Zeitzeugenberichte    - geteiltes Deutschland -

 

Werner 

Deutsche Ost-West-Geschichten

Erlebnisberichte über Begegnungen mit der DDR

 

1)  1954:  Ev. Kirchentag in Leipzig                                         

Meine Erinnerungen an den letzten gesamtdeutschen Kirchentag vor fast 50 Jahren sind noch ganz deutlich. Sie stützen sich auf Tagebuchaufzeichnungen, die ich zu Beginn auszugsweise zitiere: „Dann setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Wir stecken die Köpfe aus den Fenstern. Jetzt kommen wir an den Eisernen Vorhang! Zwei Volkspolizisten mit Karabinern stehen an der Grenze. Dann sind wir „drüben“. Das erste, was uns ins Auge fällt, ist ein Transparent „Westdeutsche Brüder, seid gegrüßt!“ Der Zug rollt auf dem Bahnhof in Marienborn ein. Ein Lautsprecher tönt uns entgegen: „ Achtung, Achtung! Sie befinden sich jetzt auf dem Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik. Wir heißen Sie als Teilnehmer am Deutschen Evangelischen Kirchentag in Leipzig recht herzlich willkommen!“ Volkspolizisten besteigen unseren Zug, kontrollieren die Ausweise, prüfen die Aufenthaltsgenehmigung; wir müssen das mitgeführte Westgeld angeben. In einem Wagen wird eine ganz geringfügige Stichprobe des Gepäcks durchgeführt. Dann verlassen wir den Zug und betreten den Bahnsteig. Ein Posaunenchor des Grenzkirchenkreises empfängt uns. Wir stehen um den Chor herum und singen unsere Kirchenlieder, mitten auf dem Bahnsteig. Frauen der Bahnhofsmission gehen am Zug entlang und teilen warmen Tee aus. Man kann ihnen die große Freude an den Gesichtern ablesen. Das ist auch beim Posaunenchor der Fall, der die Mühe nicht gescheut hat, in früher Morgenstunde um 3 Uhr auf dem Bahnhof zu sein, um uns einen schönen Empfang bereiten zu können. Die ausführliche Beschreibung der Stationen Magdeburg und Halle, an denen der Sonderzug länger hält, würde hier zu weit führen. Gegen Mittag erreichen wir Leipzig, und ich setze nun meinen Tagebuch-Auszug vom 6. Juli 1954 fort. Die Leipziger winken uns entgegen, und auch aus den Fenstern unseres Zuges strecken sich winkende Hände. Die zugehörigen Köpfe haben in den Fensteröffnungen keinen Platz mehr. Hinter der Sperre haben die Leipziger eine Gasse gebildet, durch die wir nun hindurchgehen. Auch dabei wird gesungen. Wir sind einer der ersten Züge, die hier eintreffen. Hier sieht man überall Transparente mit politischen Parolen. „Kämpft für Einheit, Freiheit und Frieden“ oder „Nieder mit der EVG*), gegen den Militarismus in Westdeutschland“ usw. Und  dabei  sehen  wir  hier  in  der DDR, der „Deutschen Demokratischen

Republik“, seit über neun Jahren die ersten deutschen Soldaten, Volkspolizisten   genannt. Aber wir wollen so tolerant wie möglich sein, denn schließlich sind wir

hier Gäste, und wir müssen dankbar sein, daß der Kirchentag hier überhaupt stattfinden darf. Wir werden von den Menschen hier beherbergt und verpflegt werden und ihnen das bißchen noch wegessen, weil es von der Monatsration abgeht. Die Lebensmittelkarten sind noch immer nicht ganz verschwunden.

Ich breche an dieser Stelle meine Tagebuchauszüge ab, um nur noch das wiederzugeben, was mir aus der zeitlichen Distanz in Erinnerung geblieben ist.

Zuerst ist das Straßenbild zu nennen: Die Schäden des Krieges waren noch stärker sichtbar als im Westen. Die Häuser wirkten grau, noch viele Ruinen waren zu sehen. Die Straßen holperig, die wenigen Autos klein und altertümlich, die überfüllten Straßenbahnen schaukelten auf ausgefahrenen Schienen. Der Schaffner rief merkwürdige Haltestellen aus wie „Karl-Marx-Allee“ oder „Ernst-Thälmann-Platz“ oder „Straße der Befreiung 8. Mai 1945“ und das alles in breitestem Sächsisch. Die Kleidung der Menschen wirkte ärmlich und fast so grau wie die Häuser. Im Gegensatz dazu vereinzelte Neubauten in stalinistischem Bombasmus: Das Stalin-Denkmal 1 ½ Jahre nach dem Tode des Diktators immer noch nicht gestürzt, sondern ehrfürchtig betrachtet. Auf dem Messegelände, wo die meisten Veranstaltungen des Kirchentages stattfanden, als Blickfang das riesige Sowjetische Ehrenmal mit einem großen roten fünfzackigen Stern, der nachts von innen leuchtete - sozusagen als Gegensymbol zum christlichen Kreuz.

Unvergeßlich sind mir die Bibelarbeiten in den Messehallen mit Pastor Wilhelm Busch aus Essen oder mit Professor Helmut Gollwitzer aus Berlin, bekannt geworden durch sein Tagebuch in russischer Kriegsgefangenschaft „Und führen, wohin du nicht willst“. Daneben die vielen musikalischen und kulturellen Veranstaltungen, etwa mit dem Leipziger Thomanerchor oder dem Dresdner Kreuzchor.

Die Hauptsache für mich aber waren die vielen guten und intensiven Gespräche mit den Menschen in der DDR, die wie wir Kontakte suchten und sich über jede Begegnung freuten. Hauptthema war das Christ sein im Kommunismus, die Spannung zwischen Kirche und Staat, die politischen, wirtschaftlichen und beruflichen Nachteile für christliche Gemeindemitglieder sowie etwa die Spannung zwischen Konfirmation und Jugendweihe. Immer wieder standen unsere Gesprächspartner unter dem Druck, nicht oder nicht alles sagen zu können, was sie dachten. Auch auf dem Kirchentag fürchteten sie Spitzel.

Diese Tage sind mir deshalb so gut im Gedächtnis geblieben, weil sie für mich als Zwanzigjährigen zu einer Erstbegegnung mit einem Kirchentag und mit dem anderen Teil Deutschlands wurden, die in späteren Jahren nie wieder diese Intensität erreichte. Die Frömmigkeit und der Bekennermut der DDR-Christen in einer atheistisch-feindlichen Umgebung beschämte uns „freie Westler“ und Bundesbürger damals. Aber es war für uns auch eine Gelegenheit, das eigene Christ sein kritisch zu überdenken. Wir kehrten „reich beschenkt“ nach Westen zurück.   

2) 1968: Besuch bei Verwandten in Mühlhausen

Ende Juni fuhr ich für 5 Tage in die DDR, und zwar mit dem PKW über Paderborn und Kassel nach Bebra. Dort ließ ich den Wagen für 1,50 DM pro Tag auf einem bewachten Parkplatz stehen, weil man damals noch nicht mit dem Auto in die DDR einreisen durfte. Ich fuhr mit dem „Interzonenzug“ über Gerstungen und Eisenach bis Gotha. An der Grenze strenge Kontrolle: Westgeld angeben (noch kein Pflichtumtausch), Paß und Aufenthaltsgenehmigung, Gepäck. Ich mußte als einziger im Waggon den Koffer öffnen und alles vorzeigen. Dann ging es weiter, zuletzt mit einem entsetzlich langsamen Bummelzug, der für die 40 km bis Mühlhausen fast 1 ½ Stunden brauchte. Große Freude am Bahnhof, meinen Onkel hatte ich 24 Jahre nicht gesehen. Die Wiedersehensfreude auf beiden Seiten war auch für die nächsten Jahre das Hauptmotiv für eine strapaziöse und nervenaufreibende Reise in die DDR. Innerhalb von 24 Stunden mußte man sich bei der Volkspolizei anmelden, außerdem durfte man sich nicht mehr als 50 km vom Aufenthaltsort entfernen. Auch der Hauswart mußte jeden Westbesucher mit Übernachtung in ein sog. „Hausbuch“ eintragen. Grund: Lückenlose Überwachung.

Am nächsten Morgen besorgte mein Cousin über einen Kumpel einen Wagen, einen alten DKW  F 8, 18 PS, Baujahr 1933, mit dem wir zum Inselsberg fuhren, dem höchsten Berg im Thüringer Wald. Bei stärkeren Steigungen begann zwar das Kühlwasser zu kochen, aber dann warteten wir eben geduldig auf die langsame Abkühlung. Den eigentlichen Berg bestiegen wir übrigens doch besser zu Fuß. Auf dem Rückweg erlebten wir das Brunnenfest in Bad Langensalza: Kinder mit Blumen, DDR-Fahnen auf dem Festplatz, Festzug der Jungen Pioniere in roten Halstüchern, die eifrig trommelten und Fanfaren bliesen, FDJ-ler mit Schalmeien, viele fröhliche Leute. Ein Anblick, den wir im Westen höchstens von Schützenfestzügen kannten. Politische Phrasen, die der Bürgermeister vom Balkon des Rathauses zu dreschen genötigt ist, werden weder zur Kenntnis genommen noch beklatscht. Nur seine umstehenden Genossen spenden pflichtschuldig Beifall. Trotzdem ist jeder bei seiner Sache, dem Blumenkorso, aber nicht der Rede. Anschließend essen wir in einem Gasthaus gut und sehr preiswert zu Mittag. - Am nächsten Sonntagmorgen Gottesdienstbesuch. Die Predigt ist hart an der Grenze des politisch Erlaubten und darum packend: Trost und Kraft in Lebenssituationen, wo der Sozialismus aufhört und der Glaube anfängt. -

Am Abend gehen wir ins Freilichtkino zu den Mühlhauser- Sommer-Filmtagen. Erst gibt es ein Konzert durch zwei Volksarmee-Kapellen, dann die Wochenschau  über Walter Ulbricht, dessen 75. Geburtstag heute im Lande groß gefeiert wurde. Schließlich folgt ein großer Breitwand - Farbfilm der DEFA über das Indianerproblem des 18. und 19. Jahrhunderts, verursacht von den bösen kapitalistischen Amerikanern. - Am nächsten Morgen beginnt unsere Rückreise.-

Meine Verwandten in Mühlhausen waren zwar keine Anhänger des Systems, versuchten sich aber mit dem DDR-Regime zu arrangieren. Darüber hinaus waren sie fleißig und taten oft mehr als von ihnen verlangt wurde, auch im Umgang mit Arbeitskollegen und im sozialen Bereich. Sie brachten es sogar zu einer Aktivisten - Urkunde und waren doch niemals Kommunisten.

 3) 1973: Besuch bei Verwandten in Görlitz

Fünf Jahre später führte mich ein DDR-Besuch im Oktober an die Neiße, der polnischen Grenze, zu Verwandten väterlicherseits. Inzwischen galt der Pflichtumtausch von täglich 10 DM im Verhältnis 1 : 1 in DDR-Geld (siehe Seite 6 - 8). Der „echte“ Umtauschkurs betrug etwa 1 : 4-5. Dabei gab es drei Einkaufsmöglichkeiten:  Im  „normalen“  HO - Geschäft,  im  Exquisit - Laden  zu  überhöhten

DDR - Preisen und im Intershop Westware für Westgeld. Daneben wurde der polnische Zloty im Verhältnis 4 : 1 gehandelt. Das war für die Polen im nahen Grenzverkehr wichtig. Westfernsehen konnte im „Schwarzen Loch“ östlich von Dresden nicht empfangen werden. Von meiner Tante und ihrer Tochter wurde ich freudig begrüßt; ich wohnte die paar Besuchstage bei meiner Tante, die damals 77 Jahre alt war. Die Begrüßung durch ihren 53 jährigen Schwiegersohn fiel dann schon etwas reservierter aus. Seine Frau erklärte mir den Grund: Bei einem SED - Mitglied waren sog. „West - Kontakte“ nicht gern gesehen. Die nächste Generation bekam ich gar nicht zu Gesicht: Der eine Sohn, 25 jähriger Offizier der Nationalen Volksarmee, der andere, 1 Jahr älter und schon Mitglied im Görlitzer SED - Stadtrat, ließen sich aus Angst vor beruflichen Nachteilen bei einem „West- Spion“ nicht blicken. Nun, ich nahm ihnen das nicht übel, sie taten mir nur leid. Dafür durfte ich die drei Urenkel wenigstens sehen, sie waren ja noch nicht kapitalistisch beeinflußbar. - In den Tagen unternahmen meine Tante, ihre Tochter und ich ziemlich viel: Besichtigung der vom Krieg unzerstörten Stadt Görlitz, leider mit viel maroder Bausubstanz, Ausflug an die Neiße als polnische Westgrenze und an den 15. östlichen Längengrad und ein Tagesausflug zur Landeskrone, dem Hausberg von Görlitz, von dem aus man einen weiten Blick hatte hinein in die polnisch gewordene Niederlausitz. Meine Verwandten sprachen den gleichen schlesischen Dialekt wie wir früher in Breslau. Höhepunkt meines Besuchs aber war die Tagestour mit der Reichsbahn in das 100 km entfernte Dresden. Ich war beeindruckt von den finanziellen und kulturellen Aufbauleistungen an dieser schönen Stadt durch die damalige DDR - Regierung. -

Wir haben oft und ausgiebig über politische Themen diskutiert: Die schnelle Wende um 180 Grad von Hitler zu Ulbricht, weshalb es im DDR - Staat auch keine ehemaligen Nazis gab, der persönliche Einsatz am Arbeitsplatz, Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“, Aggressionen des Westens gegen den Arbeiter- und Bauernstaat, Revanchismus und Neonazismus, Dekadenz der BRD. Übersehen wurde die äußere Ähnlichkeit der DDR zum Dritten Reich mit Aufmärschen, Fahnen, Liedern, der FDJ mit vormilitärischer Erziehung und den Jungen Pionieren. Wir verabschiedeten uns friedlich, empfanden aber auf beiden Seiten die innere Kluft und die räumliche Trennung.    

Bei aller menschlichen Begegnung jenseits der politischen Unterschiede, im Alltag und bei interessanten Besichtigungen und Erlebnissen war es die unsichtbare Mauer, die durch entgegengesetzte Einstellungen und vorgefaßte Meinungen vom jeweils anderen Staat zu spüren war. Ich als Westler fühlte mich den „armen Verwandten“ in der DDR wirtschaftlich und in der politischen Freiheit überlegen. Meine Gastgeber dachten umgekehrt: Wir bauen einen neuen Staat der Zukunft, den es bisher auf deutschem Boden noch nie gegeben hat, ohne ungerechte Klassenunterschiede. Wir sind fortschrittlich, während in Westdeutschland die alten kapitalistischen Strukturen von gestern einfach nur fortgesetzt werden. So stand Meinung gegen Meinung, ohne den Versuch einer Annäherung.

 4) 1976: Mit einer 10. Klasse in Ostberlin

Im Februar fuhren wir mit 4 zehnten Klassen unserer Schule mit der Bahn für eine Woche von Bielefeld nach Westberlin. Die Fahrt dauerte damals mit zwei Grenzkontrollen etwa 6 Stunden. Schon die erste Grenzkontrolle war für die Schüler ein besonderes Erlebnis. Ich hatte meine Klasse schon vorher davor gewarnt, durch Gelächter oder gar unpassende Bemerkungen die Volkspolizisten zu provozieren. Das würde die Wartezeit nur unnötig verlängern. Vor 3 Monaten hatte ein Schüler einen Witz erzählt, der mit lautem Gelächter der Mitschüler quittiert wurde. In diesem Augenblick öffnete sich die Waggontür zur Paßkontrolle. Der Vopo fühlte sich auf den Arm genommen, und die Schikane folgte auf dem Fuß: Schüler und Lehrer mußten aussteigen, alle Koffer auspacken und Leibesvisitationen über sich ergehen lassen. Zwei Stunden später konnten sie von Marienborn aus mit dem nächsten Zug nach Berlin weiterfahren. - Bei uns klappte es reibungslos, jeder machte ein Pokergesicht, keiner fiel aus der Rolle, obwohl der scharfe Blick der Vopos (Vergleich zwischen Paßbild und „Visage“) schon dazu verleiten konnte. - Wir wohnten klassenweise in Westberliner Sportheimen. Am Donnerstag fand ein Tagesausflug nach Ostberlin statt. Jede Klasse fuhr mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße. In einem großen fensterlosen Raum mit niedriger Decke, grellem Neonlicht und unbeschreiblich dicker Luft warteten wir dichtgedrängt auf die Paßabfertigung und den Tages-Pflicht-Geldumtausch, für Erwachsene 10 DM, für Schüler 5 DM. 3 Schüler unter 16 wurden in meinen Paß eingetragen und hielten sich den ganzen Tag vorsichtshalber in meiner Nähe auf. Die Schüler und die Lehrer betraten eine andere Welt. Besonders eindrucksvoll war die Besichtigung des Brandenburger Tores von der anderen Seite. Wir machten Gruppenfotos, und meine Aufnahmen mit der Super-8-Filmkamera erregten bei den Grenzsoldaten keinen Anstoß. Es folgte ein Bummel durch Ostberlin in kleineren Gruppen, ein gepflegtes Mittagessen im „Lindenkorso“, wo früher das Cafe Kranzler stand, und ein Besuch im Telecafé im höchsten Turm Deutschlands. Einige DDR-Jugendliche wollten unseren Schülern ihre West-Jeans vom Körper weg abkaufen, leider vergeblich. Um 17 Uhr kehrten wir nach Westberlin zurück.  

5) 1981: Sozialistische Trauung in Mühlhausen

Mein Cousin heiratete am 12. Juni. Einen Tag vorher - am Nachmittag bei großer Hitze - reisten meine Frau und ich mit unserer 8 Monate alten Tochter am Grenzübergang Herleshausen / Wartha in die DDR ein. Für die junge Braut hatte meine Schwiegermutter eine gebrauchte Pelzjacke als Geschenk mitgegeben. Es gab Schwierigkeiten bei der Kontrolle, diesmal durch eine Volkspolizistin, im Volksmund als „Flintenweiber“ verschrieen und wegen ihrer schikanösen Übergenauigkeit besonders gefürchtet. Es fehle die Desinfektionsbescheinigung für gebrauchte Kleidung. Erst meine Bitte, für ein Hochzeitsgeschenk doch einmal eine Ausnahme zu machen, konnte sie umstimmen. Endlich durften wir weiterfahren. -

Für die sozialistische Trauung im Rathaus und Standesamt der Stadt Mühlhausen hatte ich Fotografier-Erlaubnis. Unter den Bildern von Honecker und Ulbricht hielt die Standesbeamtin eine Ansprache über den Sinn einer sozialistischen Ehe für den Staat und die klassenlose Gesellschaft. Auf die Frage „Sind Sie bereit...“ und das Treuebekenntnis zueinander und zum Staat wurden dann die Unterschriften ausgetauscht. Dazu erklang von einem im Schreibtisch verborgenen Tonbandgerät der Hochzeitsmarsch aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“. Die offizielle Feier war beendet.

Bei der Hochzeitsfeier in einem HO-Restaurant gab es reichlich zu essen und zu trinken, Musik, Blumen und fröhliche Gesichter. Unter den Gästen waren auch Arbeitskollegen meines Cousins. In einem Gespräch mit einem dieser Kollegen fragte meine Frau: „Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, welchen würden Sie dann nennen?“ Die Antwort kam ziemlich unvermittelt: „Einmal in meinem Leben in die Alpen reisen können und dann sterben!“ Der Mann war Mitte vierzig. 

Besonderheiten am Rande

Am nächsten Tag fragte mich mein Onkel, ob ich wüßte, was ein Subotnik sei. Ich verneinte. Das sei ein Arbeiter, der sich an einem arbeitsfreien Samstag, also heute, für zusätzliche „freiwillige“ Aufbauleistungen zur Verfügung stelle. -

Ob ich ihm, meinem Onkel, nicht im nächsten Paket eine Heintje-Platte mitschicken könne. Die Mutter seines Klempners liebe Heintje, nur dann würde er die defekte Dachrinne reparieren.

Mein zweiter Cousin war Soldat der Nationalen Volksarmee an der Zonengrenze. Sein Vater: „Wenn du einen Flüchtling abknallst (Schießbefehl), dann komm mir bloß nicht mehr nach Hause. Ziele auf alle Fälle daneben!“

Drei Jahre später. Der Fernseher war defekt. Auf die Frage, wann der Mechaniker kommen könne, lautete die Antwort: „In vier bis sechs Wochen. - Oder haben Sie etwas Westgeld?“ - „Ja, so etwa 20 DM.“ - „Gut, dann komme ich heute Abend.“

6) 1985: Sozialistische Jugendweihe in Edersleben

Wir fuhren am 16. Mai - Christi Himmelfahrt als gesetzlicher Feiertag - frühmorgens bei sonnigem Frühsommerwetter los, diesmal mit inzwischen drei Töchtern (knapp 5 und 3 Jahre alt). Vor dem Grenzübergang Herleshausen / Wartha hatte sich wegen des Feiertages und darauffolgenden „Brückentages“ um 10 Uhr schon eine lange Auto-Warteschlange gebildet, so daß wir mit unseren Kindern eine Stunde in der Sonne standen. Inzwischen waren die Kontrollmethoden noch „verfeinert“ worden: Suchhunde sollten etwaiges Rauschgift erschnüffeln, fahrbare Schrägspiegel erlaubten einen schnellen Blick unters Auto; die Rücksitze mußten hochgeklappt und der Benzintank geöffnet werden, um mit einem Meßstab die Spritmenge und die Tanktiefe prüfen zu können. Die beiden letzteren Methoden wurden vorwiegend bei der Ausreise angewandt, auf Grund geglückter oder mißlungener Fluchtversuche, etwa in einem Benzintank mit doppeltem Boden. Wir hatten wieder Glück: Die Kontrolle ging ziemlich schnell, weil man bei drei kleinen Kindern ohnehin kein Risiko eingeht.

Die Wiedersehensfreude unserer Verwandten war besonders groß, auch wegen der Kinder, die wir über die Grenze mitgebracht hatten. Wir übernachteten einmal in Mühlhausen und fuhren am nächsten Tag weiter nach Edersleben. Am Vorabend der Jugendweihe trafen noch vier „West-Verwandte“ aus Karlsruhe ein. Der eigentliche Festtag begann am Samstagmorgen um 9 Uhr im Dorfgemeindesaal von Edersleben. Ich hatte wieder Fotografier- und Filmerlaubnis eingeholt unter der Bedingung, den Ablauf der Feierlichkeit nicht zu stören. Etwa 12 Jugendliche zogen feierlich in den Saal ein, um in der ersten Reihe Platz zu nehmen.

Ich empfand sofort die verblüffende Ähnlichkeit mit der Konfirmationsfeier in einer Kirche. Es waren einige Programmblätter verteilt worden (siehe Seite 12). Junge Pioniere in roten Halstüchern saßen neben den Jugendlichen und belebten den festlichen Rahmen. Die Festansprache hatte das Weltbild des atheistischen Sozialismus zum Inhalt sowie die Zukunft der Arbeit in Staat und Gesellschaft. Die Jugendlichen könnten jedweder Unterstützung durch die Erwachsenenwelt sicher sein. Diesem Versprechen folgte das Gelöbnis der Jugendlichen, dem DDR-Staat in der Weltanschauung des Marxismus mit ganzer Kraft und persönlichem Einsatz zu dienen und dadurch ein sinnvolles Leben zu führen. -

Das Mittagessen der etwa 25 Personen zählenden Festgesellschaft fand in einer großen HO-Gaststätte in Sangerhausen statt, in der mehrere Personengruppen Platz hatten, vor Monaten schon vorbestellt. Kaffeetrinken und Abendbrot waren aber im Hause meines Cousins in Edersleben, das zum Glück groß genug war. Wegen des schönen Wetters konnten wir auch nach draußen ausweichen. Zuletzt waren wir 43 Personen, die sich lebhaft unterhielten. Im ganzen Dorf herrschte ein großes Gemeinschaftsgefühl, und über Politik wurde nicht mehr viel gesprochen. Am Abend saßen wir im Hof noch lange gemütlich bei Bier und Bowle beisammen. Es wurde viel gelacht, und wir sangen zahlreiche Volkslieder zu meiner mitgebrachten Gitarre. - Erst am nächsten Mittag war Abschied und Abreise.  

7) 1989: Goldene Hochzeit in Sangerhausen

Meine letzte Reise in die DDR unternahm ich acht Monate vor der Wende, diesmal nicht mit meiner Familie, sondern mit meiner Cousine. Wir waren 1939 als älteste Enkel meiner Großmutter - 5 und 4 Jahre alt - die Blumenkinder bei der Trauung vor 50 Jahren in Breslau. Am 11. März fand die Feier der Goldenen Hochzeit meines Onkels und meiner Tante in Sangerhausen statt. Zehn „West-Verwandte“ waren gekommen und hatten die immer noch umständlichen Kontrollen auf sich genommen, um bei diesem großen Fest dabei zu sein.

Um 11 Uhr fand in der Ev. Kirche von Sangerhausen ein Gedenkgottesdienst statt. Das Jubelpaar hatte sich diesen Gottesdienst gewünscht, damals in der kirchenfeindlichen DDR schon eine Seltenheit. Die kostbare Hildebrandorgel konnte wegen der Kälte in der ungeheizten und im Winter nicht benutzten Kirche leider nicht gespielt werden. Die Predigt des Ortspastors habe ich noch in sehr guter Erinnerung. Sie war ein dankbarer Rückblick auf ein bewegtes Leben in schwerer Zeit: 1939 im August, nur 5 Monate nach der Hochzeit, Mobilmachung. 5 Jahre im Krieg gewesen, 1944  5 Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft (Wiederauf- bau von Stalingrad), 1949 als einziger von drei Söhnen meiner Großmutter zurückgekehrt nach Mühlhausen. Die zehn besten Jahre seines Lebens von 25 bis 35 von der Familie getrennt. Meine Tante war im Januar 1945 aus der Festung Breslau vor der heranrückenden Roten Armee auf die Flucht gegangen, mit zwei kleinen Kindern (5 ½ Jahre und 10 Monate alt) und ihrer Mutter, bei 20 Grad Kälte. Sie fand in Mühlhausen eine endgültige Bleibe. - Diese Predigt wurde so in sich zu einem kleineren Zeitzeugenbericht.

Um 12 Uhr gab es ein festliches Mittagessen im Ratskeller von Sangerhausen, sehr stilvoll und schön in einem alten Gemäuer, mit feierlicher passender Beleuchtung. Die Frau meines Cousins war beruflich in einem Restaurantbetrieb tätig und hatte schon vor einem Jahr die Feier in diesem Raum vorbestellt und organisiert. Wir bildeten eine fröhliche Gesellschaft von etwa 25 Personen. Das gleichaltrige Jubelpaar, damals 25, jetzt 75, konnte den heutigen Tag so richtig genießen. - Den Nachmittag und Abend verbrachten wir wie vor vier Jahren im geräumigen Haus meines Cousins im nahegelegenen Edersleben. An der Kaffeetafel in 2 Räumen mit 40 Personen ging ich in meiner Festrede mehr auf das Leben der beiden nach 1950 ein, wie ich es aus Erzählungen und bei meinen Besuchen erfahren hatte: Ein Neuanfang nach dem Kriege, fleißig gearbeitet, bescheiden gewesen, unverzagt den grauen Alltag bewältigt, den Ehepartner geliebt und geachtet, kurz, eine Laudatio auf eine gute und glückliche Ehe, für mich ein Vorbild. - Nach dem Abendessen saßen wir noch lange beisammen und sangen in Form eines Wunschkonzertes fast 30 Lieder zu meiner Gitarre. Den ganzen Tag wollten die Gespräche kein Ende nehmen beim letzten großen Wiedersehen zwischen Ost und West. - Der Abschied am nächsten Vormittag nach dem Frühstück war sehr herzlich. Wir ahnten noch nicht, daß die Grenzen bald fallen würden. Die letzte Ausreise mit Kontrolle erfolgte am kleinen Grenzübergang Worbis.  

Fortsetzung unter der Rubrik vereintes Deutschland

*) EVG: Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft