Zeitzeugenberichte - geteiltes Deutschland -

 

Evelyn

Grenzerfahrungen  - der 13. August 1961 -  (Mauerbau)

Der Besuch einer Schwiegermutter in einer jungen Ehe kann schon recht aufregend sein und bedarf mancher Vorbereitungen. Der Besuch einer Schwiegermutter am 12.August 19 61 aus Weimar über Ost- nach Westberlin und dann per Nachtflug von Tempelhof nach Hannover bedurfte längerer Vorbereitungen ganz besonderer Art.

Drei Jahre zuvor 1958 hatten mein damaliger Verlobter und ich Leipzig verlassen, "abgehauen" in den Westen. Wir hatten hier geheiratet, angefangen eine eigene Existenz aufzubauen, 2 Kinder bekommen – unser Sohn war gut ein Jahr, unsere kleine Tochter 4 Wochen alt. Alle Verbindungen zu unseren Angehörigen in Ostdeutschland konnten nur brieflich gehalten werden und es musste genau überlegt sein, was man schreiben durfte. Die Sehnsucht nach einem Wiedersehen wuchs auf beiden Seiten, jedoch wurden im Osten keine Besuchserlaubnisse zu Republikflüchtigen ausgestellt. Also musste nach anderen Wegen gesucht werden :Schlupfloch über Berlin. Meine Schwiegermutter traute sich – sie kannte sich bestens in Berlin aus, wie und wo die S-Bahn Ost- u. Westberlin passierte, hatte Verwandtschaft in Tempelhof, zu der wir ein Flugticket schickten.

Schon Wochen vorher musste abgestimmt werden, wie und wann alles ablaufen sollte. Die Informationen darüber konnten natürlich nicht auf normalen Wegen erfolgen. So nahmen wir ein Buch unverfänglichen Inhalts (Klassiker), klappten den Buchrücken kräftig an einigen Stellen auseinander, schrieben mit Bleistift die Nachrichten hinein und schickten es zu meiner Schwiegermutter. Einige Tage später folgte dann eine Karte mit dem Hinweis auf ein ganz besonderes Gedicht auf Seite x y..

So ging das hin und her über die deutsch/deutsche Grenze bis alles klar war. Diese besondere Art der Informationsübermittlung war schon bei unserer Ausreise von Ost nach West erfolgreich angewendet worden .

Der Abend des 12.August brach an .Unsere kleinen Kinder waren gut versorgt in Obhut einer Nachbarin .Voller Erwartung und Aufregung starteten wir von Dortmund mit unserem VW in Richtung Hannover. Mir selbst war ein bisschen angst und bange, weil ich meine Schwiegermutter nur von einigen Kurzbesuchen in Weimar kannte. Besorgniserregend waren allerdings die neuesten Nachrichten, dass sich in Berlin anscheinend etwas zusammenbraute – verschärfte Kontrollen von und nach Berlin, mehr Präsenz von Polizei und Militär. Mutter wollte schon einen Tag früher bei ihren Verwandten sein – ob alles klappen würde ?Ob sie es überhaupt bis Berlin und nach Hannover schaffte?

Die Sorgen machten uns auf der Autofahrt stumm, keiner wollte den anderen noch mehr belasten. Wie im Zeitraffertempo hatte ich die Bilder der letzten Jahre vor meinen Augen: Zwei glückliche Jahre Leipzig ,2mal jährlich internationales Flair der Messe, meine erste Arbeitsstelle als Kinderkrankenschwester in der Uni-Frauenklinik, eigenes selbstverdientes Geld, Thomanerchor , Konzerte im Weißen Saal am Zoo, Kahnfahrten am Stausee, kennen lernen eines jungen Architekten, Verlobung in Markkleeberg im schönsten Café der Gartenbauausstellung, Eintritt in eine Art Baugenossenschaft (AWG), um Anrecht auf eine Wohnung zu erwerben, 700 Stunden Arbeitsleistung.

Es schien alles geordnet auf bescheidenem Niveau, bis mein Verlobter plötzlich ohne sein Einverständnis vom einem Konstruktionsbüro als Abteilungsleiter ins Hochbauamt West in Leipzig versetzt wurde. Er konnte sich ausrechnen, wann er in die Partei eintreten müsste – und als Architekt wollte er bauen und nicht verwalten. Gründe genug die DDR zu verlassen, er ohne Nachricht an und Abschied von seiner Familie um sie nicht zu belasten, meine Angehörigen im Harz wussten Bescheid.

Ein Abschied für wie lange?

Und nun nach 3 Jahren der erste Besuch! Es war ein herzzerreißendes Wiedersehen – aber nicht nur bei uns. Alles war in heller Aufregung auf dem Flugplatz : Berlin sollte dichtgemacht werden, viele fühlten sich wie in einer Falle, wollten zurück oder waren froh, herausgekommen zu sein. Ein Hexenkessel! In der Rasttätte  Garbsen, weg von dem Trubel, bei einer Tasse Kaffee Mutters Entscheidung, ihre Enkel sehen zu wollen. Inzwischen war der 13.August angebrochen, die schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich: die DDR hatte ihre Grenze dicht gemacht !

Der ganze Besuch stand unter der schweren Belastung der politischen Situation und Mutters bange Frage: „Wie komme ich wieder rein in die DDR – wie von West- nach Ostberlin ? – was soll ich sagen, wo ich war?" Denn sie wollte unbedingt wieder zurück – die Mutter, drei Söhne, der Beruf – das alles konnte und wollte sie nicht aufgeben. Unsere kleine Familie mit ihren Wünschen trat vor diesen existentiellen Überlegungen völlig in den Hintergrund. Es sickerte durch, dass reumütige Heimkehrer

in die DDR wieder aufgenommen würden. Schon zu viele hatten jahrelang die Möglichkeit des Schlupfloches Westberlin genutzt und die DDR verlassen. Zwischen Hoffen und Bangen trat Mutter die Heimreise an. Wieder ein Abschied für ungewisse Zeit (es sollten 2 Jahre werden).

Wir machten uns große Sorgen bis endlich eine unverfängliche" Urlaubskarte" die befreiende Nachricht brachte – sie war gut angekommen.