Zeitzeugenberichte - geteiltes Deutschland -

 

Karin 

Erfahrungen mit der Grenze zwischen Ost und West

Besuche in Schwerin

Bildungsbürgerliche Nische

m Frühsommer des Jahres 1963 fuhren mein Mann und ich mit unserem 10-monatigen Sohn zum ersten Mal in die sog. Ostzone, nach Schwerin. Wir wohnten damals in Hamburg und waren vom Onkel meines Mannes und seiner Frau eingeladen worden. Onkel Rudolf, der seit den Kriegsjahren keinen Besuch mehr hatte machen können, wollte nicht nur gern seinen Neffen wieder sehen, sondern auch mich, seine Frau, kennen lernen. Wir hatten zwei Jahre zuvor geheiratet. Außerdem wollte auch er uns seine zweite Frau, Tante Gertrud, vorstellen. Beide waren – wie wir – erst wenige Jahre miteinander verheiratet.

Zu diesem Zeitpunkt durften wir nicht mit dem PKW fahren. Also nahmen wir die umständliche Zugfahrt auf uns. Am Grenzübergang bei Lübeck mussten wir – nach unserer Erinnerung - alle aussteigen. Während der Wartezeit konnten wir beobachten, wie einige Männer systematisch mit langen Stangen in den Kohlen beladenen Güterwaggons auf dem Nachbargleis herum stocherten. Es wurden halt alle Versteckmöglichkeiten nach Flüchtlingen durchforstet.

Mir wurde dann mit meinem Sohn ein Platz im Gepäckwagen zugewiesen, wo ich bis zu unserem Zielort neben dem Kinderwagen stehen musste. Mein Mann durfte unser Los aber nicht teilen, er musste ins Abteil zurück. Warum, das erklärte uns keiner. Hier herrschte nur der Kommandoton.

Glücklicherweise dauerte die Fahrt nicht allzu lang, da uns unser Onkel in Bad Kleinen, dem Umsteigebahnhof, abholte. Die Begrüßung war überaus herzlich. Er freute sich, nach langer Zeit seinen Neffen wieder zu sehen und nahm mich gleich mit in die Arme. Ihm, der einige Jahre zuvor innerhalb kurzer Zeit seine erste Frau und seine beiden Kinder durch Krankheit verloren hatte, tat es gut, endlich einmal junge Familienangehörige um sich zu haben.

Vor dem Bahnhof stiegen wir in einen Wartburg mit Chauffeur. Unser Onkel genoss als „Verdienter Arzt des Volkes" einige Privilegien wie diesen Dienstwagen, eine große Wohnung und ein Dienstmädchen und konnte sich so das gutbürgerliche Ambiente eines konservativen und kaisertreuen Bourgeois bewahren. Er war als Oberbahnarzt für Lokomotivführer und Piloten zuständig gewesen und hatte für die Einrichtung mobiler Röntgenstationen gesorgt und sich damit die Auszeichnung erworben. Wir profitierten nun davon. Als wir eingestiegen waren, wurden wir ganz schnell aufgeklärt, dass wir offen reden könnten, obwohl der Fahrer ein SED-Parteiabzeichen trug. Der machte dann auch die meisten Witze über die DDR-Führung.

In Schwerin wurden wir von Tante Gertrud willkommen geheißen. Sie war früher Lehrerin im Westen gewesen und war tatsächlich in den Osten gezogen, um unseren Onkel, ihre Jugendliebe, zu heiraten, obwohl ihre Tochter aus erster Ehe im Westen lebte. Hier nun widmete sie sich dem Klavierspiel, eigenen Textvertonungen und Übersetzungen französischer Gedichte ins Deutsche. Sie war ausschließlich an kulturellen Dingen interessiert und war uns eine blendende Stadt- und Domführerin. Später wurde sie ehrenamtliche, aber durchaus professionelle Führerin für die Zisterzienserkirche in Bad Doberan. Mit 80 Jahren fing sie noch an, Gedichte zu schreiben. Sie brachten ihre persönlichen, v. a. religiösen Gefühle oder ihre Liebe zur Natur zum Ausdruck, so z. B. im Jahr 1976:

Erntedank

Sonne und Regen

kamen gelegen

für alle Fülle,

die uns dein Wille

schenkend gegeben

Das Leben, das die beiden führten, war wie ein Inseldasein. Politisiert wurde nicht. Einschränkungen der Freiheit, wie unsere An- und Abmeldung beim „Hausvertrauensmann" , wurden hingenommen und nicht mehr diskutiert.

So verliefen die Rentnerjahre unseres Onkels in ruhiger Gleichförmigkeit. In seinem geliebten „Tusculum", dem kleinen Zimmer zwischen Wohn- und Schlafzimmer, bastelte er aus sorgfältig verklebten, mit gebrauchtem und gebügeltem Geschenkpapier bedeckten Kartonschichten handfeste Schachteln mit präzise eingefügten Innenkästchen und Lädchen. Die reinsten Schmuckschatullen! Darüber hinaus schrieb auch er Gedichte: über einen fiktiven Doktor Palmström, im humorvoll ironisierenden Eugen-Roth-Stil.

Für mich waren die Tage dort erholsam. Das Essen wurde mir vorgesetzt, und Gerda, das Hausmädchen, war eine gute Babysitterin. So konnten wir abends ins Theater oder ins Weinhaus Uhle gehen. Tagsüber haben wir uns die Schweriner Seen angesehen und sind mit der Bäderbahn „Molli" von Bad Doberan in das klassizistische Heiligendamm und nach Kühlungsborn gefahren.

Und wir haben Bücher gekauft, um unser zwangsumgetauschtes Geld sinnvoll aus zu geben. Die Bildbände waren sehr schön gestaltet, und sie sind noch heute interessant, obwohl wir manche Titel, wie „Russische Ikonen", „Tschingis-Chan" , „Die Tretjakow-Galerie" oder auch das „Manifest der Kommunistischen Partei" normalerweise nicht gekauft hätten. Etliche andere Bücher, die wir später erwarben, entsprachen aber durchaus unseren Wünschen, wie z. B. „Schlösser in Potsdam".

Bei unseren Gängen durch die Stadt versäumte es Tante Gertrud nie, ein Netz mitzunehmen. Und sie stellte sich sofort an, sobald sie eine Schlange sah. Da musste es etwas geben, was es nicht immer gab. So erstand sie einmal Tomaten, eine seltene Köstlichkeit. Darüber hinaus führte sie uns in ein Geschäft – das einzige dieser Art - , in dem es kunstgewerbliche Holzartikel gab.

Die damals erworbenen Hasen werden noch heute bei uns zu Ostern auf den Tisch gestellt.

Was uns bei diesen Gängen auffiel, waren die vielen leeren oder fast leeren, schmutzigen Schaufenster. Warum wurden sie nicht geputzt, warum die toten Fliegen nicht entfernt?

Es fiel uns auch auf, dass es nirgendwo Blumen gab. Insgesamt machte die Stadt trotz ihrer schönen Lage einen grauen Eindruck. Dazu passte auch die Garderobe der Menschen: auch sie unauffällig, grau. Unserem Onkel war es daher peinlich, als ich abends eine Jacke mit bunten Blumenapplikationen anzog. Im Rückblick kann ich ihn gut verstehen. Aber Tante Gertrud bestand darauf, dass ich sie anbehielt. Frauensolidarität oder westliche Instinkte?

Außerdem hing über der Stadt ein Schleier, und der roch. Die DDR war immer auch mit der Nase wahrnehmbar. Draußen waren es die Zweitakter und die Braunkohlenheizungen, die diesen unangenehmen Geruch erzeugten, in den öffentlichen Gebäuden war es das Lysol, das sich durchdringend bemerkbar machte.

Befremdliches Verhalten

Die folgende Begebenheit muss sich bei unserem Besuch ein Jahr später abgespielt haben.

Unser Sohn saß nun, 1964, in der Sportkarre. Nach meiner Erinnerung durften wir dieses Mal zusammen im Abteil sitzen, vermutlich wurde nur der Sportwagen im Gepäckwagen transportiert.

Dieses Mal sollten wir nicht nur die alte, interessante, aber damals dunkel wirkende Hansestadt Wismar, sondern v. a. auch das Ostseebad Ahrenshoop kennen lernen. Ahrenshoop war das Lieblingsbad unseres Onkels und unserer Tante, „das schönste an der ganzen Ostsee", nach ihrer Meinung. Und wirklich: hohe Dünen und viel weißer Sandstrand auf dem schmalen Landstreifen zwischen Meer und Saaler Bodden. Eine beeindruckende Landschaft und noch dazu fast menschenleer!

Da wir Appetit hatten, führte uns unser Onkel zu einem schön gelegenen, einfachen Restaurant am Strand, an das ich mich allerdings – trotz des Ostseeblickes - nur ungern erinnere. Weil uns hier ein seltsam befremdliches, preußisch provinzielles Verhalten begegnete: Denn obwohl wir die einzigen Gäste waren, wir also niemanden gestört hätten, und obwohl es keinen Kinderstuhl gab, der mir die Situation erleichtert hätte, durfte ich unseren Sohn nicht im Sportwagen sitzen lassen. Ein Kinderwagen war im Lokal einfach verboten. Eine Erklärung für diese unangebrachte Auflage im einzigen Strandlokal weit und breit gab es nicht. Anordnungen waren einzuhalten ohne Diskussion. Jegliches Hinterfragen war ungewohnt. Ich spürte, dass schon der Versuch meinem Onkel nicht recht gewesen wäre. Darum ließ ich es.

Auf der Rückfahrt wurde es ein zweites Mal unangenehm. Unsere Koffer wurden durchsucht, ja regelrecht durchwühlt. Wir bangten um die wertvollen, kleinen Geschenke, die uns unser Onkel mitgegeben hatte: zwei Schälchen aus Meißener Porzellan und drei alte Kupferstiche. Die Schälchen hatte mein Mann auf Anraten unseres Onkels vorsorglich in die Hosentaschen gesteckt. Sie wurden nicht entdeckt. Aber die Bilder hatten wir in den Koffer zwischen die Wäsche gepackt. Und wir wussten, dass Kunstgegenstände eigentlich nicht ausgeführt werden durften. Wir zitterten. Doch die Grenzer hielten diese sichtbar alten Stücke wohl für wertlos und ließen sie unangetastet. Glück gehabt!

Unser Onkel hätte uns im Laufe der nächsten Jahre so gern noch weitere Stücke geschenkt oder auch vererbt. Doch das war nicht möglich. Ich glaube, die gesamte, kostbare Einrichtung ist später v. a. an das Hausmädchen gefallen. Lediglich eine antike Lampe und etliche bibliophile Bücher haben den Weg zu uns gefunden: zusammen mit dem Umzugsgut eines bekannten Ehepaares, das nach seiner Verrentung von Schwerin nach Paderborn ziehen durfte.

Begrenzte Bewegungsfreiheit

Bei unserem nächsten Besuch ein paar Jahre später durften wir mit unserem eigenen PKW fahren und wurden wieder herzlich empfangen. Dieses Mal konnten wir aber nicht mehr in der Wohnung unseres Onkels übernachten, weil inzwischen das Gästezimmer (der ehemalige Praxisraum) von Gerda, dem Hausmädchen, bewohnt wurde. Sie hatte ihr Zimmer im Dachgeschoss des Hauses räumen und stattdessen eines in der Wohnung beziehen müssen. Immerhin konnte sie sich noch um unsere nunmehr über 70 Jahre alten Verwandten kümmern. Viele Gedanken und Gespräche kreisten allerdings um die Frage: „Was wird einmal aus ihr? Sie hat ja nichts anderes als Hausarbeit gelernt und keinen Mann und keine Kinder. Und niemand in der DDR stellt noch ein Hausmädchen ein."

Abgeschafft war auch seit langem das Privileg eines Wagens mit Chauffeur.

Dennoch war für uns gesorgt. Ein gut befreundetes Ehepaar war gern bereit gewesen, uns in seinem Schlafzimmer ein zu quartieren. Es schätzte sich geradezu glücklich, uns mit köstlichem, selbst gebackenem Kuchen und einem üppigen Frühstück verwöhnen zu können. Diese netten Menschen waren nicht nur froh, sich gastfreundlich erweisen zu können, sondern auch intensiv an einem Gedankenaustausch mit Menschen aus dem Westen interessiert. Sie selbst hatten keine eigenen Westkontakte. Er war – eine Ausnahme im System – ein selbstständiger, kleiner Unternehmer, der ganz geschickt mit Autoersatzteilen handelte. Nur so war es ihm wohl auch möglich gewesen, seinen alten Vorkriegs- „kombibus", von allen nur „Schlachtenbummler" genannt, am Leben zu erhalten. Das war ein Segen für unsere Verwandten, hatten sie doch so hin und wieder die Gelegenheit, gemeinsam mit den Freunden eine Landpartie zu machen. Stolz führte er auch uns diesen „Oldtimer" vor und hatte größtes Vergnügen daran, uns alle damit zu chauffieren. Das war eine ziemliche Rumpelei, machte dafür aber umso mehr Spaß. Mit unserem Wagen hätten wir ohnehin nicht fahren dürfen. Uns war eigentlich nur der Aufenthalt in Schwerin gestattet, was aber wohl keiner so ganz ernst nahm. Unseren eigenen Wagen haben wir vorsichtshalber – Westautos boten das eine oder andere Souvenir - versteckt: auf dem Hof einer Kohlenhandlung, eine schwarze Staubschicht war die Folge.

Als wir wieder nach Hause fahren mussten, fragten wir unsere Verwandten, womit wir ihren warmherzigen Freunden denn eine Freude machen könnten. „Mit einem Autoatlas" war die Antwort. Also ließen wir unseren Gastgebern unseren Atlas da und ernteten strahlende Gesichter. Endlich konnten sie zumindest auf der Karte sehen, was es außerhalb der DDR-Grenzen noch gab. Ihre eigenen Karten endeten mehr oder weniger hier.

Die „Grenzüberquerung" bei dieser (oder der nächsten?) Rückfahrt war eine beängstigende Prozedur. Wir mussten nämlich nicht nur die üblichen Kontrollen am Auto hinnehmen (Stange in den Benzintank, Spiegel unter das Auto), sondern zusätzlich über eine Grube fahren. Diese war ungesichert und hatte nur schmale Fahrspuren. Als mein Mann mich bat, ihn hinüber zu winken, wurde mir das deutlich untersagt. Schweiß gebadet kam er am anderen Ende an. Nach einer Ewigkeit, so mein damaliges Gefühl, konnten wir schließlich weiter fahren.

2. Berlinbesuche

Die Museumsinsel

Eine meiner besten Schulfreundinnen hatte einen gebürtigen Berliner geheiratet, den es vom Westen in seine Heimatstadt zurückgezogen hatte. Sie wohnten daher seit Mitte der 60er Jahre in Berlin, und wir besuchten sie dort einige Male. Diese Besuche waren immer atemlose Feuerwerke an kulturellen Informationen und Genüssen, denn sie und ihr Mann waren nicht nur engagierte Ärzte im Hauptberuf, sondern im heiß geliebten „Nebenberuf" v. a. Kunst- und Architekturkenner und insbesondere Liebhaber von archäologischen Schätzen und Museen.

Begeistert zeigten sie uns jedes Mal bis zum letzten Augenblick möglichst viele Sehenswürdigkeiten von Berlin. So war es auch an jenem Tag, als der Mann meiner Freundin uns noch auf die Schnelle die Museumsinsel in Ostberlin vorstellen wollte. „Ihr müsst unbedingt das Pergamonmuseum kennen lernen. Und das Vorderasiatische Museum. Das einzigartige Ischtar-Tor von Babylon, diese Löwen, diese blaue Farbe der Kacheln." Von all dem Gesehenen haben sich mir nur diese beiden Großkunstwerke als Bilder eingebrannt, an allen anderen Exponaten sind wir viel zu schnell vorbei geeilt.

Unser Geist und unsere Seele hatten sich geweitet, wir schwebten geradezu.

Nun mussten wir zurück zum Grenzübergang vom Ost- in den Westsektor.

Doch ging der uns überhaupt etwas an, uns, die wir gerade vom Sog großartiger Zeugnisse der Menschheitsgeschichte erfasst worden waren?

Irreal das Ganze!

„Die Papiere!" Klar, unsere Ausweise und Passierscheine wurden herausgereicht. „Machen Sie das Ohr frei!" Auch das taten wir bereitwillig und ließen uns anstarren und unsere Gesichter im Profil mit den Passfotos vergleichen. Doch all das störte uns keineswegs bei unserem schwärmerischen Gedankenaustausch über die wunderbaren Werke der Antike. „ Aussteigen!" Wir stiegen aus, immer weiter redend. Unser Freund fing leise an zu frozzeln: „ Die suchen wohl vorne `nen Arm und hinten die Füße und unterm Sitz die Leber." Wir konnten uns das Lachen nicht verkneifen. „Die Sitzbank raus!" Jetzt griff die Schikane langsam. Beide Männer, jeder mit zwei linken Händen ausgestattet, mussten sich nun wirklich quälen, um die hintere Sitzbank heraus zu holen und sie - nach intensiver Inspektion - wieder ein zu bauen.

Endlich durften wir weiter fahren, in Zickzacklinien um die Betonblöcke herum, vorbei an den Posten mit ihren Kalaschnikows, durch die Lücke der unüberwindlichen Mauer hindurch.

Das Lachen war uns vergangen.

Die falsche Richtung

Es muss im Jahr 1979 gewesen sein, als wir unserem jungen, 17jährigen amerikanischen Freund Berlin zeigen wollten. Er wohnte als Austauschschüler des American Field Service zwei Monate lang bei uns und fand schon unseren Wohnort aufregend nahe an der Grenze zum absolut bösen Feind gelegen. Wie viele Düsenjäger hier flogen! Und Militär und Truppenübungsplatz nebenan! Das kannte er von Philadelphia, seiner Heimatstadt, nicht.

Und nun Berlin und auch noch Ostberlin. Um unseren Tagesumtausch von 6,50 DM pro Person irgendwie zu verwenden, haben wir - nach meiner Erinnerung - im „Gastmahl des Meeres" etwas gegessen. An unserem Tisch saß auch eine Ostberlinerin, mit der wir ein paar Worte wechselten. Sein ungläubiges Staunen vergesse ich nicht: „Wir haben mit einer Frau aus dem Osten gesprochen, mit einer echten Kommunistin!" Alle, die jenseits der Mauer lebten, waren für ihn offensichtlich Kommunisten.

Wir hatten wieder bei meiner Freundin übernachten dürfen. Mit ihren Westberliner Erfahrungen schätzte sie die Amerikaner und kümmerte sich auf das Liebenswürdigste um unseren Gast. Als wir uns verabschiedeten, gab sie uns für die Rückfahrt Butterbrote und Getränke mit. Eigentlich nicht nötig, fand ich, wollte die freundliche Geste aber nicht zurückweisen.

Wie notwendig sie war, sollte sich bald darauf erweisen. Denn kurz nach dem Grenzübergang „Dreilinden" hatten wir die falsche Richtung eingeschlagen. Die vielen Fragen unseres Gastes hatten uns in solch intensive Gespräche verwickelt, dass wir nicht mehr konzentriert auf die undeutliche Beschilderung in der DDR geachtet hatten. Was nun? Wir fuhren erst einmal weiter und fingen dann an nachzudenken. Auf unserem Passierschein war, so glauben wir uns zu erinnern, die Uhrzeit der Einreise in die DDR aufgestempelt worden, und wir hatten als Ausreiseübergang Marienborn angegeben. Wir wussten, dass man sich auf keinen Fall von der Transitstrecke entfernen durfte. Auch wenn man nur eine Tagesreise von Berlin aus in die DDR machen wollte, musste man vier Wochen vorher einen schriftlichen Antrag stellen.

Wenn sie nun unsere Namen und unser Kennzeichen nach Helmstedt/Marienborn durchgegeben hatten? Meinem Mann war das schon einmal passiert, als er etwas für die Grenzer hatte transportieren müssen. Ab wann war die Volkspolizei alarmiert?

Doch Wenden auf der Autobahn? Ein Verkehrsvergehen! Den Mut brachten wir erst recht nicht auf.

Es wurde dunkel. Die Wegweiser zu längst versunkenen, nur noch vom Hörensagen her bekannten Städten sausten an uns vorbei: Dessau, Halle, Leipzig, Jena, Weimar.

Allmählich ging das Benzin zu Ende. Das rote Licht leuchtete auf. Wir mussten bald tanken. Doch bisher hatten wir noch keine Tankstelle gesehen. Außerdem hatten wir kein DDR-Geld mehr. Würden wir überhaupt Benzin bekommen können? Was tun? Reichte der verbliebene Benzinrest, um zurück zu fahren? Sollten wir nicht doch einfach auf der Autobahn wenden? Wir waren fast allein auf der Strecke, und es gab weder Leitplanken, noch breite Mittelstreifen. Wir rechneten. Nein, das würden wir jetzt auch nicht mehr schaffen. Also weiter. An Erfurt vorbei. Endlich eine Intertankstelle! Und wir konnten tatsächlich tanken, gegen DM, Kurs 1:1. In dieser unheimlichen Welt war die Unterhaltung mit dem Tankwart, der ursprünglich aus Bad Salzuflen stammte und natürlich auch Bielefeld kannte, für meinen Mann ein Lichtblick. Das hörte sich alles so normal an. Unsere Ängste vor den Grenzposten sprach er ihm gegenüber dennoch nicht aus.

Unsere Jugendlichen hatten Hunger und Durst. Jetzt war ich meiner Freundin dankbar für ihre Fürsorge. Nichts von all dem, was sie uns mitgegeben hatte, blieb übrig.

Gotha, Eisenach. Die Grenze Wartha/Herleshausen näherte sich. Inzwischen war es nach 22 Uhr geworden. Wir, besonders die Kinder, hätten langsam ins Bett gehen müssen. Wir mussten alle am nächsten Morgen früh aufstehen und in die Schule, bzw. in die Firma.

Mit klopfendem Herzen fuhren wir an den Grenzübergang heran. Außer uns kein weiteres Fahrzeug. Die Posten schauten schläfrig auf unsere Papiere.

Und wir durften einfach so passieren - ohne die geringste Verzögerung! Welch befreiende Überraschung!

In der nächsten Raststätte machten wir Halt. Die Bockwurst dort war ein Hochgenuss! Durchatmen! Lachen! Danach dehnten sich die Nachtstunden, als wir müde gen Nordwesten nach Hause donnerten.

Die lakonische Bemerkung unserer Berliner Freunde am nächsten Tag: „Dann passt mal auf, dass ihr das nächste Mal nicht über Moskau nach Hause fahrt."

Das Grand-Hotel

Meine Cousine Sabine habe ich erst im April 1987 kennen gelernt. Als 35jährige Frau durfte sie zum ersten Mal – allerdings nur ohne Familie – zum 70. Geburtstag meiner Mutter in den Westen fahren. Dass das überhaupt möglich war, hing nach ihrer Aussage mit dem zunehmenden Mangel und dem Druck aus der Bevölkerung zusammen. „Sie müssen ein Ventil öffnen. So kann es nicht mehr weiter gehen.", war schon damals ihre feste Überzeugung. Wir hatten uns viel zu erzählen und besuchten uns von diesem Zeitpunkt an regelmäßig, d. h. von ihrer Seite konnte zunächst nur immer jeweils ein Familienmitglied einen runden Geburtstag in der westlichen Verwandtschaft nutzen, während wir so oft wie möglich hinfuhren.

Ihr Wohnort Eggersdorf liegt etwa 30 km östlich von Berlin-Mitte. Daher genossen wir während unserer Besuche nicht nur das Beisammensein und die Gespräche, den großen Garten mit dem Gäste-Gartenhaus und den nahen Bötz-See, sondern jedes Mal auch gut vorbereitete Berlintouren und -programme:

so z. B. ein Güttler-Konzert im Schauspielhaus oder eine traditionelle chinesische Tanz- und Schauspielvorführung im Friedrichstadtpalast, ein Besuch des Restaurants oben im Französischen Dom, die Stalinallee, das Nikolaiviertel und vieles mehr.

An einem dieser Berlinabende wollten meine Cousine und ihr Mann uns zum Abendessen ins neue Grand –Hotel einladen. Sie wollten natürlich mit ihrem Ostgeld bezahlen. Doch allen Besitzern dieser Währung blieb der Haupteingang verschlossen. Wir selbst konnten (und sollten ) auch nicht einspringen, daran hinderten uns schon die Devisenbestimmungen und der hohe Mindestumtausch von 25 DM pro Tag und Person.

Für DDR-Bewohner war im Grand Hotel lediglich ein kleiner Restaurantraum vorgesehen, den man durch einen Nebeneingang erreichte. Was wir jedoch empörend fanden, kannten unsere Verwandten längst aus ihrem Urlaub im Erzgebirge. Sie fügten sich gelassener. Die einzige Krabbe in der dort servierten Hummersuppe war trocken und schmeckte alt. Außer uns war kein Gast da. Brav löffelten wir die Teller aus und fuhren dann bedrückt nach Hause.

Als wir hier angekommen waren und den vertrauten Garten mit seinen Obstbäumen betraten, hellte sich die Stimmung wieder auf. Die grüne Umgebung wirkte beruhigend. In der Haustür steckte – wie eigentlich immer – der Schlüssel außen in der Tür. Im Nachbarhaus wohnte schließlich ein Stasi-Mitarbeiter. Mit einem unbeobachteten Einbrecher war auf keinen Fall zu rechnen.

Wohnen an der Mauer

Bei unserem Besuch des Französischen Domes hatten wir die Schwägerin meiner Cousine kennen gelernt. Wir erfuhren, dass sie mit ihrer Familie ganz nah an der Mauer wohnte, in einem Haus im Grünen, ruhig und idyllisch. Als wir dann eines Tages mit unserem Golf durch diese Gegend fuhren und der Mann meiner Cousine uns die Straße zeigte, an deren Ende seine Schwester wohnte, meinten wir völlig unbedacht: „Sollen wir reinfahren und guten Tag sagen?" Keine Antwort! Ein Fahrradfahrer fuhr vorbei. Unsere Verwandten fingen an zu schwitzen. „Der passt hier auf." Mein Mann und ich wollten uns unsere Freiheit, über öffentliche Straßen fahren zu dürfen, eigentlich nicht durch einen eventuellen Stasi-Spitzel nehmen lassen. Doch als wir merkten, welche Nervosität wir erzeugten, ließen wir von unserem Vorhaben ab. Eher durch die Blume erfuhren wir später, dass nur die engsten Verwandten mit einem speziellen Passierschein Bewohner an der Mauer besuchen durften. Und dass schon der Aufenthalt in der Nähe der Sperrzone Verdacht erregen könnte.

Das Haus an der Mauer haben wir später doch noch gesehen, nach der Wende, Anfang der 90er Jahre. Noch immer war es von Grün umgeben, jetzt zwar ohne Mauer im Rücken, aber mit einem riesigen, öden Grenzstreifen dahinter. Ein merkwürdiger, surrealer Anblick mitten in einer Hauptstadt.

Don Giovanni

Im Frühsommer 1988 fuhr unser Paderborner Grundschulseminar wieder einmal nach Berlin. Diese Fahrten standen alle zwei Jahre auf dem Programm.

Zwei Fachleiterkolleginnen und ich setzten uns an einem Abend von der Gruppe ab, um in der Komischen Oper „Don Giovanni" zu sehen. Das war möglich geworden, weil eine von uns die Karten von ihrer Tante in Ostberlin hatte besorgen lassen. Treffpunkt war das Café des Metropol-Hotels. Wir fuhren also mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße, gingen dann zum hermetisch abgeriegelten Sektorenübergang, zwängten uns durch die Kontrollen und bezahlten die Visumsgebühr und den Zwangsumtausch. Danach bahnten wir uns unseren Weg durch die volle Vorhalle, wo uns mehrere Personen verdeckt den Geldumtausch zu einem günstigen Wechselkurs anboten.

Wieder im Freien schritten wir aus und erreichten den vereinbarten Ort zu früh. Das etwas dunkle Café war gut besucht. Während wir noch warteten, konnten wir die Leute beobachten. Waren das normale DDR-Bürger? Sie sprachen alle so leise. Nein, das mussten Agenten sein. War nicht die gesamte Atmosphäre irgendwie konspirativ? Keiner blickte uns offen an, keiner lachte. Als die Tante kam und wir gemeinsam Kaffee tranken, waren diese Gedanken zwar verflogen, aber wohl fühlten wir uns trotzdem nicht.

Das Theater dagegen war hell und freundlich und die Aufführung glänzend. Die Darsteller waren bestens ausgebildet, sie konnten nicht nur singen, sondern sich auch bewegen. Wir waren begeistert. Darüber hinaus – das hatte meine Kollegin Bärbel ganz deutlich wahrgenommen -

wollten sie eine Botschaft vermitteln: Bei den Worten „Hoch soll die Freiheit leben" stampften alle heftiger auf den Boden als es die Handlung und die Choreographie eigentlich erwarten ließen.

Während des ganzen Rückweges zum Bahnhof diskutierten wir über die Frage, ob diese Beobachtung wirklich von Bedeutung war oder ob wir uns das nur einbildeten. Wir bemerkten nichts um uns herum, auch nicht, dass die Straßen sich fast geleert hatten. Gegen 23 Uhr kamen wir in der Halle des Überganges Friedrichstraße an. Da wir allein waren, dachten wir uns nichts dabei, uns laut weiter zu unterhalten und von der Aufführung zu schwärmen, während wir zu den Kontrollboxen gingen. Wir holten unsere Ausweise heraus und schoben sie durch die Öffnung. Finstere Blicke empfingen uns: „Was ist denn los? Was haben Sie denn?" Wir: „Wir haben gerade eine wunderbare Opernaufführung gesehen." „Warum sollte die Oper hier nicht gut sein?" Die Augen wanderten rauf und runter, zum schrägen Spiegel nach oben, der dem Posten die untere Körperhälfte zeigte, dann zu unserem Gesicht, dann wieder auf den Ausweis. Diese Prozedur wiederholte sich mehrmals. Prompt wurden wir schweigsam. Endlich konnten wir auf den Bahnsteig gehen. „Jetzt bloß die richtige S-Bahn nehmen!"

Der Zug in Richtung Wannsee stand schon da. Hinein! Erst als die Bahn losratterte, waren wir in der Lage, unsere Unterhaltung fortzusetzen.