben zugewiesen wurden, die Arbeitsgebiete anderer Kollegen berührten  und bei ihnen Unmut und Misstrauen erzeugten,  vertiefte sich das Unbehagen. Ich saß zwischen allen Stühlen und hatte den Eindruck, dass in diesem Inhaber geführten Unternehmen durch ihn und seine Familie nicht berechenbare und sehr wechselvolle Entscheidungen getroffen wurden. Mein Vertrauen schwand und trotz allen Wohlwollens meines Chefs, der mir sofort eine weitere Gehaltserhöhung anbot,  kündigte ich. Ich hatte mich bei verschiedenen großen Aktiengesellschaften  beworben und hoffte auf  beständige und langfristig verlässlichere Entscheidungen des Managements eines Großbetriebes.

Gesellschaftliches

Viele junge Frauen gaben nach der Eheschließung Ihren Beruf auf und fühlten sich trotz vieler wirtschaftlicher Einschränkungen und einem bescheidenen Einstieg ins Privatleben in der Rolle der Ehefrau und Mutter bestätigt, das Ziel vieler junger Frauen damals. Berufstätige meist kinderlose Ehefrauen erregten bei vielen Menschen in der Gesellschaft Ablehnung, nahmen sie doch den Familienvätern die Arbeit weg und waren materialistisch ausgerichtet. Ein Vorurteil, wie sich später zeigen sollte. 

Den Krieg und die Nachkriegszeit hatten ich und  viele meiner Freunde als Kinder und Jugendliche erlebt. Sie waren nach den in kurzen Zeitsprüngen bekannt gewordenen ungeheuren Naziverbrechen, besonders kritische Beobachter geworden. Vieles von dem, was uns beigebracht wurde, stellten wir  infrage. Wir lasen den Spiegel, und Konkret und waren entsetzt über die Spiegel Affäre und die Rolle von Franz Josef  Strauß in unserer neuen Demokratie.

Die Gründung des Warschauer Pakts unter Einschluss der DDR im Jahr 1955 schien die Teilung unseres Vaterlandes endgültig zu besiegeln und zeigte deutlich die Spaltung der Welt in 2  Machtbereiche unterschiedlicher Staats- und Wirtschaftsformen mit weltbeherrschendem Anspruch. Unsicherheit und Angst vor einem neuen Weltkrieg überfiel uns. 1962, kurz nach Ausbruch der Kuba Krise habe ich diese Angst in den Gesichtern der Menschen abgelesen, als ich eines morgens in die Firma fuhr. Es herrschte eine gedrückte Stimmung in der U-Bahn. Eine ungewisse Zukunft erwartete uns. Ein Zeichen der Hoffnung in dieser Zeit, war aber die Unterzeichnung des deutschfranzösischen Freundschaftspaktes 1963 in Paris, das Ende jahrhundertealter Auseinandersetzungen mit einem unserer Nachbarn.

3.  1962 – 1977     Die Aktiengesellschaft, der Konzern

Hamburg  Stadtmitte, gegenüber dem Hamburger Springer Hochhaus,  Natursteinfassade mit großen Glasflächen, Foyer mit Pförtner, Niederlassung eines angesehenen Elektrokonzerns, die Chance für einen jungen Kaufmann.

„Im Einkauf liegt der Gewinn“  - ein gängiger Slogan -

Ja, es hatte geklappt. Ich war als Einkaufsleiter eingestellt worden und hatte mich drei Monate unter den Fittichen des langjährigen Einkaufschefs der Niederlassung in Köln eingearbeitet. So wurde ich für meine Aufgaben in Hamburg  mit der umfangreichen internen Organisation des Konzerns vertraut gemacht. Wie sich herausstellte, eine weitsichtige Entscheidung. Als ich am Ende der Einarbeitungszeit in die Gesichter meiner künftigen Mitarbeiter blickte, die alle älter waren, schon lange in dieser Firma arbeiteten, über großes Fachwissen  verfügten und sich in der Konzernhierarchie auskannten,  machte sich ein beklemmendes Gefühl breit. Ich war der Jüngste, erst 28 Jahre alt und jeder von ihnen hatte vermutlich gehofft, die Leitung des Einkaufs zu übernehmen. Wollten sie mich testen und warteten sie nun alle darauf, dass ich versagte?  Und tatsächlich hatten sie sich scheinbar vorgenommen, meine Reaktion zu prüfen. So fand ich in den ersten Tagen, kurz vor Feierabend, alle 10 Postmappen, randvoll gefüllt mit eiligen Bestellungen, die ich schon lange hätte unterschreiben müssen, auf dem WC. Keiner meiner Mitarbeiter wusste natürlich, wie sie dahin gekommen waren. Ich nahm das mit Humor und bald schon hörten diese „Späße“ auf. Dann folgte eine Phase guter gemeinsamer Arbeit und Einkaufsverhandlungen mit Lieferanten.

Das Anlagengeschäft, welches von den Ingenieuren der Projekt und Verkaufsabteilungen  geführt wurde, erforderte die qualitäts- und preisorientierte pünktliche Bereitstellung aller für den Anlagenbau benötigten Materialien. Die Aufgabe meiner Abteilung, die mit mancher Herausforderung verbunden war. Technische Vorgaben und den Lieferantenvorschlag mit Terminvorgabe für besonders zu beschaffende Apparate und Sonderanfertigungen nach eigenen Konstruktionszeichnungen erhielten wir von den Verkaufsabteilungen des Anlagengeschäfts.  Eine Ausnahme bildeten  Standardmaterialien, Roh- Hilfs- und Betriebsstoffe, die wir lagermüßig führten.

Bis vor kurzem noch  saßen meine neuen Mitarbeiter als Einkäufer in den Büros der Verkaufsabteilungen. Nach  Neuorganisation und Schaffung der zentralen Einkaufsabteilung sollten nun vorrangig kaufmännische Kriterien bei der Auftragsvergabe zugrunde gelegt werden. Ich war mit dieser Aufgabe betraut worden und fand mich zeitweise   in einer Schlangengrube oder in einem Löwenkäfig wieder.

Wutentbrannt schrie mich der Abteilungsleiter einer Verkaufsabteilung, ein älterer Diplomingenieur, der sehr geachtet war, er war U-Boot Kommandant gewesen, laut hörbar für alle seine 30 Ingenieure, an: „Sie, Sie Diener Merkurs, des Gottes der Kaufleute und Diebe, verschwinden Sie, ich will mit Ihnen nichts zu tun haben!“  Mir stockte der Atem, der Schweiß kroch mir den Rücken herunter, und für einen Augenblick dachte ich, das ist das Ende. Dann beruhigte ich mich und ging in mein Büro. Es war nicht das Ende, es war die Folge der Umorganisation und neuen Kompetenzverteilung. Vor Beginn meiner Tätigkeit lag die Kompetenz für die Auftragsvergabe bei den Verkaufsabteilungen und  nun unterschrieb ich als Einkaufsleiter alle Aufträge links, als auch nach außen hin sichtbares Zeichen meiner Verantwortung. Das war bisher ein Privileg der Abteilungsleiter des Verkaufs für ihren Geschäftsbereich.. Und die Frage der Privilegien spielte in dem Konzern eine wichtige Rolle, wurde damit doch die Wertschätzung und Verantwortung der Person für den Konzern nach außen hin  sichtbar. Aber noch etwas anderes wurde mir bewusst, eine zunehmende Rivalität zwischen Kaufleuten und Ingenieuren. 

Nachdem das Ergebnis vieler Preisverhandlungen zum Geschäftserfolg beitrug und ich mit meinen Mitarbeitern bei manchem Großauftrag Nachlässe im Wert mehrerer 10.000 DM bis zu 20% des Auftragswertes erzielte, beruhigte sich die gespannte Lage und die Einsicht wuchs. Wir Kaufleuten und Ingenieure arbeiteten für ein Ziel, den gemeinsamen Erfolg.  Aus dieser Zeit sind mir aber noch 3 Begebenheiten in Erinnerung geblieben, die ich gern schildern möchte.

1.  Eines Tages rief mich der kaufmännische Leiter in sein Büro, präsentierte  eine Rechnung,  die ich zur Zahlung freigegeben hatte und fragte mich: „Für wen haben Sie das  Kaffeeservice und die Gläser besorgt?“  „Für Herrn B, den Abteilungsleiter eines Geschäftsbereichs er hat es beantragt, um Gäste zu bewirten“, antwortete ich. „Fräulein G“, rief mein Chef empört, „zeigen Sie doch unsere Gläser.“ Fräulein G stellte ein Glas auf den Schreibtisch. Es ähnelte verdammt einem  Zahnputzglas.

„In Zukunft möchte ich derartige Bestellungen sehen und genehmigen,“ sagte der kaufmännische Leiter und beendete das Gespräch. Er hatte sich bis dahin nie in das Bestellwesen eingeschaltet. Ich war erschüttert und wurde sehr nachdenklich.

Am nächsten Tag  schrieb ich einen Brief mit meiner Kündigung  zum Quartal und begründete das mit mangelndem Vertrauen. Ich konnte nicht verstehen, dass ich für diese Gesellschaft rechtsverbindliche Einzelaufträge in Höhe bis zu DM 500.000,-- erteilen und  verantworten sollte, aber bei einer Bestellung über ca. 250,-- DM wegen irgendwelcher Eifersüchteleien gemaßregelt wurde. Diese emotionalen Entscheidungen hatten mich schon  in den Firmen vorher zutiefst beunruhigt Sie konnten jederzeit der Anlass sein, um meine Entscheidungen beliebig infrage zu stellen.  Nach 14 Tagen spannender Ungewissheit, gab es  ein klärendes Gespräch mit der Empfehlung zur Rücknahme meiner Kündigung. Danach konnte ich weiterhin ohne Einschränkungen eigenverantwortlich entscheiden.

2.  Eines Tages  kamen zwei Revisoren, Diplomkaufleute der Zentrale und prüften 14 Tage lang alle wichtigen Unterlagen meiner Abteilung.  Dann wurde ich zu einem Gespräch gebeten. „ Wir haben Ihre Abteilung geprüft und  festgestellt, dass Sie die Nummernkontrollen nicht entsprechend den Vorschriften unseres Konzerns durchführt haben.“  Ich wusste, dass  Kopien unserer Bestellungen numerisch abgelegt werden mussten, erfragte aber, was mit „Nummernkontrolle“  gemeint war „Vierteljährlich müssen  Sie sich überzeugen, dass alle Bestellkopien numerisch geordnet vorhanden sind und dies mit  handschriftlicher Notiz und Ihrer Unterschrift im Ordner bestätigen,“  lautete die Antwort.

 „Ist das alles?“ fragte ich. Nachdem die beiden Diplom Kaufleute meine Frage bejaht hatten, dachte ich an die hartnäckigen unzähligen Preisverhandlungen, Lieferanmahnungen, Reklamationen, die Probleme und Schwierigkeiten, die bei der Beschaffung manchmal brandeiliger Teile und Materialien häufig genug mit vielen Überstunden verbunden  waren. Ich war erschüttert.  Und dann fragte ich: „Ja, haben Sie denn in den Bestellungen nicht auf die Versandanschriften geachtet, ich habe doch für mein Haus diverse Materialien zu Lasten des Unternehmens bestellt und die Rechnungen zur Zahlung freigegeben.“

Die beiden waren überrascht. „Aber, Sie haben doch unser vollstes Vertrauen!“ Mit einer freundlichen Verabschiedung endete schließlich das Gespräch, und ich fragte mich, warum diese beiden hochbezahlten  Revisoren angereist waren.  Ich habe nie wieder von ihnen gehört.

3.  Und dann gab es eine merkwürdige Einkaufsverhandlung. Für ein Großprojekt waren wasserdichte Leuchten im Wert von mehreren 100.000 DM, die bestimmten Anforderungen in Hinblick auf Explosionsgefahr und Erschütterungen entsprechen mussten, zu beschaffen. Nur zwei Anbieter kamen infrage. Jedoch nur für das Angebot eines Lieferanten lag das geforderte Zertifikat einer Prüfbehörde vor, und daher waren die Leuchten für vorausgegangene Projekte immer bei diesem Lieferanten zu den geforderten Preisen bestellt worden. Das andere Angebot lag um mehrere 10.000 DM darunter. Die Leuchten waren zum angebotenen Zeitraum von der Prüfbehörde positiv begutachtet , aber das Prüfgutachten war noch nicht ausgestellt worden. 

Die Preisverhandlungen mit dem Vorlieferanten gestalteten sich schwierig. Die Geschäftsleitung der Firma war für mich nicht erreichbar, und mir wurde bedeutet, dass die Preise wie bisher nicht infrage zu stellen waren und auch die zuletzt erhobenen Teuerungszuschläge nicht zurückgenommen werden könnten. Ich teilte dem für diesen Bereich zuständigen Einkäufer und der technischen Leitung der Vertriebsabteilung mit, dass der Auftrag  an den Wettbewerber mit dem niedrigeren Angebot erteilt werden würde. Und dann trat das ein, was ich erwartet hatte. Der Buschfunk funktionierte auch diesmal.

Am nächsten Morgen erhielt ich einen Anruf und eine Einladung in das noble Büro des Lieferanten an der Alster und befand mich kurz darauf in einer Gesprächsrunde mit dem Vertriebsleiter und dem Geschäftsführer. Nachdem man mir 2 oder 3 % einmaligen Sondernachlass angeboten hatte, ich aber ablehnte und mich erhob, um das Gespräch zu beenden, läutete das Telefon. Ein zufriedenes Lächeln sah sich auf dem Gesicht des Geschäftsführers, der mir nach dem Gespräch erläuterte, dass  nur sein Produkt zugelassen sei. Der Sachverständige der Prüfbehörde hätte ihn gerade informiert. „Sie sehen ,“ sagte er, „mit uns sind Sie auf der bewährten sicheren Seite, eine weitere Verzögerung wird die rechtzeitige Lieferung gefährden, wir notieren den Auftrag wie besprochen.“  „Nein“, sagte ich  „Sie hören von mir“! 

Kein Wort hatte ich geglaubt und das Gespräch beendet. Wie ich anschließend in meinem Büro nach mehreren Telefonaten feststellen konnte, hatte auch der zweite Anbieter das Prüfzertifikat erhalten. Das vorgetäuschte Telefonat hatte augenscheinlich den Zweck, mich zu überrumpeln.

Diese Verhandlung war beispielhaft für manche Lieferanten, die bei der großen Nachfrage in der Zeit des Wiederaufbaus häufig mit 2 Preiserhöhungen im Jahr saftige Preise durchsetzen wollten. Und so lud ich die Einkaufsleiter unserer bedeutendsten Wettbewerber zu einem Gespräch ein. Einige unserer gemeinsamen Lieferanten meinten aufgrund noch fehlender Wettbewerber ein gewisses Preismonopol zu  haben und versuchten in unseren Augen unverschämte Preisforderungen durchzusetzen. Dem wollten wir Einhalt gebieten. Im Kreis dieser älteren und erfahrenen Herren, die über ein wesentlich größeres Einkaufsvolumen verfügten, spürte ich etwas wie Ängstlichkeit vor meiner eigenen Courage. Doch sie freuten sich über diese Einladung, und bald schon wurden in sehr kooperativer Weise gemeinsame Maßnahmen beschlossen, die zur Rücknahme mancher Preiserhöhung führte.

Dies alles geschah in eigener Verantwortung, ohne Rückfragen bei der Geschäftsleitung,  und eröffnete mir einen interessanten Gestaltungsspielraum für meine Arbeit und die unzähligen Preisverhandlungen  mit den Lieferanten, die immer neue Gründe zur Rechtfertigung teilweise saftiger Preiserhöhungen, die wesentlich über den tariflichen Lohnerhöhungen lagen, fanden. Ich begegnete  wahren Supertalenten der Preis- und Verkaufsargumentation.

Infolge der Arbeitszeitverkürzung von 48 auf 45 und später auf 40 Stunden war der sich mit der starken Konjunktur ständig vergrößernde Arbeitsumfang in immer kürzerer Arbeitszeit zu bewältigen. Natürlich mit demselben Personalstand. Es wurden immer mehr Überstunden  mit dem Gehalt abgegolten, erforderlich, um unsere immer hektischer werdende Arbeit zu bewältigen. Daher war es nötig, den schnell wachsenden Markt der Organisationssysteme zu beobachten. Nur durch Rationalisierung und Vereinfachung war eine Entlastung und bessere Aussage der  Informationen über Mengen- und Preisentwicklung der häufig benötigten Waren und Dienstleistungen zu erhalten. Und da war bei meinem Eintritt in das Unternehmen zu meinem großen Erstaunen wieder nichts oder nur wenig vorhanden gewesen.

Die Einkäufer suchten sich die Bestelldaten und Adressen für Nachbestellungen aus alten abgelegten Rechnungs- oder Bestellformularen zusammen, wenn sie vom Lager entsprechende Materialanforderungen erhielten. Zeitraubende Arbeit und bei Krankheit oder Urlaub waren  mühsame Recherchen die Folge und stahlen die Zeit. Ich führte, wie auch in den Firmen zuvor, Karteipendelsysteme ein, welche die handgeschriebenen Material-Anforderungen für das Standardlagermaterial überflüssig machten und genauen Aufschluss über Mengen- und Preisentwicklungen der letzen 24 Monate der einzelnen Artikel und die infrage kommenden Lieferanten gaben. Sie enthielten Mindest- und Bestellmengen, berechnet auf die jeweiligen Lieferzeiten. Mindestens 3 Angebote  waren Grundlage für  den  Preisvergleich und die Auftragsvergabe.

Der ständig wachsende Materialfluss führte zu immer größeren Lagerbeständen, die eine größere Kapitalbindung erforderten. Daher erreichte mich eines Tages der Ruf nach einer Reduzierung des Lagerbestandes. In der Zeit der Hochkonjunktur mit ungewissen Lieferfristen eine undankbare Aufgabe, die wieder großen Ärger ins Haus bringen konnte. Ich beschloss daher, Kommissionslager einzurichten und stieß nach zähen Verhandlungen bei einigen wichtigen Lieferanten auf wohlwollendes Verständnis. Bekamen sie damit doch Lieferzusagen für einen längeren Zeitraum, allerdings mit einer Preisgleitklausel. Da alle 4 Wochen nur das verbrauchte Material abgerechnet wurde, brachte diese Maßnahme eine Entlastung des gesamten Lagerbestandes von bis zu 25%,  bei einem Materialwert des Lagers von damals mehreren  Millionen DM im Jahr, ein schöner Betrag.

Die anfängliche Distanz zu meinen Kollegen wich schließlich einer aufgeschlossenen Zusammenarbeit. Der mir nur zu gut bekannte Kommando Führungsstil mancher altgedienter Abteilungsleiter, viele waren Offiziere gewesen, war mir zu autoritär. Autorität und Akzeptanz, dachte ich, kann nur durch persönliches Beispiel und persönliche Leistung entstehen und überzeugen. Das wurde der Beginn einer guten Teamarbeit.

Die Weihnachtszeit war auch die Zeit der Werbegeschenke. Überwiegend Spirituosen, Zigaretten, Gläser, Taschenmesser, Lederwaren , Kleinwerkzeuge und  allerlei mehr oder weniger geschmackvolle Souvenirs wurden mit Notizbüchern und Kalendern überreicht. Es lag im Ermessen des jeweiligen Einkäufers, wie er über die persönlich übergebenen Geschenke verfügte. Die Empfänger wurden damit unmittelbar  Nutznießer der Arbeit auch ihrer Kollegen und Kolleginnen. Das bereitete mir Unbehagen. Daher schlug ich als Höhepunkt für  unsere Weihnachtsfeier  eine amerikanischer Versteigerung der Weihnachtsgeschenke vor. Der Erlös sollte UNICEF zugute kommen. Das fand besonders bei den 5 Damen begeisterte Zustimmung, und es gab keinen Widerspruch. Auch in den folgenden Jahren haben wir die Vorweihnachtszeit immer in gehobener Stimmung mit einer feuchtfröhlichen Versteigerung  beendet. Ich war inzwischen 34 Jahre alt geworden und hatte über 6 Jahre meine Aufgaben im Einkauf mit großem Engagement wahrgenommen, als sich meine beruflichen Aufgaben wieder ändern sollten. Ich wollte die andere Seite des Geschäfts kennen lernen, den Verkauf.

Gesellschaftliches

Die erfolgreichen Kollegen im Außendienst waren die kleinen Könige des Wirtschaftswunders, und ich würde auch bald dazu gehören. Es galt nur noch das Königreich zu erobern, dachte ich nach diesen Jahren des Aufschwungs, dessen Ende vielleicht schon  abzusehen war. Denn 1967 hatte der quirlige Wirtschaftsminister Karl Schiller eine konzertierte Aktion zur Wiederbelebung der Wirtschaft angekurbelt. Die ersten Arbeitslosen in der Bauwirtschaft waren für ihn Ausweis einer zyklischen Wirtschaftsbewegung. „Defizitspending“ nannte  Professor Karl Schiller im Kabinett von Bundeskanzler Erhard, dem Nachfolger Konrad Adenauers, der 1963 zurückgetreten war, das Programm zur Finanzierung der staatlichen Ausgaben zur weiteren Belebung der Konjunktur.

„Der Verkauf  ist das Herz des Unternehmens“  Im Takt der Umsätze wächst oder schrumpft das Unternehmen.

 „Als Chef unserer Einkaufsabteilung haben Sie eine Führungsposition. Sie haben sich die Achtung Ihrer Mitarbeiter erworben und der Pförtner grüßt Sie jeden Morgen, wenn Sie das Haus betreten. Wollen Sie wirklich wieder von vorn anfangen?“ sagte der kaufmännische Leiter als ich ihm eröffnete, im Verkauf tätig zu werden. „Wir brauchen Sie im Einkauf, ich gebe Sie nicht frei!“ So blieb mir nichts anderes übrig, als ihm klarzumachen, dass ich in ein anderes Unternehmen wechseln würde, wenn er meinen Vorschlag ablehnte. Natürlich hatte ich mich vorher vergewissert, dass mich der Leiter der Kälteabteilung für einen pensionsreifen verdienten Akquisiteur in den Verkauf übernehmen  würde.

Und so kam es auch. Mein Verkaufsgebiet war das halbe Hamburg und ein großer Teil Niedersachsens bis an die Elbmündung. Ein Riesengebiet und ein Riesenprogramm. Kälteanlagen für Industrie und Gewerbe, Klimaanlagen, Spezialanlagen für die Obstkühlung, Kühl- und Tiefkühlmöbel für Supermärkte und Fahrzeugkühlungen. Dazu ein Berg von Prospekten und im Hintergrund das ganze Ingenieurwissen eines großen Konzerns. Ich fühlte mich gewappnet, oder sollte ich sagen gut gerüstet. Doch langsam entwickelte sich aus dem Verkäufermarkt ein Käufermarkt, und schon bei den ersten Besuchen und Vorstellungsgesprächen wehte mir ein kräftiger Wind von Fragen und Argumenten entgegen, denen ich in keiner Weise gewachsen war.

Die Produkte, die ich verkaufen sollte, lernte ich durch das Lesen der Prospekte kennen. Die 14tägige Einführungstour durch den pensionsreifen Kollegen beschränkte sich auf eine Rundfahrt bei gutem Wetter mit Hinweisen und Fingerzeigen, „Dort, die Firma sollten Sie auch mal besuchen.“  Kein einziger Kunde wurde besucht. Nun kannte ich viele Einzelkomponenten der Kälteanlagen durch meine Einkaufstätigkeit, doch die Kenntnisse über komplette Anlagen und die Funktionsweise für die  verschiedenen  Produktions- und Lagerbereiche musste ich mir durch unzählige Rückfragen aneignen. Es gab einfach keine Schulung oder Einweisung zu diesem Zeitpunkt.  Noch wichtiger wären Marktkenntnisse gewesen. Kenntnis über das Angebot der Wettbewerber, das Preisverhalten und die  typische Verkaufsargumentation. Kein Wort darüber, keine Information. Ich fühlte mich wie ein Schulanfänger, der bei jedem Kundenbesuch eine Aufnahmeprüfung durchlaufen musste. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.  Aber bald wurde mir klar, dass ich denselben Erwartungen, Forderungen und Fragen gegenüberstand, die  noch vor nicht allzu langer Zeit  zu meinem eigenen Wortschatz gehörten.

Es war immer das Gleiche: Qualität, Garantien, Kundendienst, verbindliche Lieferzusagen, Preis! Im Vordergrund stand immer der Leistungsumfang und die Qualität der verwendeten Komponenten. Das war der Sicherheitsaspekt des Käufers. Dazu gehörten natürlich umfangreiche Garantiezusagen und der Hinweis auf einen verlässlichen Kundendienst, der jederzeit, auch am Wochenende einsatzbereit war. Eine Selbstverständlichkeit, die erwartet wurde. Viele Kaufinteressenten hatten gerade im Kundenservice schlechte Erfahrungen gemacht. Gleiches galt für Lieferzusagen,  die bei Lieferverzug häufig Grund für einen Lieferantenwechsel waren. Und dann der Preis. Da zeigte sich die Hartnäckigkeit und das Können des Einkäufers. So konnte er für das Unternehmen seinen ganz persönlichen Erfolg signalisieren!

Die Argumentation um den Preis war mir durch  unzählige Verhandlungen mit ausgebufften Verkäufern in Fleisch und Blut übergegangen. Da hatte ich keine Defizite, musste ich doch nur abschätzen können, wo die Schwelle zwischen Interesse und Kaufabsicht bestand. – wie hoch gepokert wurde –  Aufschluss über ernste Kaufabsichten und meine Chancen als Verkäufer gewann ich durch detaillierte Rückfragen des Kunden zu  technischen Komponenten, Wirkungsweisen, Garantien und Kundendienst. Blieben diese aus, war ich es, der diese Punkte am Anfang des Gesprächs ausführlich und oft mit Absicht penetrant und nervend, erörterte. Je mehr sich der Kunde auf  die oft wiederholten Einzelheiten einließ, um so sicherer konnte ich  sein, dass er mein Angebot wohlwollend geprüft und interessiert nahe stand.  Im entscheidenden Vergabegespräch diente mir dieser Teil der Verhandlung  immer als Gradmesser der Kaufabsicht.

Natürlich stand der Preis im Mittelpunkt des Gesprächs, und meistens folgte der Begrüßung der Satz  „Sie sind viel zu teuer, über den Preis müssen wir noch reden!“ Darauf sofort einzugehen, wäre für den Kunden häufig genug Anlass gewesen, das Gespräch bald zu beenden, um den nächsten Bieter zu weiteren Nachlässen zu bewegen. Damit aber,  war  kein  Aufschluss über meine Chancen für einem Geschäftabschluss möglich. Die Verhandlungen über größere Anlagen im Wert bis zu 500.000 DM  zogen sich oft Wochen, manchmal auch Monate hin und es war in einer Vielzahl von Besuchen nötig, um Überzeugungsarbeit zu leisten und das Vertrauen des Kunden zu gewinnen. Immer wieder kamen Argumente von Wettbewerbern ins Spiel, die angebliche Mängel in der Auslegung der Anlage oder der Komponenten betrafen, um Qualität oder Leistung infrage zustellen und Ansätze von Vertrauen zu erschüttern.

Ein Spiel, welches ich im Alltag der politischen Auseinandersetzung, oft auch noch gepaart mit persönlichen Herabsetzungen  beobachtete und das mich fatal an die teilweise üblen abenteuerlichen Unterstellungen meiner Wettwerber erinnerte, die durch keine begründete Erfahrung zu belegen waren. Immer wieder mussten mit Referenzanlagen und positiven Kundenaussagen die Bedenken zerstreut werden. Eine mühsame, zeitraubende aber lohnende Arbeit. Aus Kundensicht eine wichtige Prüfung, konnten doch die hartnäckigen Wettbewerber aus der Kenntnis ihres Branchenumfelds wichtige Informationen liefern. Das wusste ich, doch das sollte ich später viel nachdrücklicher erfahren und nutzen können.

Nachdem ich einen Teil dieser Erfahrungen in vielen anfangs vergeblichen Bemühungen gesammelt hatte,  zeigten sich erste Erfolge. Und als ich erste Großkunden als  dauerhafte Abnehmer geworben hatte, war das Erstaunen meiner Kollegen, langjährige Profis, groß. Und siehe da, nun  hatte ich mir wieder die Achtung  meiner Kollegen und der Geschäftsleitung erworben. Aber wie viel Arbeit und Mühe, oft bis spät in die Nacht, zu Lasten der Familie waren nötig, um dieses Ziel zu erreichen. Und wie viel Lernbereitschaft, Beharrungsvermögen und Ausdauer hatte das alles gekostet. Es  wäre viel einfacher und ertragreicher gewesen, durch Schulung und der Vermittlung von Marktkenntnissen, einen Teil dieses Wissen vor Aufnahme der Außendiensttätigkeit  zu vermitteln. Das hätte einen schnelleren und sicheren Erfolg bewirkt.

Später jedoch,  im härter werdenden Markt,  fanden Verkaufs- und Produktschulungen statt, um Erfahrungen und Kenntnisse über den Markt, Kundenverhalten, Wettbewerber und Produkte auszutauschen. Das war der Beginn  des härter werdenden Verdrängungswettbewerbs. Von der Illusion eines kleinen Königreichs blieb die Erkenntnis, dass nur  hart erarbeitete Erfolge einen Verbleib in diesem Arbeitsumfeld sichern konnten. Denn ausschlaggebend für eine dauerhafte Tätigkeit waren  nachweisbare Erfolge, und die wurden zuerst am Umsatz und später auch am Ertrag, dem sogenannten Kostendeckungsbeitrag gemessen. Die damals beginnende Frühverrentung älterer Kollegen war ein sichtbarer Beweis gnadenloser Auslese.

Doch  möchte ich durch drei Begebenheiten ein Schlaglicht auf Faktoren werfen, die monate- oder jahrelange Kundenanbahnungen zunichte machen, Motivation zerstörten und zunehmende Härte im Unternehmen und geschäftlichen Umfeld verdeutlichten. 

1.  Nach monatelangem Bemühen war es mir gelungen, von einer Agrargenossenschaft einen Auftrag für eine Anlage im Wert von mehreren 100.000 DM zu erhalten. Dieser Auftrag sollte eine Referenzanlage werden, als günstige Voraussetzung für weitere Großaufträge in diesem Gebiet. Ich war als Bieter die Nummer 3 und neu in diesem Geschäft, da 2 Wettbewerber über jahrelange Erfahrungen verfügten und  mehrere gut funktionierende  Spezialanlagen vorweisen konnten.  Der Auftrag wurde mir erteilt. Doch schon bald nach der feierlichen Übergabe zeigten sich gravierende Mängel in der Lageratmosphäre, die die Ware später wesentlich beeinträchtigen konnten. Die   Prüfprotokolle der später auch vom Werk angereisten Spezialisten ließen keine Ursachen für die offensichtliche Beeinträchtigung erkennen.

Nachdem ca. 6 Wochen durch aufwändige Maßnahmen im Wert von mehreren 100.000 DM ein Schaden von der eingelagerten Ware abgewendet werden konnte, aber die Ursachen nicht gefunden und ein Ende der Sanierungsmaßnahmen nicht absehbar war, erklärte mir der Kunde folgendes:

„Wir haben einen Ihrer Wettbewerber eingeschaltet und die Zusage erhalten, die Anlage innerhalb weniger Stunden  ohne großen Aufwand zu sanieren. Sollten Sie innerhalb der nächsten 14 Tage nicht in der Lage sein, die Anlage zu unserer Zufriedenheit instand zu setzen, werden wir Ihren Wettbewerber beauftragen, die Sanierung vorzunehmen und Ihnen die anfallenden Kosten belasten!“

Für ein renommiertes Unternehmen unserer Größe war das ein Gau auf diesem Arbeitsgebiet und für mich die bitterste Enttäuschung meiner bisherigen Laufbahn. Nachdem Ingenieure und Spezialisten verschiedener Fachrichtungen wochenlang auf der Suche nach etwaigen Konstruktionsfehlern gewesen waren, gelang es nun nach dieser Drohung, einem der beteiligten Ingenieure innerhalb weniger Stunden der Ursache auf  die Spur zu kommen. Für die Wirkungsweise der Kühlung im Zusammenhang mit der Lageratmosphäre  mussten einige Ventilgruppen nachreguliert werden. Tatsächlich war ein Aufwand weniger Monteurstunden  nötig, um den Kunden zufrieden zu stellen. Ein Schaden war entstanden, der den Wert der Anlage weit überstieg und ein Imageverlust, der auf diesem Gebiet nicht wieder gut zu machen war. 

2.  Die Zuspitzung der Wettbewerbslage und der Härte im Einkaufsverhalten wurde deutlich, als ich zu der Vergabeverhandlung eines großen Lebensmittelkonzerns geladen wurde. Es handelte sich um die Errichtung eines Kühllagers im Wert mehrerer 100.000, DM. Erwartungsvoll ging ich in den  Konferenzraum in dem mich neben dem Geschäftsführer der Architekt und der für den technischen Einkauf zuständige Leiter freundlich begrüßten. Dann wurde mir folgendes eröffnet:

 „Bitte überprüfen sie den Preis ihres Angebots und teilen sie uns mit, welchen Nachlass sie uns gewähren wollen. Halten sie gegebenenfalls Rücksprache mit Ihrer Hauptverwaltung. Die technischen Voraussetzungen haben wir geprüft, sie entsprechen unseren Anforderungen und den Leistungen der anderen Bieter, sodass  sich weitere Gespräche erübrigen. Wir werden Ihren Wettbewerbern, die im Vorraum warten, die gleichen Möglichkeiten einräumen und bitten Sie, uns in einer halben Stunde zu berichten.“  Ernüchtert begrüßte ich im Vorraum die Kollegen des Wettbewerbs, führte ein belangloses Gespräch mit meinem Büro, um dann einen leicht reduzierten  Preis, das Limit war bereits erreicht,  abzugeben. Man bedankte sich höflich und gratulierte nach circa 15 Minuten einem Wettbewerber zum erteilten Auftrag. Diese Prozedur wiederholte sich im selben Jahr für ein anderes Objekt,  jedoch mit anderem Ergebnis.

Durch persönliches Einwirken war nichts mehr zu gewinnen, und ich stellte mir die Frage über den Sinn meiner Arbeit. Ein Telefonat oder ein Telex hätten denselben Zweck erfüllt und mir die stundenlange Anfahrt  erspart. Noch war diese Art der Verkaufens eine Ausnahme. Doch der zunehmende Preisverfall zwang viele Unternehmen zu scharfen Sparmaßnahmen.

 Der Geschäftszweig Klima/Kälte, in dem ich arbeitete, wurde in eine selbständige Tochtergesellschaft mit Beteiligung eines amerikanischen Unternehmens umgewandelt. Eines Tages anlässlich einer Betriebsversammlung wurden neue Arbeitsrichtlinien verkündet. Nachstehend die zwei wichtigsten Vorschriften, die völliges Unverständnis zur Folge hatten.  Zwischen 10:00 und 12:00 Uhr wurde eine „Kreative Zeit“ eingeführt. In dieser Zeit konnten Telefonate angenommen, aber keine Gespräche zu Kunden oder Lieferanten angewählt werden. Eine Maßnahme zur Einsparung von Telefongebühren. Die Außendienstmitarbeiter bekamen Kostenbudgets zugeteilt mit einem Limit für die Abrechnung der geschäftlich gefahrenen km. Gleichzeitig wurde ein neues, dynamisch wirkendes Provisionssystem eingeführt, welches außerordentliche Leistungen im besonderen Maße belohnte, die bisherige Leistung aber als Durchschnitt definierte und zu Einkommensverlusten führen konnte.

Eine stärkere Polarisierung zwischen Belegschaft und Geschäftsleitung war die Folge und führte bei der nächsten Betriebsratswahl dazu, dass mich meine Kollegen als Interessenvertreter  in den Betriebsrat wählten. Später habe ich ihre Interessen auch als  Mitglied des Gesamtbetriebsrats  vertreten.  Immer gab es eine freundliche, verständnisvolle Gesprächsbereitschaft der Geschäftsleitung  für alle Forderungen oder Verbesserungsvorschläge, doch blieben die meisten Bemühungen wirkungslos. Ich stand zwischen zwei Interessen. Da ich die Geschäftsinteressen  unmittelbar nach außen vertrat und täglich selbst erfuhr, wie schwierig es geworden war, für die Aufträge eine angemessene  Kostendeckung zu erzielen, hatte ich Verständnis für viele Einschränkungen und den damit verbundenen Maßnahmen. Andererseits galt es Härten für besonders Betroffene zu vermeiden und so befand mich oft in Widerspruch zu manchen aus meiner Sicht zu der Zeit nicht vertretbaren Forderungen.

Ich war im doppelten Sinn solidarisch und versuchte in den auftretenden Interessenkonflikten zu vermitteln. Damit setzte ich mich manchmal zwischen alle Stühle. Das hatte jedoch keinen Einfluss auf meine beruflichen Aktivitäten, die mir bald einen dauerhaften Spitzenplatz in der Liga des Verkaufs einbrachten und mit Auszeichnungen belohnt wurden. Merkwürdig, diese Art der Anerkennung war mir auf der anderen Seite des Geschäfts im Einkauf trotz nachweisbarer Erfolge nie zuteil geworden. Doch ein kleiner König?

Manchmal  hatte ich den Eindruck in einem spannenden Film zu sein, nur mit der Möglichkeit durch interaktives Handeln auf den Ablauf der Ereignisse Einfluss zu nehmen, ohne aber das Ende voraussagen zu können. Die Ereignisse und Bilder des Tages verfolgten mich oft bis spät in die Nacht. Dann ein kurzer Schlaf, bis sie wieder von mir Besitz ergriffen und den neuen Tagesablauf bestimmten. Bei allem Erfolg war das ein Druck zu zwanghafter Erfüllung ständig steigender Budgets, dem ich mich nicht länger beugen wollte.  Diese Fixierung auf ertragreiche Aufträge, war in meinen Augen plötzlich suspekt geworden, kein lebenswertes Ziel. Die Ansprüche der Familie waren gewachsen. Ich erkannte, dass ich zu wenig Zeit hatte, mich um die Familie und die schulische Förderung meiner Kinder zu kümmern.

Kurzerhand fuhr ich zum nächsten Arbeitsamt und erkundigte mich nach Umschulungsmaßnahmen. Als Berufsschullehrer dachte ich, könnte ich jungen Menschen meine beruflichen Erfahrungen vermitteln und damit eine sinnvollere Tätigkeit ausüben. Ich hatte von der Möglichkeit gehört, als Seiteneinsteiger gefördert zu werden. „Sie wissen was Ihnen fehlt, die Qualifikation der Hochschule, “ war die Antwort. Vielleicht dachte ich, befand ich mich in einer „midlifecrisis“, damals ein gängiger Ausdruck für ein unsicher  fragendes Überdenken der Lebenssituation. Würde mir eine neue, andere  berufliche Motivation  helfen, doch wo lag sie? Eines Tages sollte ich eine Antwort darauf erhalten.                                   

Gesellschaftliches

Oswald Kolle erklärte die Sexualität zum lustvollen Bedürfnis und befreite sie von dem Makel "sündhafter Triebhaftigkeit". Die ersten Bilder von Teufel, Langhans  und der Kommune in Berlin dokumentierten ein völlig neues Bild des Zusammenlebens, ein Tabubruch. Hitzige  Diskussionen mit empörten Teilnehmern bewegten die Gemüter. Lange Haare wurden zum Sinnbild anderen Denkens und Kennzeichen innerer Opposition.

 „Wir haben abgetrieben“ lautete der Titel einer großen Illustrierten, in der sich mehr oder weniger prominente Frauen zu einer neuen Moral bekannten und eine Änderung des §218 forderten. Die neue  Antibabypille sollte künftig ungewollte Schwangerschaften verhüten und wurde zum Symbol eines neunen Bewusstseins. Selbstbestimmung hieß die neue Formel für bewusstes Leben.

Das zwang  zur Überprüfung persönlicher Standpunkte, die wesentlich  durch den Katalog religiös  begründeter Gebote und Morallehre bestimmt worden war. Eine neue Frauenbewegung hatte die gültigen Moralvorstellungen und gesellschaftlichen Regeln infrage gestellt und forderte einschneidende gesetzliche Reformen. Nach heftigen öffentlichen Diskussionen und politischen Auseinandersetzungen mit deutlich  ablehnenden Stellungnahmen der großen Kirchen, trugen neue Gesetze dem geänderten  Bewusstsein der Mehrheit in der Gesellschaft Rechnung. Dazu gehörte auch ein  neues Scheidungsrecht. Es hatte ein Wertewandel stattgefunden und viele Beziehungen wurden nun durch konträre Ansichten auf eine harte Probe gestellt oder zerbrachen.

Es war eine Zeit in der scheinbar alles möglich und erreichbar wurde. Menschen die scheiterten, wurden durch staatliche Obhut, das neue „soziale Netz“, aufgefangen und alimentiert. Sie hatten Anspruch darauf.

Die Jahre zwischen 1962 und 1977 waren durch bedeutende politische  Ereignisse geprägt, die zu starken Polarisierungen in Teilen der Bevölkerung führten und häufig genug zu bis dahin ungewohnten Demonstrationen und Polizeipräsenz führten. Die Bilder im Fernsehen aus Berlin und das Attentat auf  Rudi Dutschke waren furchterregend. Diese Auflehnung von Gewalt gegen „Sachen und Autoritäten“ störten den gerade wieder gewonnenen gesellschaftlichen Konsens, der in den Jahren zuvor eine  Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geprägt hatte. Wie wir später empört erfahren sollten, bekleideten  ehemals hochrangige Nazifunktionäre wieder wichtige Posten im öffentlichen Dienst. Die Schatten der Vergangenheit verbargen immer noch Unrecht,  Grausamkeit und Verbrechen, die eine endgültige Beurteilung oder Bewältigung dieses furchtbaren Kapitels deutscher Geschichte nicht zuließen. Ich hatte den Eindruck, dass die Öffentlichkeit die Täter der damals laufenden Prozesse mit schonendem Verständnis begleitete und häufig den Befehlsnotstand auf den sich viele Täter beriefen, zum Maßstab ihrer Schuldfähigkeit machten.

Als 1969 die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschierten und die Fernsehberichte die Menschen erschütterten, spürte ich die wiederaufkeimende Angst vor Gewalt und Krieg. Wie würden sich die Westmächte verhalten, wie sicher war unsere Welt noch? Überall in meinem Umfeld hörte ich fragende, besorgte und ängstliche Stimmen. Im Falle einer Auseinandersetzung zwischen Ost und West, das war vielen Menschen klar,  würden beide Teile Deutschlands in ein riesiges Aufmarschgebiet verwandelt und unser wieder aufgebautes Land vollständig  zerstört werden. Eine seit Ende des Krieges latente Angst bekam ein Gesicht.

Im selben Jahr 1969 wurde Willi Brandt Bundeskanzler. 1970 besuchte er zum ersten Mal die DDR, ein Name für den ostdeutschen Staat, der bis dahin in der politischen Öffentlichkeit nicht benutzt werden durfte, fürchteten die Regierenden doch, damit den 2. Deutschen Staat anzuerkennen. Man sprach von „Gebilde“ und fand andere Ausdrücke, um im kalten Krieg den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik zu betonen. Ich erlebte die Auseinandersetzung und die weitere Polarisierung zwischen den großen politischen Parteien CDU und SPD über die Anerkennung der DDR und die Ratifizierung des Moskauer und Warschauer Vertrags als tiefen Riss in der Gesellschaft. Wie viele Menschen  war auch ich  zutiefst davon überzeugt, dass die Aussöhnungsmission, die Konrad Adenauer im Westen begonnen hatte durch Willi Brandt mit der Geste am Mahnmal des Warschauer Ghettos und die Ostverträge vollendet wurde.

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an Willi Brandt war  eine außerordentliche Bestätigung seiner Politik. Die Kommentare in den Zeitungen jener Zeit spiegelten eine Vielzahl von Argumenten und Interessen wider und schürten in bis dahin  nicht gekanntem Maß die Emotionen. Ähnliches galt für Berichte in „Panorama“ oder Veröffentlichungen im Spiegel, die mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurden. Die Fernsehbeiträge von Richard Löwenthal und der schwarze Kanal von Eduard Schnitzler aus dem DDR-Fernsehen waren mediale Höhepunkte des kalten Krieges.

Doch die Ereignisse überstürzten sich. 1974 wurde Willi Brandt zum Rücktritt gezwungen und  Helmut Schmidt zum Bundeskanzler ernannt. Davor gaben die Fahrverbote anlässlich der Ölkrise Gelegenheit zu sonntäglichen Spaziergängen auf der Autobahn.  Es war die Geburtsstunde einer neuen Diskussion über Energienutzung und Nachhaltigkeit, die Jahre später in den politischen Auseinandersetzungen  eine wichtige Rolle spielen sollte.

Doch vor der Umweltbewegung, den Auseinandersetzungen um Kernkraft und alternative Energien erreichte seit den frühen 70er Jahren  der internationale Terrorismus die Bundesrepublik.  Die Entführung einer Lufthansa-Maschine und 1977 die Anschläge auf Generalbundesanwalt Buback, den Arbeitgeberpräsident  Schleyer und den Chef der Dresdner Bank Ponto erschütterten die Menschen. Ich fragte mich, in welchem Maß die neuen verschärfenden Gesetze unsere persönliche Freiheit beschneiden würden. Doch bei den vielen Straßenkontrollen von Polizei und BGS mit dem Gewehr im Anschlag überfiel mich  ein beklemmendes Gefühl der Angst.  Wohin gehst du Bundesrepublik, fragte ich mich, wie viele Menschen damals.  Warum dieser Terror und  was sind die Motive?

 4.  1977 – 1979    Die Holzwerkstoffindustrie 

Ich hatte mich bei einem führenden Unternehmen der Holzwerkstoffindustrie beworben und obwohl branchenfremd, wurde ich sofort eingestellt. 3 Monate Einarbeitung in verschiedenen Werken machten mich mit der Produktpalette vertraut. Holzwerkstoffe wie Spanplatten, Schichtstoffplatten, Arbeitsplatten und Hartfaserplatten, die ich an Handel und Industrie, vornehmlich an die Möbelindustrie, verkaufen sollte. Nach kurzer Rundreise mit dem ausscheidenden sehr verdienten Gebietsleiter, wieder ein ehemaliger U-Bootkommandant,  lernte ich mein Arbeitsumfeld kennen. Im Betrieb wurde ich, als Betriebs- und Branchenfremder,  neugierig beäugt.

Aber dann, allein bei meinen täglichen Kundenbesuchen, lernte ich allmählich die Besonderheiten dieser Branche und die unterschiedlichen Ansprüche und Erwartungen des Handels und der Industrie kennen. Ich war ein Fremder, nicht nur im Unternehmen, sondern vor allem in diesem völlig anderen Markt. Wieder waren mir Marktkenntnisse und individuelles Kundenverhalten nicht vermittelt worden. Wieder war aus dem erfolgsgewohnten Verkäufer ein unbeschriebenes Blatt geworden. Ich konnte es drehen und wenden wie ich wollte, ich hatte große Mühe, mir den neuen Kundenkreis zu erschließen und Kontakte zu knüpfen. Sechs Monate dauerte es, bis ich einen Weg gefunden hatte, mich aus diesem mit Ungewissheiten und Selbstzweifeln gepflasterten Zustand zu befreien.

Gewiss, meine alte Tätigkeit bot in einem sich langsam sättigendem Markt keine großen Entwicklungsmöglichkeiten, und die Sparmaßnahmen des Konzerns beschränkten die Aktivitäten und führten zu lähmender Resignation. Ein Arbeitsumfeld, das kaum noch Raum bot für kreative Entwicklung und Anlass zu Unzufriedenheit wurde, deutlich spürbar auch im Kollegenkreis.  Das war der eigentliche Anlass zu Abschied und dem Aufbruch in eine andere Welt. Für mich gab es kein zurück. Ich war zum Erfolg in dem neuen Unternehmen gezwungen.

Ich hatte beschlossen, mich nur noch sporadisch und bei besonderen Anlässen um das Geschäft der Kunden zu bemühen, die tagespreisorientiert direkt im Werk orderten. Die Preise für Spanplatten  z.B. richteten sich bei Großabnehmern auch nach der Auslastung der Werke.  Hier konnte persönlicher Einsatz wenig Erfolg bringen. Ich stand unter einem großen Erwartungsdruck und sollte neue Kunden gewinnen. Interessante Ansatzpunkte dafür bot die für neues Design stets aufgeschlossene Möbelindustrie und dort waren die Küchenmöbelhersteller besondere innovativ.

In jedem Jahr wurden auf der internationalen Möbelmesse in Köln die neuesten Entwicklungen und Wohnkonzepte gezeigt, ein Erfolgsbarometer für neue Trends in Technik und Design. Das Design interessierte mich besonders, da es interessante Ansatzpunkte für Gespräche mit den Entwicklern und Designern bot. Trends und Entwicklungen spiegelten besondere Erwartungen und Wünsche der Kunden wider. Das Design, im Mittelpunkt meines Interesses, bestimmte die dekorativen Möbelfronten und war ausschlaggebend für den Erfolg eines Möbelprogramms.  Je exklusiver und einmaliger das Design, möglichst mit einer breiten Akzeptanz, um so günstiger die Absatzchancen. War es nicht vergleichbar mit Wettbewerbsprodukten, so wurde es auch nicht gegen Produkte anderer Hersteller austauschbar. Das sicherte stabile Erträge und anhaltende Kundenbindung.

Diese Erkenntnis war ausschlaggebend für meine künftige Arbeit, denn ich beschloss, dieses Wissen für neue Präsentationsformen zu nutzen, um Kunden zu gewinnen. War es bisher üblich mit Materialmustern und Musterketten den Kunden über Neuentwicklungen zu informieren, so ließ ich, nachdem ich die Küchenausstellungen der Kunden besucht hatte, spezielle Musterfronten mit austauschbaren Dekoren anfertigen. Damit konnte ich die  neuen Dekore anschaulich präsentieren und dem Kunden eine genauere Vorstellung über neue Gestaltungsmöglichkeiten erschließen. Diese Strategie führte zu völlig neuen Präsentationen in meinem Kundenkreis und entsprechender Ausstattung des Designcenters und des Ausstellungsfahrzeugs.

Die neue Aufgabe und die interessanten Gespräche mit den Möbeldesignern hatten mich so begeistert, dass ich anfing, mir über neue Dekore Gedanken zu machen und so ereignete sich folgendes. „Wir suchen ein neues, belebtes „uni“, um die zur Zeit gängigen Textilstrukturen abzulösen, und einen neuen Trend zu setzen“ wurde mir eines Tages von einem namhaften Möbelhersteller erklärt. Im werkseigenen Designcenter fand ich keine brauchbaren Ansätze für diesen Gedanken. Hier waren  Frontgestaltungen in allen Farbtönen möglich und konnten mit  unterschiedlichsten  Oberflächen matt oder glänzend geprägt werden, aber das war nicht neu. Die damals üblichen Fantasiedekore und wolkig angelegte Farbflächen passten nicht ins Küchendesign und würden nicht auf große Resonanz stoßen. Das gewünschte Dekor war nicht dabei. Das Augenmerk der Branche lag vorwiegend auf Dekore für Holzreproduktionen mit entsprechenden Oberflächen.

Eines Tages hatte ich eine Idee. Ich ging in ein Aquariengeschäft und kaufte verschiedene Sorten fein- und grobkörnigen Aquarienkies. Den leimte ich auf verschiedene  Spanplattenabschnitte, die ich als Füllungen in unterschiedliche Rahmen einsetzen konnte. Dann kam der mit Spannung erwartete Augenblick anlässlich er Präsentation.  „Das könnte es sein!“ war die überraschende Reaktion des Designers, der den Anstoß zu dieser Entwicklung gegeben hatte. Nach einem Besuch im Werk und einem Gespräch über Möglichkeiten der Farb- Druck- und Oberflächengestaltung war eine neue Dekorreihe geboren.  Große Augen machte ich, als nach wenigen Wochen einer der führenden Anbieter im dekorativen Bereich mit einer ähnlichen Dekorserie auf dem Markt kam. Lange danach beschäftigte mich die Frage ob das Dekor nachgestellt worden war, oder ob gleiche Assoziationen zu den neuen Trends  für diese Entwicklungen ausschlaggebend waren.

Diese Möglichkeiten kreativer Auseinandersetzung mit Markt- und  Kundeninteressen hat mich immer fasziniert.  Bei meiner früheren Tätigkeit war es die Technik, die mein besonderes Interesse fand und meine Fantasie für Neuentwicklungen anregten. Zum Beispiel ein einfaches Warn- und Kontrollsystem zur Überwachung der Temperaturen in Kühl- und Tiefkühlmöbeln, welches ich entwickeln ließ. Auch hier waren Kundenhinweise auf die immensen Warenschäden bei Ausfall der Kühlsysteme entscheidend. Natürlich gab es entsprechende Warnsysteme, die aber mit bedeutendem Kostenaufwand verbunden waren und nur bei Großobjekten eingesetzt wurden. Ein weiteres sehr interessantes Feld war die Energierückgewinnung der Kälteanlagen durch den Einsatz von Wärmeaustauschern.

Doch zurück zur Holzwerkstoff- und Möbelindustrie. Bisher war ich durch die überwiegend technisch ausgerichteten Produkte der Firmen, in denen ich bis dahin tätig war, in gewissen Sinne ein Technikfreak geworden. Nun bot die neue Tätigkeit völlig andere Anregungen für einen Markt, der durch wechselnde  Modelle, Formen Farben und Strukturen der Oberflächen ständig in Bewegung war und neuen Trends folgte. Diese Trends rechtzeitig zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren war eine Herausforderung. Ich dachte an die Modebranche und daran, dass Trends in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Umfeld entstehen. Daher konnten Trends für das Wohnen, wie Tapeten und Stoffe, aber auch der Architektur und Innenarchitektur  Aufschluss über den Wandel und zu erwartende Veränderungen geben. Für Insider eine Binsenweisheit, für mich eine spannende Erkenntnis, die mir auch im Alltag eine völlig neue Sichtweise meines Umfelds erschloss. Und so war es kein Wunder, dass ich mich immer häufiger bei Raumausstattern und Innendekorateuren wiederfand, um zu erkunden was z. B. bei Tapeten oder Stoffen „in“ war oder werden würde. Eine spannende Reise in völlig andere Welten, die meine Gedanken oft bis spät in die Nacht bewegten.

Meine besondere berufliche Intention  hatten auch Gesprächspartner in meinem Kundenkreis bemerkt, denn eines Tages wurde ich von einem Designer  angesprochen, der mich zu einem Gespräch mit dem Geschäftsführer seines Unternehmens aufforderte. Das hatte Folgen für meinen weiteren beruflichen Werdegang. In diesem Unternehmen waren meine beruflichen Aktivitäten scheinbar sehr aufmerksam verfolgt worden. Völlig überraschend für mich wurde mir eine neue Aufgabe als Geschäftsführer und Teilhaber einer neu gegründeten GmbH angeboten. Ein Unternehmen, wie mir versichert wurde, mit einer guten Kapitalausstattung und mit bewährten Fachkräften, die vor dem Konkurs des ehemaligen Unternehmers Sondermöbel in handwerklicher Qualität produzierten. Nun sollte dieser Betrieb als Zulieferer der Möbelindustrie tätig werden.

Die Entscheidung, mich von dem Industrieunternehmen zu trennen fiel mir schwer, besonders nachdem mir einer der geschäftsführenden Gesellschafter die Position des Geschäftsführers für einen neuen Geschäftsbereich in Aussicht stellte. Heute weiß ich, dass ich das Angebot hätte annehmen sollen. Doch damals schien mir die Position eines Alleingeschäftsführers in einem kleinen überschaubaren Betrieb verlockender und angemessener, zumal ich weiterhin mit meinem vertrauten Kundenkreis und Gesprächspartnern in der Möbelindustrie zusammenarbeiten würde.

Persönliches und Gesellschaftliches

Mit dem neuen Aufgabengebiet war ein Umzug aus Norddeutschland nach Westfalen verbunden gewesen. Das gemietete Haus, ein Neubau,  wurde mit großem Aufwand eingerichtet. Meine Söhne bekamen endlich größere  Zimmer und der älteste davon ein Appartement im Kellergeschoss mit separatem Eingang.  Der Verlust der alten Heimat und der Freunde sollte ihnen durch großzügigere Wohnverhältnisse und neue Fahrräder erleichtert werden. Doch eines Tages waren die beiden jüngsten Söhne verschwunden. Eine Suchaktion brachte keinen Erfolg, und erst nach stundenlangem Warten und einer Vermisstenmeldung meldete sich am nächsten Tag die Bahnpolizei aus Minden. „Wir haben ihre Söhne aufgegriffen, sie wollten wieder zurück zu ihren Freunden nach Norddeutschland.“ So ist das mit der Flexibilität, dachte ich als mir klar wurde, welche Auswirkungen der Umzug bei meinen Kindern ausgelöst hatte.

Hatten die Lehren und Bemühungen, die wir in den Jahren davor abends im 50 km entfernten Hamburg auf uns genommen hatten, nichts bewirkt?  Junge Pädagogen hatten uns in einem Elternseminar das Modell „Summerhill“ nahegebracht und einen größeren selbstbestimmten Freiraum der Kinder mit gemeinsam festgelegten Spielregeln gefordert. Der Ausdruck eines neuen Verständnisses von Freiheit und Selbstentfaltung. Vorher schon hatten uns  und andere Eltern Hilferufe der Lehrer zu eilig anberaumten Elternabenden erreicht. In der Klasse unserer Tochter herrschte durch die neue Freizügigkeit große Disziplinlosigkeit. Das Unterrichten wurde unmöglich. Einer unserer Söhne, er war auf einer anderen Schule, durfte während des Unterrichts seine Pausenbrote essen und auf den Fensterbänken jonglieren. Das berichtete er uns voller Stolz. Wir waren erschüttert, oder hatten wir etwas nicht verstanden und „die neue Zeit“ verpasst?

Der auch in dieser Kleinstadt aufkommende Haschischkonsum gefährdete einen unserer Söhne, und so beschlossen wir, ihn von seinen Freunden zu isolieren und an einem Internat anzumelden. Voraussetzung dafür war sein Einverständnis. Damit er einwilligte, machten wir ihm die erneute Trennung von Elternhaus und Freunden durch regelmäßige Wochenendheimfahrten erträglich.

Die Umweltbewegung wurde zu Beginn mit großem Unverständnis von den betroffenen Wirtschaftsverbänden und Interessenvertretern  nachsichtig belächelt. Kommentare und Stellungnahmen gipfelten in der Feststellung , dass die  Bäume an den Autobahnen wie eh und je mit kräftigem Grün belaubt und Schäden durch Schadstoffemissionen der Autos in das Reich grüner Phantasie gehörten. Eine Begründung, welche die angestrebte Ausfilterung von Schadstoffen und eine Abgasreinigung überflüssig erscheinen ließ und auch wegen der damit verbundenen Kosten  verhindern sollte.

 Ich erinnere mich an endlose  Diskussionen, ein völliges Unverständnis für die immer eindringlicher werdenden Forderungen der aus der Umweltbewegung  hervorgegangenen  “Grünen Partei“. Spinnerei, viel zu teuer, Lähmung unserer Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit sangen  interessierte Wirtschaftsverbände und ihre Vertreter in den Parlamenten im Chor. Im Familien- und Freundeskreis wurde dieses Thema stundenlang heftig diskutiert. Es war zu einem Thema ernsthafter gesellschaftlicher Auseinandersetzung geworden.

Die unter Willi Brandt eingeleitete Entspannungspolitik fand durch die Aufrüstung der UDSSR und die Antwort des Westens auf die atomare Bedrohung ein jähes Ende. Die Bundesrepublik war zum Zielgebiet sowjetischer  Mittelstreckenraketen geworden. Der Nachrüstungsbeschluss führte zu heftigen Auseinandersetzungen. Kriegsängste befielen viele Menschen, und auch wir wollten uns die Schrecken eines Krieges nicht ausmalen. Unvorstellbar, deutsche Bundeswehrsoldaten gegen deutsche NVA Soldaten.

 In den 50er Jahren wurden als Schutzmaßnahmen im Falle eines Atomkriegs  noch Aktentaschen als Kopfschutz empfohlen. Nun war mit Ausnahme hoher Repräsentanten unseres Staates und nur weniger kapitalkräftiger Bundesbürger, die sich einen atomsicheren Bunker geleistet hatten, kein Schutz vor den alles zerstörenden Einwirkungen in einer neuen lebensbedrohenden Auseinandersetzung zwischen Ost und West möglich. Eine bis dahin noch nie von so vielen Bürgern getragene starke Friedensbewegung  brachte den Willen Hunderttausender zu einer friedlichen Bereinigung der Gegensätze in Ost- und Westdeutschland  zum Ausdruck. Lichterketten waren das Symbol dieses Friedenswillens. Europa wollte keinen Krieg!

Mich hat diese Auseinandersetzung tief bewegt. Ich habe das leidenschaftliche Engagement vieler Kriegsgegner  die oft heftigen Angriffen der Ordnungskräfte und Andersdenkender ausgesetzt waren, bewundert.  Wie tief die Kriegsangst verwurzelt war, wurde mir durch ein Gespräch mit einer jungen Frau deutlich. Sie brachte zum Ausdruck, was scheinbar  viele Frauen ihrer Generation bewegte. „Die Verantwortung,  einem Kind in dieser Zeit das Leben zu schenken, will ich  nicht übernehmen!“

Ungewissheit und Zukunftsängste prägten diese Zeit. Nach dem heftigen Aufbruch in gesellschaftliche Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte schlug das Pendel wieder zurück . Es war der Anfang einer Epoche beginnender Technikfeindlichkeit und Rückbesinnung. „Zurück zur Natur!“ Die langen Haare und Jeans meiner Kinder, die sich dem allgemeinen Erscheinungsbild angepasst hatten, waren Vorläufer eines Protestes gegen den Zeitgeist und die Technikgläubigkeit. Naturfasern, lange Röcke, Hippilook, und alternative Lebenseinstellung. Müsli und Körnerbrötchen hatten Einzug in ein kuscheliges Zuhause gefunden, in dem abends Kerzen oder Öllämpchen flackerten und je nach Gusto mit aromareichen Duft eine neue Atmosphäre schufen.  War es der ganz private Rückzug in eine eigene Welt, die auch von einem neuen Individualismus und beginnender Esoterik geprägt wurde?

 5.  1980     Die GmbH  oder „Von einem, der auszog das Fürchten zu lernen.“

Nun war ich also alleinverantwortlicher Geschäftsführer einer GmbH geworden. Die wichtigste Aufgabe war, das Unternehmen mit Aufträgen zu versorgen und die Produktion auszulasten. Dank meiner guten Verbindungen zur Möbelindustrie war dieses Ziel innerhalb weniger Monate erreicht worden. Wir brauchten für die Fertigung viele Holzprofile, die wir zukauften. Eines Tages wurde ich durch den Hauptgesellschafter zur Besichtigung eines Betriebes gebeten, der die benötigten Holzprofile fertigen konnte und kurz vor dem Konkurs stand. Eine Übernahme war beabsichtigt und in der Besprechung mit dem Inhaber und einem hinzugezogenen Rechtsanwalt und Notar  wurden Inventar, Verbindlichkeiten, Übereignungen und Grundbucheintragungen geprüft und ausführlich erörtert, wie bestehende Rechte Dritter außer Kraft zu setzen waren.

Diese Art der Rechtsberatung entsprach nicht  meinem Rechtsempfinden. Während der Rückfahrt war meine Meinung zur Übernahme des Betriebes und der Geschäftsführung Gegenstand des Gesprächs. Ich lehnte ab mit der Begründung fehlender fachlicher Voraussetzung für die Übernahme der Verantwortung dieser Produktion , war aber erstaunt über den Vertrauensvorschuss und empört über diese "scheinbar übliche" Art geschäftlicher Usancen und brachte das auch in einem Gespräch zum Ausdruck. „Sie müssen ein Schwein sein, wenn Sie Erfolg haben wollen!“ wurde mir erklärt. Ich war entsetzt über diese Bemerkung eines 20 Jahre jüngeren „Erfolgsmenschen.“

Doch die Geschäfte der neuen Firma waren gut angelaufen und damit, so dachte ich, war ein gutes Fundament für den Ausbau der Produktion und ein gesundes Wachstum gelegt. Wie sich jedoch bald darauf zeigen sollte, hatte ich die Rechnung ohne die Gesellschafter gemacht. Zwei entscheidende Faktoren sollten mich in den folgenden Wochen um den Schlaf bringen und meine weitere Tätigkeit in diesem Unternehmen infrage stellen.

Nach Lieferung der ersten LKW-Ladungen  Echtholz-Sondermöbel für bestimmte Küchenprogramme kam es zu Reklamationen, da die Oberfläche unregelmäßig gebeizt war. Im Betrieb versicherte mir der Meister, der ehemalige Inhaber des in Konkurs geratenen und nun mit 2  neuen Gesellschaftern und Kapitalgebern  gegründeten Unternehmens, dass die Beanstandung nicht gerechtfertigt und die Unregelmäßigkeiten der Beizung mit der Holzstruktur und Maserung zu erklären sei. Der Kunde lehnte diese Begründung ab und wies auf schlampige Arbeit hin. Ich lud ihn ein, den Betrieb zu besichtigen, um sich von der fachgerechten Behandlung der Oberflächen zu überzeugen. Er nahm die Einladung an und als wir vor der Beizmaschine standen, fragte er: „Wann ist die Maschine zuletzt gereinigt worden?“ „Am Montag,“ sagte der Betriebsleiter. Der Kunde forderte ihn auf, die Beizwanne zu öffnen und  rührte mit einem Holzstab in der braunen Brühe. „Total verdreckt, kein Wunder das Ergebnis.“  Ich war wie vom Schlag gerührt.

Nachdem der Betriebsleiter  versucht hatte, die Angelegenheit zu bagatellisieren und mir ausdrücklich versicherte, dass alle anderen Maschinen in einem tadellosen Zustand seien,  beschlich mich ein  Gefühl der Verunsicherung. Sollte etwa die Maschinenausstattung reparatur- oder erneuerungsbedürftig sein? Es hatte auch schon andere Reklamationen wegen unsauberer Verarbeitung gegeben.  Ich unterhielt mich  mit den Menschen, die an den Maschinen arbeiteten, und kam zu der Überzeugung, dass  Teile des Maschinenparks total veraltet und für die geforderten Qualitätsarbeiten überholt oder erneuert werden mussten.  Das entsprach nicht dem Bild, dass man mir vermittelt hatte, um mich für dieses Unternehmen zu entscheiden.

Ich berief also eine Gesellschafterversammlung ein, verlangte die Ablösung des Betriebsleiters und die Restzahlung der gezeichneten und noch ausstehenden Gesellschafteranteile in Höhe mehrerer 100.000 DM zur Vorfinanzierung des inzwischen beträchtlichen Auftragsvolumens und  der erforderlichen  Maschineninstandsetzungen.

„Ich habe mir gerade in Paris eine Eigentumswohnung gekauft,“ sagte der Gesellschafter mit dem größten gezeichneten Kapitalanteil. „Wir gehen morgen zur Bank, verpfänden unsere Kundenforderungen und den Fahrzeugpark  und verwenden den Kredit für die Vorfinanzierung des bestehenden Auftragsvolumens. Die Überholung der Maschinen werden wir zu einem späteren Zeitpunkt vornehmen.“  Ich war erschüttert. „Nein sagte ich, ich werde die gezeichneten Gesellschaftsanteile wie vertraglich vereinbart einfordern. „Dann werden wir uns gezwungen sehen, den Vertrag mit Ihnen als Geschäftsführer aufzulösen!“ war die Antwort. Das Gespräch fand in einer freundlichen Atmosphäre statt und ich gewann den Eindruck, dass meine bisherige Arbeit anerkannt wurde und keineswegs daran gedacht war, den Vertrag aufzulösen. Aber noch wollte ich es nicht darauf ankommen lassen und stimmte dem Vorschlag zu. Ich wollte Zeit gewinnen, um mich mit  Rechtsfragen zu beschäftigen und die Vorgänge zu überdenken.

Meine drängenden Fragen nach dem Beginn und die Finanzierung der erforderlichen Instandsetzungsarbeiten und die Ablösung des Betriebsleiters wurden eines Tages mit einem Leasingvorschlag und den Worten beantwortet: „Der Betrieb ist dank Ihren Aktivitäten für die nächsten Monate gut ausgelastet, nun übernehmen Sie die Verantwortung für die Produktion!“ 

Die von den Gesellschaftern nicht eingezahlten Kapitalanteile, der schlechte Zustand des Maschinenparks, die Übereignung von Forderungen und Betriebsvermögen an die Bank waren Anlass der Meinungsverschiedenheiten mit den Gesellschaftern. Eine Übernahme der Verantwortung für die Produktion als Nichtfachmann kam für mich nicht infrage. Ich kündigte fristgemäß und verließ das Unternehmen. Aus der Traum, das Ende großer Hoffnungen und eigener Beteiligung.  Sechs Monate später, nachdem der Hauptgesellschafter die Geschäftsführung übernommen hatte, meldete die Gesellschaft  Konkurs an.

Meine Kündigung hatte für mich nicht vorhersehbare Folgen. Was sollte mir schon passieren, dachte ich im Bewusstsein hoher Qualifikation mit besten Zeugnissen. Zurück in die Holzwerkstoffindustrie war mein erster Gedanke. Ich wusste, dass mir hier die Türen offen standen. Aber als „Heimkehrer“ war in den Augen vieler Kollegen ein scheinbares Versagen zu offensichtlich. Das wäre keine gute Hypothek für den neuen Anfang, dachte ich. Also versuchte ich  vorübergehend eine Existenz als freier Handelsvertreter, da mir aufgrund  guter Marktkenntnisse und Kundenverbindungen interessante Werksvertretungen in Aussicht gestellt worden waren.  Nein, daraus wurde nichts, keine freien Handelsvertreter entschied die Geschäftsleitung dieser Unternehmen nach monatelangem Hinhalten. Also schrieb ich Bewerbungen und wurde zu interessanten Gesprächen geladen.

Überqualifiziert, 2. Wahl, branchenfremd waren die offenen Worte in freundlichen Unterredungen. Langsam beschlich mich ein beklemmendes Gefühl, während ich morgens Brötchen holte und alle anderen  Menschen ihrer Arbeit nachgingen. Doch bald erhielt ich den Anruf eines ehemaligen Kollegen, der schon vorher vergeblich versucht hatte, mich abzuwerben und für eine neue Aufgabe zu interessieren. Das Vorstellungsgespräch verlief positiv, das angebotene Einkommen war ein Wermutstropfen, die Hälfte meiner vorherigen Bezüge.

Aber, wie lange wollte ich noch warten? Die Kosten für den Unterhalt meiner Tochter und die Familie, sowie für das Internat liefen weiter und das Kreditlimit bei meiner Bank war bald erreicht. Nun hatte ich wieder eine Aufgabe. Ich konnte und musste meine Fähigkeiten durch Erfolg unter Beweis stellen, um für meine Familie und mich den Lebensunterhalt zu sichern.

 6.     Die GmbH & Co,  solide Familientradition

Die neue Firma war ein Inhaber geführtes Unternehmen. Eigentlich hatte ich mir geschworen, nie wieder in ein Inhaber geführtes Unternehmen einzutreten, da ich mich an die unsteten Entscheidungen und die Streitigkeiten der Familienmitglieder, die Leitungspositionen bekleideten,  in anderen Unternehmen erinnerte. Aber hier, das sei gleich gesagt, wurde ich eines Besseren belehrt. Vorausschauende Planungen,  Verlässliche Entscheidungen und  fast emotionsfreie Besprechungen sorgten für ein gutes Arbeitsklima. Mein neues Arbeitsgebiet war der Ladenbau. Es dauerte mehrere  Monate bis ich in dem für mich neuen Markt, die Usancen und Leistungen der Anbieter und die besonderen Interessen der Kunden erkundet hatte. Nachdem ich die ersten neuen Läden, Referenzobjekte, aus der Taufe gehoben hatte, war das Eis gebrochen. Bald schon wurde ich Abteilungsleiter und erhielt einen großen Entscheidungs- und Ermessensspielraum.

Aber auch in dieser Branche herrschte ein reger Wettbewerb. Der Marktführer in diesem Marktsegment  baute wunderbare Fleischereien, Bäckereien und Feinkostläden in aufwändiger bäuerlicher Fachwerkoptik, die eine Verbindung zu den handwerklich hergestellten Produkten assoziierten  Ich war beeindruckt.  Das zu leisten, war mit eigenen Mitteln, den Fachkräften und dem Maschinenpark nicht möglich. Also verkaufte ich nach Auflösung der Tischlerei den Maschinenpark und suchte  Innenausbau Unternehmen, die diese Arbeiten nach den Entwürfen der begabten Zeichnerinnen meiner Abteilung fertigen konnten. Da das Unternehmen, in dem ich arbeitete, sich mit dem Anlagenbau, Fleischereimaschinen und Bedarf  einen guten Ruf erworben hatte, konnte ich die bestehenden Geschäftsverbindungen und die hervorragende Technik des bewährten Anlagenbaues nutzen. Der Schwerpunkt dieser Firma lag jedoch nicht im Ladenbau, und das war für unsere Wettbewerber, reine Ladenbauer, immer ein zündendes Gegenargument in den Verkaufsgesprächen. Sie waren die Spezialisten.

Nun galt es Flagge zeigen. Ich ließ durch inzwischen eingestellte Innenarchitekten in Zusammenarbeit mit den tüchtigen Bauzeichnerinnen  ein neues Design erarbeiten, um wieder ein unverwechselbares Alleinstellungsmerkmal zu schaffen. Damit fiel die Kaufentscheidung weniger über den Preis, sondern über die Akzeptanz des Designs. Und da die Fachwerkoptik überall vertreten war, wollten wir im Innenausbau  Glas und Stahl bevorzugt einsetzen. Damit sollte sowohl Hygiene als auch Modernität assoziiert werden. Das war etwas für die junge Generation unserer Kunden, die neue Ideen suchte und sich zu den Kollegen im gleichen Ort durch ein neues Erscheinungsbild abgrenzen wollte.

Durch meine Initiative zur Einführung von  PCs und CAD-Systemen, konnten Kosten gesenkt und Entwürfe schneller umgesetzt werden, ein Präsentationsvorsprung. Wir hatten Erfolg. Im Gegensatz zu der Arbeit, wie ich sie in anderen Unternehmen erfahren hatte, war hier eine richtig gute Teamarbeit entstanden. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, vorwiegend junge Bauzeichnerinnen waren hervorragend qualifiziert und hochmotiviert. Sie leisteten eine hervorragende Arbeit. Das Auftreten dieser jungen Menschen unterschied sich deutlich von den Sekretärinnen und Kolleginnen in den Unternehmen früherer Jahre und vermittelte ein anderes, selbstbewusstes Frauenbild.

Wirklich überrascht war ich aber, als mir unser größter Wettbewerber, der Marktführer, eine Zusammenarbeit anbot. Der Markt war enger geworden. Durch die vielen Fleischskandale hatte sich das Verbraucherverhalten geändert und das schlug sich auch in den Umsätzen und Erträgen der Kunden nieder. Eine Zusammenarbeit mit Kundenschutz für die Mitarbeiter im Außendienst beider Unternehmen, war das möglich?

Es kam vorübergehend zu einer Zusammenarbeit mit dem Branchenprimus. Ich wollte mehr über die Produkte, Technik, Preisgestaltung und die legendäre Verkäuferschulung dieser Firma kennen lernen. Und tatsächlich, nach kurzer Zeit verfügte ich über das gewünschte Wissen, das in der These gipfelte „Erfolge sind machbar!“ Es war schon eine eingeschworene Gemeinschaft, die da mit perfekter Rhetorik, aber auch überzeugender Arbeit die  hochpreisigen  Einrichtungen mit Erfolg an den Mann brachte, oft aber auch mit beachtlichen Nachlässen in diesem kleiner gewordenen hart umkämpften Markt, gekennzeichnet durch Übernahmen und sich abzeichnende Konkurse.  Wie lange konnte das gut gehen, dachte ich, als die Zusammenarbeit beendet wurde. Doch dann begann der Boom im Osten Deutschlands.

Wenige Wochen nach Öffnung der innerdeutschen Grenzen bekam ich über den Kontakt eines Geschäftsfreundes eine Einladung nach Dresden. Wir wurden von dem Inhaber einer Schlachterei sehr freundlich empfangen und in seinem Privathaus beherbergt. Nachdem wir seinen Betrieb besichtigt hatten, gab es einen aufschlussreichen Gedankenaustausch und ein Fachgespräch über die voraussichtliche Entwicklung beider deutscher Staaten und die Auswirkungen und Anforderungen für seinen Gewerbebetrieb.

Das was wir gesehen hatten, entsprach dem ersten Eindruck nach Überqueren der Grenze. Hier war die Zeit vor 50 Jahren stehen geblieben. Und tatsächlich, im Maschinenpark befanden sich noch einzelne Vorkriegsmodelle, gut gepflegt aus den 30er Jahren. Und die VEB-produzierte neuere Einrichtung konnte nicht mit den modernen Maschinen westdeutscher Produktion konkurrieren. Der Hygienestandard im Betrieb mit vielen ungekachelten Wänden hätte im Westen Deutschlands zu einer sofortigen Betriebsschließung geführt. Aus dem Blickwinkel einer Wettbewerbsgesellschaft, die Rationalität auf ihre Fahnen geschrieben hatte, um in kürzester Zeit mit geringstem Aufwand die größte Menge qualitativ hochwertiger Waren zu produzieren, war die Bestandsaufnahme vernichtend. Hier wurde mit einem viel zu großem Arbeitseinsatz unter schwierigen, für unsere Begriffe auch unzumutbaren Arbeitsbedingungen produziert.

Doch das aufgeschlossene  Gespräch und die großzügige Bewirtung mit erlesenen Köstlichkeiten aus der eigenen Produktion vermittelte uns einen anderen Eindruck. Es gab offensichtlich keine Absatzsorgen. Die Geschäfte liefen kurz nach der Wiedervereinigung gut und die scheinbar hier unbekannten Methoden des modernen Marketing hatten noch nicht zu dem Verdrängungswettbewerb westlicher Konsumgesellschaften geführt. Nun es war ein kleiner Betrieb, aber ein transparentes Beispiel selbständigen Handelns. In dieser Branche keineswegs eine Ausnahme.

Zurückgekommen empfahl ich meiner Geschäftsleitung die sich abzeichnenden Möglichkeiten zu nutzen. „Es mag ja sein, das Bedarf da ist, aber im Osten fehlt das Geld für Investitionen,“ war der Einwand, um die Entwicklung abzuwarten. „Sie werden sehen,“ antwortete ich den Geschäftsführern. „Auch der Wiederaufbau bei uns wurde mit Krediten finanziert, für die Investitionen gab es Staatszuschüsse und für Investoren wurden interessante steuerliche Anreize geschaffen. Genau das werden wir auch hier erleben.“ Und so geschah es. Nach kurzer Zeit wurden in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt Niederlassungen  eröffnet, um der steigenden Nachfrage begegnen zu können.

Die vielen Besuche in Ostdeutschland und die Vermittlung der Markt- und Produktkenntnisse an meine neuen ostdeutschen Mitarbeiter und Kollegen waren ganz besondere Ereignisse meiner beruflichen Tätigkeit. Ich war überrascht, mit welcher Aufgeschlossenheit und Lernfähigkeit sie sich den völlig neuen Herausforderungen anpassten. Kein Wunder dachte ich, mit den knappen Ressourcen und staatlicher Reglementierung in der Zeit vor der Wende, war es nötig, den Erfindungsreichtum eigener Talente zu nutzen. So schienen sie gut gerüstet für die neue Zeit.

Die neue Zeit, blühende Landschaften hatte der Kanzler versprochen, war eine Zeit hektischer Betriebsamkeit, langer Gespräche und Autofahrten. Im Westen konfrontiert mit den wachsenden Ansprüchen eines außerordentlich kritischen, preisbewussten Kundenkreises in einem schrumpfenden Markt und im Osten lange Fahrten, die der Mühe lohnten.  Eine Kommunikation mit der  Firma oder nach Hause war nur selten möglich. Telefonverbindungen und Übernachtungen waren oft Glückssache. Ein völlig neues Lebensgefühl spartanischer Anspruchslosigkeit stellte sich vorübergehend bei mir ein.  Aber die Menschen, die so viele Fragen hatten und mit großer Freude und Enthusiasmus ihre Existenz für die Zukunft sichern wollten, entschädigten mich mit besonderer Gastfreundlichkeit für die vielen Abendstunden und ungewohnten Strapazen. Sorgen bereiteten mir die vielen Unfälle auf den schlechten und holprigen Straßen. Die Frage an meinen ostdeutschen Kollegen nach dem Rettungsdienst beantwortete er lachend: „Wenn Sie den Transport überstehen, haben Sie schon fast überlebt.“ 

Doch bald war auch hier der Wettbewerb eingekehrt. Mit unseren Konzepten, ohne die im Westen üblichen vielfach übertriebenen Warenpräsentationen, waren wir erfolgreich. Seit Beginn unserer Aktivitäten im Osten orientierte sich unsere Preisbildung an dem im Westen unter Wettbewerbsbedingungen erzielten niedrigen Preisniveau. Das sprach sich schnell herum und begründete das Vertrauen in unsere Solidität und Leistung.

Die Zeit war wie im Fluge vergangen. Ich war 60 Jahre alt geworden, und  mir wurde bewusst, dass sich mein Berufsleben dem Ende zu neigte. Doch wie viel Lebenszeit blieb mir danach? Ich wollte den Ausstieg langsam vorbereiten und beschloss, den Übergang in das Privatleben durch Reduzierung meiner Arbeitszeit und entsprechende Kürzung meiner Bezüge auf 3 Arbeitstage in der Woche zu begrenzen. Einen ähnlichen Vorschlag hatte ich meiner Geschäftsleitung 2 Jahre zuvor schon unterbreitet, fand aber keine Zustimmung. „Wir brauchen Sie,“ hörte ich. Nun, bei  veränderter Marktlage galt es „Kosten senken“, und darum einigten wir uns schnell auf eine neue Arbeitszeit.

In der Fleischwirtschaft hatte die BSE-Krise weitere Absatzeinbußen zur Folge. Viele Ladenbauunternehmen mussten aufgeben. Der Marktführer, der sich vorher einige Wettbewerber einverleibt hatte,  meldete Konkurs an.  Auch im Osten  Deutschlands hatte sich ein Strukturwandel vollzogen. Kleine örtliche Fleischereien mussten den großen sich aus Westdeutschland ausbreitenden Supermarktketten weichen.  Und auch die größeren von uns eingerichteten Feinkostgeschäfte mit ihren Spezialabteilungen fanden immer weniger Kunden. Die Zeit der Euphorie wich nüchterner Erkenntnis. Jetzt herrschte auch hier bei unseren Kunden ein starker Verdrängungswettbewerb. „Unrentable“  Produktionen wurden geschlossen und ganze Belegschaften freigesetzt. Das war an den Umsätzen der Kunden ablesbar, die nicht mehr in der Lage waren, weitere Filialen zu eröffnen und neue Läden zu bauen.

Damit waren aber auch die Arbeitsplätze meiner ostdeutschen Mitarbeiter infrage gestellt und ich musste reagieren. Die Geschäftsleitung, die mich ständig mit den Kosten und der rückläufigen Tendenz konfrontierte, fürchtete durch Kündigungen  einen Imageverlust auch für andere Abteilungen des Unternehmens, die ebenfalls  in Ostdeutschland tätig waren  und entschloss  sich nur zögernd dazu die Arbeitsverhältnisse zu beenden. Zwei Jahre später habe auch ich  aufgrund der weiterhin schlechten  Geschäftsentwicklung im Ladenbau meine Arbeit beendet. Ein sanfter Absturz nach 45 Jahren Berufstätigkeit und Erreichung der Altersgrenze.

Gesellschaftliches

Das Reaktorunglück in Tschernobyl 1985 verschärfte die Debatte um die Atomenergie und führte nach den vorausgegangenen Parolen der Friedensbewegung „Kampf dem Atomtod“ nun zu Aufrufen wie „ Kernkraft nein Danke“ Die Folgen dieses Reaktorunfalls berührten in einem nie vermuteten Maß die Bürger ganz direkt. War doch der Genuss von Wild, Pilzen und Waldbeeren auch aus heimischen Anbaugebieten plötzlich mit hohen Risiken verbunden. Diskussionen und Demonstrationen um die Endlagerung zeigten einmal mehr, wie gespalten die Interessen in dieser Gesellschaft waren.

Den Wandel in Polen und später in der UDSSR durch die Reformpolitik Gorbatschows hatte ich aufmerksam verfolgt. Die Protestbewegungen in Ostdeutschland machte mir sehr deutlich klar, dass sich nach den anderen Ostblockstaaten auch in der DDR ein Wandel anbahnte. Im Juli 1989 führte mich ein Besuch in das Grenzgebiet am hohen Meißner. „Sie werden sehen, in kurzer Zeit wird diese Grenze Geschichte sein.“ sagte ich zu einem Kunden. Und tatsächlich, wenige Monate später, nach Öffnung der Grenzen, konnten wir die Begeisterung der Menschen kaum fassen. Es fehlen die Worte, um all die Szenen zu beschreiben, welche dieses Bild der Wiedervereinigung tief in mein Gedächtnis prägten. Wieder ein geeintes Deutschland. Städtenamen und Regionen wurden genannt und erinnerten mich an meine Schulzeit in den 40er Jahren und an den stets latenten Wunsch, diesen Teil meines Vaterlandes einmal besuchen zu können.

So machte ich mich auf, um zuerst Weimar, die Geburtsstadt und Wirkungsstätte der großen Deutschen Dichter zu besuchen.  Die Zeit schien stehen geblieben zu sein als ich in der Ferne die Silhouetten und die ziegelroten Dächer der Dörfer in der hügeligen Landschaft Thüringens sah. Im Jahr 1943 irrten wir Bombenflüchtlinge aus Hamburg mit unserem Zug nach Nirgendwo durch Thüringen, bis wir schließlich Straubing in Niederbayern erreichten.  Vielleicht erinnerte ich mich an diese Fahrt. Der Eindruck einer Zeitverschiebung  verstärkte sich, als ich Berge von Kohlen und Briketts vor den Häusern im Zentrum der kleinen Stadt sah. Keine Ölheizungen dachte ich an diesem dunklen, regnerischen Tag, während der ungewohnte Geruch aus den Auspufftöpfen der Zweitakter in den oft stundenlangen Staus meine ungeübten Nasenschleimhäute reizte. Doch die Begegnung mit dem Lebensraum  Goethes und Schillers und des Nationalmuseums haben mich für die mühevolle Tagesfahrt reichlich entschädigt. Nie hätte ich gedacht, diesen Tag erleben zu können.

Meine späteren Reisen nach Ostdeutschland waren anfangs durch die abenteuerliche Suche nach Hotels und Tankstellen  gekennzeichnet. Ansprüche waren da nicht zu stellen und nur selten war es möglich, telefonisch Verbindung zur Firma oder der Familie aufzunehmen. Immer wieder war ich erstaunt, als ich die alten Stadtkerne der kleinen Städte sah. Hier war viel verfallende Bausubstanz zu sehen, aber die wunderschönen alten Stadtbilder waren erhalten geblieben. Manchmal wurde dieses Bild durch die zum Denkmal mutierten Panzer als Erinnerung an den Sieg der roten Armee merkwürdig konterkariert. Wie wunderbar wäre es, diese alten Häuser zu restaurieren und das Stadtbild durch Fußgängerzonen zu beleben. Bei uns im Westen wurde mir jetzt bewusst, waren viele dieser alten Strukturen in der Aufbauphase und auch danach einem trendigen Erneuerungswillen zu betonierter Modernität zum Opfer gefallen.

Viele  Menschen, die mir begegneten, waren sehr hilfsbereit und wissbegierig. Sie suchten nach Gelegenheiten  zum Aufbau einer eigenen Existenz. Alles schien in dieser neuen Welt möglich. Und so rieb ich mir die Augen als bei Dorfdurchfahrten plötzlich unterschiedlichste Schilder und Hinweise auftauchten „Wagenwäsche, Eis, Imbiss oder Erotikartikel“ Die Wagenwäsche mit dem Gartenschlauch im Vorgarten, das Eis aus zwei kleinen Gefriertruhen im Hausflur und die Tasse Kaffee mit hausgebackenem Kuchen auf einem Campingtisch in der Hauseinfahrt. Mich hat dieser  naive Glauben an die „Marktwirtschaft“ überrascht.  Ich wusste, dass sich das Straßenbild bald ändern würde.

Nach ein paar Jahren sah ich in Bleicherode die Streikposten vor dem Kaliwerk, welches von einer Schließung bedroht war. Über Wochen verfolgte ich das langsame Sterben dieses Unternehmens, verbunden mit dem heftigen Widerstand der Belegschaft. Langsam wurde mir klar, dass viele Menschen Ihre Existenzgrundlage durch die „neue Zeit“ verlieren würden. Wieder kündigte sich ein Wandel an, der in seinem ganzen Ausmaß noch nicht zu erkennen war. Viele Menschen verloren die Grundlage ihres bisherigen Schaffens und die Hoffnungen, die mit der neuen Freiheit verbunden waren. Mich hat das Schicksal dieser Menschen tief bewegt. Es war nur ein Beispiel großer Umwälzungen, die in der Dokumentation geschichtlicher Daten menschliche Konflikte lapidar unterschlagen.

 Heute finde ich folgenden Eintrag im Internet unter  www.Bleicherode.de - das Kaliwerk stellte die Produktion ein -