Zeitzeugenberichte - geteiltes Deutschland -

 

Michael                                                                                                                                       21.09.2005

Biografische Stationen eines Westdeutschen.
Berührungen / Begegnungen mit  DDR-Bürgern und ihren „Staatsorganen“ 
 

Ich habe nie in der DDR gelebt und hatte auch keine Verwandten dort, aber wie viele Bürger aus Westdeutschland habe ich zahlreiche Kontakte mit Bürgern der DDR und Berührungen mit den „Staatsorganen“ der DDR gehabt; die politische und Alltagsrealität der DDR hat mich immer ausserordentlich interessiert – ich will im folgenden versuchen, in Form von Schilderungen und Episoden deutlich zu machen, wie ich diese im Rahmen beruflicher und privater Reisen erlebt habe.  

Übergang Bahnhof Friedrichstrasse  – das unterirdische Labyrinth 

Während meines Studium Anfang der Sechziger Jahre war ich Referent für Politische Bildung im Allgemeinen Studentenausschuss einer westdeutschen Hochschule. Ich organisierte in dieser Eigenschaft politische Bildungsveranstaltungen und auch die damals nach dem Mauerbau von Staats wegen sehr geförderten Berlin-Reisen und hatte in Berlin dabei die Rolle des Reiseleiters. Selber hatte ich keine Bekannten und Verwandten in Berlin und nahm deswegen viele Gelegenheiten wahr, Mitglieder meiner Reisegruppen zu begleiten, wenn die bei Tagesbesuchen in Ostberlin Bekannte und Verwandte trafen. Und so lernte ich viele Menschen und Wohnungen kennen und erhielt tiefe Einblicke in den Alltag von DDR-Bürgern. Ich liess keine Gelegenheit aus, die sich bot, um das Brecht-Theater am Schiffbauerdamm oder Kabarettaufführung der Distel in Ostberlin zu besuchen. Natürlich war dies immer verbunden mit  zeitraubenden Prozeduren, um in den Kellergängen unter dem Bahnhof Friedrichstrasse an den Passierschein zu kommen. Die Menschen standen dort in langen Schlangen, es roch immer unangenehm nach Desinfektionsmitteln, wenn wir auf die Nummernaufrufe der Volkspolizisten warteten. Bei der Rückkehr nach Westberlin, meist am späten Abend bis Mitternacht, gab es dort manche unangenehme Befragungen in gesonderten Räumen in diesem unterirdischen Labyrinth. Meiner zukünftigen Frau war einmal in einem Ostberliner Cafe der Passierschein aus der Manteltasche gestohlen worden. Sie hatte bei am Grenzübergang Friedrichstrasse  Rückkehr einiges durchzustehen, bis sie nach Mitternacht wieder nach Westberlin fahren durfte. Die Übergänge Sonnen- und Bornholmerstrasse waren nicht so frequentiert, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht so gut zu erreichen, deswegen habe ich diese seltener benutzt. Mir erging es wie vielen anderen, die schweigsamen und wenig freundlichen Uniformierten sowie diese kellerartigen düsteren Gänge verursachten beklemmende Gefühle, insbesondere bei der abendlichen Rückkehr. Immer wieder als Fragen und Gedanken: Was habe ich heute zu verbergen? Was ist, wenn ich gefragt werden, wen ich besucht habe? Bringe ich Ostberliner Bekannte in Gefahr, wenn ich nach deren Namen preisgebe? Oder soll ich einfach behaupten, ich hätte nur einen Stadtbummel gemacht? 

Fluchthilfe für DDR-Bürger – riskante Aktivitäten 

Im Zeitraum 1963 bis 1964 war ich in Berlin Kurier einer Fluchthilfeorganisation. Da ich einen westdeutschen Pass besass, konnte ich problemlos regelmässig Tagesreisen von West- nach Ostberlin machen, was den Berlinern selber damals in dieser Form nicht mehr möglich gewesen ist. Auch war ich mit der Stadt Ostberlin sowie seinen Vororten und Verkehrsmöglichkeiten gut vertraut. Meine Aufgabe war es, Verbindungen mit fluchtwilligen DDR-Bürgern aufzunehmen und sie vor ihrer Flucht entsprechend zu instruieren über das, was sie zu tun hatten, bzw. sie zum Abgangspunkt beim heimlichen Verlassen der DDR zu geleiten. Auf diese Weise tauchte ich wiederum tief ein in Lebenssituationen von Menschen, die in Ostberlin und deren Angehörige im Westdeutschland lebten und bereit waren, eine Flucht zu finanzieren. Diese DDR-Bürger waren grösstenteils sehr traurig und verzweifelt, hatten schon viel durchgestanden, verliessen aber auch in der Regel  nur sehr ungern ihre Heimat und ihre Angehörigen. Nicht alle haben letztlich die Angebote für eine Flucht angenommen, die ich ihnen überbrachte. 

Ich wohnte meistens bei Familien in Westberlin, die selber die DDR verlassen hatten oder ausgeschleust worden waren. Bei einer fehlte seit Jahren der Vater, bei dessen  Flucht ich dann gerne behilflich gewesen bin. Als dieser dann a Sommer 1963 nach Westberlin kam, fiel mir auf, dass er so still war, kaum etwas sagte und sich anfänglich schwer tat, mit dem Alltag hier zurecht zu kommen. Allmählich begriff ich dann, was damals  es bedeuteten konnten, binnen weniger Stunden aus der DDR nach Westberlin umzusiedeln. 

Zum einen gab es die „Transit-Tour“, das heisst, die Betreffenden mussten auf einem Parkplatz an der Transitautobahn Berlin-Hannover oder Berlin-Hamburg in einen Lastwagen in ein Versteck einsteigen, zum andern gab es Tunnelverbindungen von Ost- nach Westberlin. Natürlich hatten die fluchtwilligen DDR-Bürger Angst, vor oder während der Durchführung verhaftet zu werden. Aber auch ich hatte, je länger ich dabei war, immer mehr Befürchtungen, von der Stasi beobachtet und gefasst zu werden, denn es konnte ja auch passieren, dass ein Fluchtwilliger mich, Treffpunkte und – zeiten verriet. Als dann tatsächlich eine von mir betreute Ostberliner Ärztin Stasi-Besuch erhielt und auf meine Besuche hin angesprochen wurde, brach ich diese Aktivitäten ab, nicht ohne diese bei meinem letzten Besuch in Ostberlin auszuschleusen. Auch hatte es in der Zwischenzeit erste Prozesse in der DDR gegeben, in denen Fluchthelfer zu mehrjährigen Zuchthaus-Strafen verurteilt worden waren. Mein Idealismus verflog zunehmend, wenn ich daran dachte, was es bedeuten könnte, in Rummelsburg oder Bautzen einzusitzen. 

Auch war es mir inzwischen unbehaglich geworden, weil die von den Angehörigen der flüchtenden DDR-Bürger zu zahlenden Gebühren  in die Höhe gingen – 2004 gingen die Preise auf vier- bis fünftausend Mark. Ich hatte zwar immer meine Auslagen erstattet bekommen, mehr wollte ich nicht Aber mir war nicht mehr einsichtig, wer da eigentlich den Gewinn machte. Entwickelte sich Fluchthilfe inzwischen vielleicht in Westberlin zu einem lukrativen Geschäftszweig – wie in den Medien der DDR behauptet? 

In den Folgejahren habe ich dann aus Sicherheitsgründen zwischen Berlin und Westdeutschland nur den Luftweg benutzt, bin also zwischen Hamburg und Berlin und umgekehrt geflogen; erst in den Achtziger Jahren wieder die Transitautobahnen oder die Bahn. 

25 Jahre DDR – eingeladen als „Freund aus Westdeutschland“ 

Meine Frau und ich im Frühjahr des Jahres 1984 eine Einladung nach Rostock zu den Feierlichkeiten anlässlich des 25.Jahrestages des Bestehens der DDR. Wir waren einfach neugierig auf die DDR und Rostock und nahmen diese Einladung an, ohne uns klarzumachen, das man uns in diesem Rahmen als Sympathisanten der DDR betrachten und behandeln würde, die wir damals absolut nicht waren. 

Schon bei der Einreise aus Richtung Hamburg bekamen wir vom westdeutschen Grenzbeamten zu hören: „Na, dann viel Spass beim Jubeln!“ Da wurde uns schon zum ersten mal klar, als war wir angesehen wurden. In Rostock wurden wir immer wieder in das „Gastmahl des Meeres“ zum Essen eingeladen, einer Fischgaststätte von hohem Niveau. Immer wieder mussten wir Fisch essen und das reichlich, denn unsere Gastgeber waren doch so stolz auf dieses Restaurant. Der Parteisekretär des Rates des Kreises, der uns  betreute, schien so unendlich stolz über alles, was er uns zeigte: die neuen Plattenbauten, die neue Schnellstrasse– lauter Bauten, die wir garnicht  eindrucksvoll fanden. 

Wir konnten in einer Schule hospitieren und fanden diesen Vorführunterricht kaum schülerorientiert, sondern sehr straff und nahezu militärisch diszipliniert. Eine sehr peinliche Situation entstand, als wir mit einem Lehrerkollegium diskutierten und auf meine Frage, ob es es Dinge oder Strömungen im westdeutschen Schulsystem gäbe, welche für sinnvoll gehalten würde, ein Mann, der nicht zum Kollegium gehörte, sondern zur örtlichen Parteileitung, laut in den Raum schrie: Über die Elbe komme von Westen nur eine schmutzige Flut von Sex und Drogen. Und dagegen müsse man sich wehren. Kurzum: Unsere Beurteilungsmasstäbe waren bei weitem nicht die, wie unsere Gastgeber unterstellten. Und so entstanden immer wieder Missverständnisse und beklemmende Situationen; die „Freunde aus Westdeutschland“ erwiesen gar nicht als so solidarisch mit der DDR und den zu feiernden Erfolgen, wie es wohl erwartet worden war.

Noch ein Beispiel für eine Situation im Umgang mit jungen Funktionären. In Kühlungsborn gab es an dem eigentlichen Feiertag eine Aussprache mit FDJ-Funktionären, bei der wir sehr viel Propaganda-Sprache anzuhören hatten. Als es einmal hiess: Hier in der DDR ist jeder Stapellauf eines Schiffes ein Sieg für den Frieden und Beitrag zur Völkerfreundschaft!  konnte ich mich nicht enthalten, zu sagen: Ein Schiff, das in meiner Heimatstadt Hamburg vom Stapel läuft,  hat mit Sieg und Frieden nichts zu tun! Mir schien, dass unsere Gesprächspartner nicht verstehen wollten oder konnten, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte, nämlich meine Kritik daran, das ganz normale Fakten und Ereignisse hier in diesen Tagen als politisch begründete Besonderheiten herausgestellt wurden. Ihre Entgegnung lautete prompt, das geschehe ja auch in Werften kapitalistischer Konzerne – und das sei ja ganz was anderes. Ich begriff an diesem Vormittag in Kühlungsborn, dass an diesem Tag eine Verständigung zwischen uns als ideologie-kritischen Bürgern der BRD und Bürgern der DDR, die ein Staatsjubiläum feiern wollten,  nicht gegeben war.

Untergebracht waren wir in einem Gästehaus unmittelbar an der Ostsee, dessen Grundstück unmittelbar an eines der Gästehäuser der DDR-Regierung lag. Was da an Absperrungen, Wachen und nächtlichen Scheinwerfern am Strand, welche weitflächig die Wasserfläche ableuchteten,  zum Vorschein kam, hat uns geschockt. Es entwickelte sich da ein unheimliches Gefühl, gerade bei abendlichen Spaziergängen, nämlich völlig abgeschottet und eingesperrt zu sein.

In einem Gespräch beim Essen versuchte unser Betreuer mich in meiner Eigenschaft als Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg dafür zu gewinnen, herauszufinden, in welchem Masse politische Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland Doktorarbeiten in der Zeit des Nationalsozialismus geschrieben hätten, die ideologisch ausgerichtet waren. Ich habe diese Anfrage, die erkennbar als „Versuchsballon“ für Zuarbeit für das Ministerium des Innern der DDR gestartet worden und auch nur einmal erfolgt ist, einfach  ignoriert.

Auf der Rückfahrt sind wir, abgesichert durch eine Absprache mit unserem Betreuer in Rostock, von der Transit-Route abgewichen, um Schwerin zu besuchen, die Stadt, in der meine Frau ihre Jugend verbracht hatte, und aus der ihre Eltern 1945 ausgewiesen worden waren. Wir nahmen dabei zwei jungen Frauen als Tramperinnen mit, und wurden prompt von der Volkspolizei angehalten. Uns wurde bedeutet, Trampen sei doch auch in Westdeutschland verboten, und Abweichen von der Transitroute sowieso. Grosse Verblüffung, als wir erklärten, natürlich dürfe man in Westdeutschland trampen. Und das Abweichen von der Transit-Route sei mit unseren Betreuern in Rostock besprochen. Wir durften weiterfahren, sogar mit den beiden Tramperinnen, die uns in Schwerin, ihrer Heimatstadt, dann als Fremdenführerinnen dienten.

Wir waren als Angehörige des Öffentlichen Dienstes der Freien und Hansestadt Hamburg gehalten, uns nach dieser Reise als offizielle Gäste der DDR beim dortigen Verfassungsschutz zu melden; wir erhielten die Information, das unser Reisebetreuer auch die Funktion eines Offiziers im besonderen Einsatz der Staatssicherheit im Majorsrang inne hatte.

Camping an der Ostsee – Der Anfang vom Ende wird spürbar 

Als Besitzer eines Campingbullis hatte ich mir schon seit Jahren eine Reise mit diesem praktischen Fahrzeug an die Ostseeküste der DDR und Mecklenburg vorgenommen; ein Freund wollte mitkommen und die komplizierten Vorbereitungen begannen im Frühjahr 1989. Einer Dienststelle des Innenministeriums der DDR musste eine genaue Reiseroute vorgelegt werden, welche nur die sog Internationalen Campingplätze der DDR berührte. An keiner Stelle durften wir länger als zwei Nächte bleiben. Wir mussten schriftlich versichern, dass wir uns täglich bei der Volkspolizei melden würden. Und natürlich mussten für jeden Tag pro Personen 50 Westmark in 50 Ostmark zum Kurs 1:1 getauscht werden. Die Reise begann Ende August 1989 in Wismar und führte im weiteren nach Baabe auf Rügen. Das Wetter war sehr schön und wir wollten eigentlich nicht weiterreisen. Wir deuteten das vorsichtig bei der Volkspolizei in Stralsund an – und siehe da; uns wurde erklärt, wir müssten uns nicht weiter jeden Tag melden. Und der Leiter des Internationalen Campingplatzes auf Rügen ließ uns augenzwinkernd wissen, wir könnten ja länger bleiben – er würde uns nicht auf die offizielle Gästeliste setzen, wenn wir denn 10 Westmark am Tag bezahlen würden. Es ging auf einmal so locker zu – Tagesgespräch auf den Campingplätzen war nur das, was derzeit in Ungang geschah – dort wurden die Grenzen nach Deutschland für die DDR-Touristen geöffnet.

Immer, wenn wir mit geöffneter Seitentür in unserem Bulli saßen, kamen Gäste, die in der Nähe zelteten, fragten an, ob sie sich das Auto mal ansehen dürften. Und sobald das geschehen war, diskutierten wir ausführlich bei Kaffee und Tee über die politische Situation in der DDR. Es „rumorte“ buchstäblich; die Leute schimpften und waren aber auch voller Ängste in Bezug auf die Frage, wie es in ihrem Lande weitergehen sollte. Viele Hoffnungen wurden auf Gorbatschow gesetzt, der Anfang Oktober zur Feier des 40.Jahrestages in die DDR kommen würde.

Pornos an der Grenze – Lachen kann gefährlich sein!

Anfang Oktober, wenige Tage vor dem Besuch Gorbatschows zum 409.Jahrestag der Gründung der DDR, fuhren wir mit einer Reisegruppe zum Flughafen Berlin-Schönefeld, um von dort mit Aeroflot nach Leningrad, dem heutigen St.Petersburg, zu fliegen, um dann in die Bielefelder Partnerstadt Nowgorod weiterzureisen. Bei der Einreise in die DDR wurden wie üblich die Pässe kontrolliert, allerdings fand der Grenzer auch vorne beim Fahrer einige Porno-Hefte. Dieser erklärte, er habe den Bus, der mit einer Reisegruppe und einem anderen Fahrer einige Tag in Paris gewesen sei, erst am Morgen übernommen. Natürlich wurden die Porno-Hefte sofort konfisziert, worüber unter den Reiseteilnehmer Gelächter entstand und einige anzügliche Bemerkungen fielen. Die Mienen der Grenzer verfinsterten sich, und es wurde uns wegen „Einführung illegaler Druckerzeugnisse“ die Weiterreise verweigert.  So standen wir da und sahen zunehmend unsere Chancen schwinden, rechtzeitig das Flugzeug zu erreichen. Erst als unsere Reiseleitung bis zum diensthabenden Vorgesetzten vorzudringen vermochte und deutlich machen konnte, dass wir doch auf Wege zu der russischen Partnerstadt seien und eine formale Entschuldigung wegen der Porno-Hefte im Bus sowie der anzüglichen Bemerkungen von Mitgliedern der Reisegruppe vorbrachte, wurden wir abgefertigt, konnten weiterfahren und haben noch knapp unsere Aeroflot-Maschine erreicht.

Kontakte zur Friedensbewegung der DDR – Begegnung mit einem mutigen Pfarrer

Zwischen Berliner und Bielefelder Kirchengemeinden ergaben sich in den neunziger Jahren Kontakte; die Bielefelder fuhren nach Berlin-Marzahn und Hellersdorf. Meine Frau und ich suchten, weil in einer Bielefelder Ökumenischen Friedensgruppe aktiv waren, besonders die Beziehungen zu dortigen Friedensgruppen. Das gelang dann besonders gut, wenn wir mehrtägige Reisen machten und auch bei dortigen Gemeindemitgliedern, die in Friedensgruppen mitarbeiteten, wohnten. So konnten wir auch eingehende Gespräche mit einem Pfarrer führen, der davon erzählte, wie er in regelmässigen Abständen von der Staatssicherheit vorgeladen wurde, weil von seinen Gemeindemitgliedern ökologische Daten zur Wirtschaftsentwicklung in der DDR gesammelt bzw. dokumentiert wurden. Es hat mich sehr beeindruckt, dass er eine sehr genaue Vorstellung davon hatte, welche Spielräume im Rahmen der Kirche für diese Arbeit existierten und dass er fest entschlossen war, diese auszuloten. 

Untersuchungen am Grenzübergang – am besten den Mund halten! 

Was wir bei der Einreise von Westberlin nach Ostberlin mit unserem Campingbulli regelmässig erlebten, wurde mit der Zeit belustigend, aber auch ärgerlich. Die Grenzbeamten, mit diesem Fahrzeugtyp wohl nicht sonderlich vertraut, untersuchten dieses Fahrzeug beim Übergang von Ost- nach Westberlin immer ausserordentlich gründlich, wobei sie natürlich meine Mithilfe benötigten, weil nur ich wusste, wie diese und jene Polster umzuklappen oder Schränke und Fächer zu öffnen waren. Also stand ich im Auto und musste die zahlreichen Anweisungen der Grenzer umsetzen. Ich musste dabei sehr an mich halten, um keine ironisch-spöttischen Kommentare abzugeben, denn es war ganz klar, worum es ging: um die Suche nach versteckten DDR-Bewohnern. Als denn diese sogar im Motorraum im Heck gesucht wurden und ich die Motorklappe aufschliessen musste, habe ich schon freundlich darauf hingewiesen, dass dieses Auto seinen Motor hinten hinter dieser Klappe hätte, und ich verstände nicht, warum der Motorraum untersucht werden müsse.  – ich konnte es dieses Mal nicht lassen. Und prompt wurde ich mit eisiger Stimme darüber belehrt, dass die Staatsorgane auf dem Hoheitsgebiet der DDR hier an der Grenze ihre Souveränität praktizierten. Und prompt wurde der Motorraum gründlich mit der Taschenlampe ausgeleuchtet. Mit der Zeit musste ich meine Frau vor diesen Prozeduren regelmässig ermahnen, ihren Unmut nicht in ärgerlichen Bemerkungen herauszulassen, was ihr sehr nahe lag – denn es war klar, wir würden dadurch nur Schwierigkeiten bekommen.

Die DDR im Übergang – eine Woche lang vor dem Schweriner Schloss 

Als es nach der Maueröffnung ganz klar wurde, dass Reisen in die damals noch bestehende DDR ohne weiter Formalitäten und Schwierigkeiten möglich waren, beschlossen meine Frau und ich, die Woche nach Weihnachten mit unseren Kindern in Schwerin zu verbringen. Ich kannte von der September-Reise den sehr schön gelegenen Campingplatz am Schweriner See; dort dachten wir mit unserem Bulli stehen zu können. Wir freuten uns, die Heimatstadt meiner Frau einmal in Ruhe und unbehindert von Formalitäten der Staatsorgane der DDR kennenlernen zu können. Es kam dann anders. Wir fanden einen sehr grossen Parkplatz unmittelbar am Park vor dem Schweriner Schloss vor, auf dem wir eine Woche stehen konnten; schlafen und kochen konnten wir ja im Auto. Und so erkundeten wir mit unseren  Kindern insbesondere die Altstadt von Schwerin, gingen immer wieder im Schlosspark spazieren, gingen mehrere Male ins Theater. Im Stadtbild fielen mir die vielen Angehörigen der Russischen Westarmee auf, die damals noch in Schwerin stationiert waren.

Einmal fassten wir uns einmal ein Herz und klingelten einfach an der Tür der Nachbarwohnung dort, wo meine Frau bis 1945 gewohnt hatte. Und es stellte sich heraus, dass dort immer noch ihr damaliger Spielkamerad  wohnte. Mit ihm und seiner Familie haben wir dann auch viel Zeit verbracht und uns auf Jahre angefreundet. Er war Ingenieur geworden, seine Frau arbeitete als Ärztin in einer Polyklinik. Sie besassen ein Bootshaus mit einer kleinen Ferienwohnung und Wassergarage mit Boot am Schweriner See; dort verbrachten wir auch manchen Nachmittag – später haben wir da auch einmal einen Urlaub verbracht. Auf beiden Seiten war grosse Neugier und wir hatten uns viel zu erzählen über unser Leben.

Einmal gingen wir in das Schlosscafe – sehr schön eingerichtet und mit passender Salon-Life-Musik. Wir gingen einfach hinein und setzten uns an einen leeren Tisch. Aber da hatten wir einen Faux-pas begangen, denn wir hätten draussen in einer Schlange warten müssen, bis uns Plätze zugewiesen wurden. Das war uns unverständlich gewesen, denn es waren durchgehend eine ganze Reihe Plätze frei. Aber Schlange-Stehen vor der Tür war trotzdem angesagt. Und diese Regel galt dann auch für andere Restaurants. In den Folgemonaten und – jahren waren wir noch mehrfach in Schwerin; diese Regel verlor in der Folgezeit ihre Bedeutung.

Nach der Wende – Aufbauhelfer und „Kolonialoffizier“ 

Im Jahr nach der Wende wurde ich gefragt, ob ich denn bereit wäre, für ein Jahr an einer ostdeutschen Universität Lehraufträge durchzuführen, nachdem dort erkennbar wurde, dass dort alle Professoren „abgewickelt“ und somit entlassen werden würden, weil alle in der Partei gewesen waren.  Und so kam es dann; Nach drei Wochentagen Bielefeld fuhr ich mit dem Zug nach Halle/Saale; das dauerte ursprünglich fast funf Stunden mit dem damals noch verkehrenden D-Zug; mit dem Einsatz der IC verkürzten sich die Zeiten allmählich. Und Freitag nachmittags ging es zurück ins Wochenende. Bei diesen regelmässigen Fahrten lernte ich viele kennen, die in Westdeutschland wohnten und die Woche über in Ostdeutschland arbeiteten; Verwaltungsbeamte, Geschäftsleute, Wissenschaftler Dadurch ergaben sich interessante Gespräche. Da waren aber auch die Malocher, wie wir sie nannten; deren Versammlungsort im Zug war eher der Bistro-Wagen, wo das Bier in Strömen floss und die Luft vor lauter Zigarettenqualm unerträglich wurde.

Die Kontaktaufnahme zu den Studierenden in den Seminaren erwies sich für mich als schwierig; ich merkte, dass da eine grosse Distanz und Reserviertheit vorhanden war. Freie Diskussionen war schwer herbeizuführen. Ich hatte den Eindruck, dass da niemand Risiken eingehen wollte und Angst vor Bewertung bestand. Weil mir das mit der Zeit überhaupt nicht gefiel, lud ich mehrfach Seminarteilnehmer nach Seminarsitzungen ins Cafe ein. Dabei lernte ich so manche Studierenden näher kennen, es wurde mir aber auch durch deren Schilderungen deutlich, dass fast alle Studierenden aufgrund ihrer straffen Stundenpläne kaum eine Chance hatten, solche Einladungen anzunehmen. Einmal fragten mich die Studierenden, ob sie denn nach Dienst-Antritt als Lehrer in den alten Bundesländern weiterhin Wohnungen von den Kommunen zugewiesen erhalten würden. Da wurde mir schlagartig klar, welche Erwartungen sich in der Zeit der DDR gebildet hatten. Einmal kam eine Gruppe von Lehramtsstudentinnen zu mir und erklärte, ich müsse nicht dauernd von „Studenten und Studentinnen“ oder „Lehrer und Lehrerinnen“ sprechen, sie alle verständen sich als „Studenten“ und wollten „Lehrer“ werden; das sei hier so üblich.

Eine Reihe von Kollegen, die nicht Professoren, aber doch auf Dauerstellen gewesen waren, blieben vorläufig im Dienst, und mit denen hatte ich viele Kontakte und Gespräche, aus denen ich viel über die dortige politische Situation aber auch fachliche Verunsicherung erfahren konnte. Allen war deutlich, dass ihre berufliche Zukunft völlig unsicher war, sie aber auch sich fachlich neu zu orientieren hatten.

Was mich verblüffte, war, dass es – zu der Zeit zumindest noch – vielfältige Möglichkeiten für mich gab, kostenlos in universitätseigenen Wohnungen und Hotels zu wohnen, die ihrerseits mit Hauswirtschaftsleiterinnen und Hausmeistern ausgestattet waren. Wenn mir berichtet wurde, dass die Universität in ihrem Stellplan über 220 Heizer verfüge, geriet ich doch ins Grübeln, ob diese Formen der Vollbeschäftigung Wirtschaftlichkeit sichern können.

Was mich nachdenklich stimmte und auch ärgerte, war die Tatsache, dass die vielen freiwerdenden Wissenschaftler-Stellen fas nur von jungen Leute aus den alten Bundesländern besetzt wurden; die fachlichen Inhalte und Qualifikationsstandards orientierten sich zunehmenden an denen der westdeutschen Wissenschaftsbetriebes. In den Berufungskommissionen sassen mit massgeblichen Anteilen westdeutsche Professoren, die bemüht waren, ihre Nachwuchskräfte auf interessante, gut dotierte Stellen zu hieven. In machen Gesprächen mit Einheimischen merkte ich, das mir unterstellt wurde, auch ich wolle, wenn auch Fünfzigjährig und durchaus zu einem Wechsel bereit, durch meinen Einsatz eine berufliche Karriere ermöglichen. Vielleicht war ich allzu blauäugig dorthin gegangen; aber die Rolle des „Kolonialoffiziers“ wollte ich nicht. Bald waren dann auch alle Stellen besetzt, und mein Einsatz war nicht mehr erforderlich. 

Bewertung der Erfahrungen aus heutige Sicht 

Die vorangegangenen Beschreibungen sollten deutlich machen, dass es viele biografischen Berührungen in meinem Leben mit den Menschen in der DDR, allerdings auch mit deren Institutionen gegeben hat. Immer war bei mir ein grosses Interesse, ich möchte es sogar als Neugier bezeichnen, was mich immer wieder veranlasst hat, auf privaten und beruflichen Feldern die Verbindung mit Menschen aus der DDR bzw. Ostdeutschland zu suchen. Die Risiken einer Fluchthilfe-Engagements bzw. des späteren Umgangs mit Funktionsträgern habe ich mir nicht immer hinreichend klar gemacht.

Seit 1990 verbringen meine Frau und ich, teilweise mit unseren Kindern, jeden Sommer in Mecklenburg-Vorpommern, insbesondere auf Rügen, unserer Lieblingsinsel. Natürlich stossen wir auch dort immer wieder auf „Spuren“ aus DDR-Zeiten, nicht nur in Form von Gebäuden, sondern auch im Erzählen der Einheimischen  von ihren Lebensproblemen früher und heute.

Ich stehe mit grosser Achtung vor den menschlichen Erfahrungen und Leistungen, respektiere aber auch die individuellen Wege und Strategien, mit denen DDR-Bürger zu DDR-Zeiten die Zeiten eines in meinen Augen autoritären kommunistischen Regimes zu überstehen hatten.

Als Sozialwissenschaftler waren und sind mir die geistigen und theoretischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus, auf welche sich die DDR berufen hat , im Detail vertraut.  Von heute her kann ich sagen, dass ich mit meinem Erfahrungen der rigiden formalen und sprachlichen Fassaden der damaligen DDR-„Staatsorgane“ ein Gespür dafür entwickeln konnte, dass die Ziele eines humanen Sozialismus in der DDR zwar proklamiert wurden, aber dass mit Absperrungen, Kontrollen und rigiden Systembedingungen im dortigen realen Sozialismus letztlich „kein Staat“ zu machen war. Wenn ich in diesem Text den Begriff Staatsorgane in Anführungsstriche gesetzt habe, dann deswegen, um mich von dem offiziellen Sprachgebrauch der DDR-Verwaltung sowie des Militärs und Volkspolizei ideologiekritisch zu distanzieren; die Vorstellung ein Volks bzw. Staats sei ein Organismus mit entsprechenden Organen ist eine staatstheoretische Konstruktion, die bereits vom Nationalsozialismus und anderen faschistischen Systemen gepflegt worden ist.