Zeitzeugenberichte    - vereintes Deutschland -

 

Karin 

Fortsetzung der Zeitzeugenberichte der Autorin aus den Themenbereichen   Kriegs- und Nachkriegszeit , geteiltes Deutschland

 

Silvester 1989/1990

Am 30. Dezember fuhren wir, wie schon vor der Wende vereinbart, mit unserem jüngsten Sohn und einem Freund wieder nach Eggersdorf. Am 31. ging’s dann so früh wie möglich in das sich vereinende Berlin. Wir schlenderten über den Pariser Platz, wir betasteten die löchrige Mauer, an der nach wie vor gehämmert wurde. Auch wir hielten es damals für unsere historische Pflicht, ein paar Steinchen mitzunehmen. Jahrelang habe ich sie dann aufbewahrt.

Natürlich gingen wir auch durch das Brandenburger Tor. Die Volkspolizisten schauten mal auf die Ausweise, mal nicht. Überall Unsicherheit! Nicht nur bei ihnen! Auch bei unseren Verwandten war die Stimmung eher verhalten. Keiner wusste, wie es weiter gehen würde. Dazu passten der graue Himmel und der leichte Nieselregen.

Wir aus dem Westen dagegen empfanden intensive Freude. War es nicht wunderbar, jetzt hin und her flanieren zu können?

Die jungen Leute machten sich schon am frühen Abend auf den Weg von Eggersdorf nach Berlin. Dank der guten S-Bahn-Verbindungen konnten sie die ganze, phantastische Nacht ausgelassen um das Brandenburger Tor herum feiern. Im jetzt durchlässigen Berlin brach sich der Jubel noch einmal Bahn, die Menschen waren heiter und verzaubert, das Feuerwerk wollte kein Ende nehmen.

In dieser Stimmung verliebte sich unser Sohn prompt in eine junge Krankenschwester von der Charité. Zwei Wochen später besuchte sie uns in Schloß Holte, unser Sohn schrieb sich in der Freien Universität in Berlin ein und zog dann zu ihr in die Chausseestraße, also in den ehemaligen Ostsektor der Stadt.

Wir Eltern blieben während der Silvesternacht mit unseren Verwandten und einem befreundeten Ehepaar zu Hause, um dieses besondere neue Jahr mit Rotkäppchensekt festlich zu begrüßen. Doch die Stimmung wollte bei uns einfach nicht locker werden, es wurde eher eine Nacht der Diskussionen. Insbesondere die Freunde waren voller Kritik. Sie hatten Angst vor der Zukunft, denn er hatte seinen Arbeitsplatz als Pilot bei der Interflug schon verloren. Als ehemaliger Navigator und dritter Mann im Cockpit der großen russischen Maschinen wurde er nicht mehr gebraucht. Die Technologie der westlichen Flugzeuge machte diese Funktion überflüssig. Er sah daher keine Chance, von westdeutschen Fluglinien übernommen zu werden. Damit sollte er auch Recht behalten. Seine Frau war zwar als Kieferorthopädin noch nicht arbeitslos, wusste aber zu dem Zeitpunkt nicht, wie sich die neuen Strukturen auf ihr Tätigkeitsfeld auswirken würden. Bei beiden überwogen die negativen Erwartungen. Daher waren ihre Kommentare eher bitter und ironisch: „O ja jetzt können wir reisen. Aber wohin mit dem bisschen Begrüßungsgeld? Was sollen wir überhaupt damit? Wir haben unser Geld bisher selber verdient. Wir brauchen doch keine Almosen." Sie konnten überhaupt keine Freude empfinden, schließlich hatten sie in den DDR-Jahren ein nicht unangenehmes Leben geführt. Zwar lebten sie in einer kleinen, bescheidenen Wohnung, hatten sich aber mit den Verhältnissen arrangiert und privat ihr eigenes Segelschiff und die damit verbundenen Segeltörns genossen.

Auch meine Verwandten waren nervös und unsicher. Meine Cousine hatte allerdings als Zahnärztin neben ihrer Arbeit im Ambulatorium unmittelbar nach der Maueröffnung damit begonnen, Fortbildungskurse in Westberlin zu belegen. Das sollte sich bewähren. Heute hat sie eine eigene Praxis. Ihr Mann machte sich noch größere Sorgen als sie. Würde er als Ingenieur, der für die Überwachung von Brücken und Brückenbau in der Region zuständig war, weiterhin eingesetzt werden? Doch er hat ebenfalls Glück gehabt und seine Stellung behalten, heute als Angestellter im öffentlichen Dienst.

Wie noch bei jedem Besuch gab es auch bei dieser Reise neben dem informativ politischen Akzent einen beschaulichen und ästhetischen: Dafür sorgte diesmal der Abstecher nach Schloss Rheinsberg, in die preußische und literarische Vergangenheit. Von den Gebäuden, die zuvor jahrelang als Heilstätte genutzt worden waren, bröckelte zwar – wie überall - der Putz herab. Aber die Parkanlage war – auch in ihren verwilderten Teilen – schön und erholsam.

Das Preußen, wie es sich hier darstellte, gefiel uns. Und Fontanes und Tucholskys Erzählungen wehten als ferne Erinnerung aus der Schulzeit herüber.

Unsere damalige Hoffnung auf eine schnelle Restaurierung der gesamten Anlage hat sich inzwischen wohl erfüllt.

Ratsuchende – Ratgebende

Rat-Schläge

Auf den verschiedensten Ebenen entwickelte sich eine rege Aktivität des Hin und Her zwischen Ost und West. Zu mir in die Schule kam zuerst eine Lehrerinnengruppe aus Leipzig, um einen Tag lang bei uns zu hospitieren.

Dann lernte ich auf der ersten Grundschultagung, an der ich nach der Maueröffnung teilnahm, Frau Dr. Lange kennen. Sie bereitete gerade die Organisation einer Tagung in ihrer Heimatstadt Rostock vor und lud zwei Kolleginnen und mich ein, dort unsere eigenen Workshops anzubieten. Übernachten könnten wir bei ihr. Das taten wir auch in einem herrlich großen Gästezimmer, in dem schon zwei oder drei unserer „Grundschulpäpste" geschlafen hatten. Welch beflügelndes Gefühl! Dank ihrer kundigen Führung lernten wir Rostock und Warnemünde kennen.

Sie selbst besuchte unsere Schule ebenfalls und übernachtete bei mir. Ich sehe noch ihren leicht bestürzten Gesichtsausdruck vor mir, mit dem sie die liebevoll bunt gestalteten Klassenräume der Kolleginnen betrachtete. Es war gerade die Zeit eines Neuaufbruchs in der Grundschuldidaktik, während der die Kindorientierung in den Mittelpunkt gerückt war. Zu Hause probierte sie diesen Ansatz selber aus, entwickelte ihn weiter und veröffentlichte ihre eigenen Artikel dazu. Diese bekamen wir noch zugeschickt, dann haben wir nichts mehr gehört.

Im Jahre 1992 dachte ich mit meinem Kollegium über eine Zusammenarbeit mit einer Grundschule in Neuruppin nach. Wie aus vielen anderen Orten waren auch aus meiner Kindheitsstadt entsprechende Signale gekommen. Anfang 1993 war alles in die Wege geleitet, die Kontakte hergestellt, die Genehmigungen der Schulämter eingeholt und Hotelzimmer (die es inzwischen schon wieder in guter Qualität gab) bestellt. Wir freuten uns auf diese Abwechslung im pädagogischen Alltagsleben und wollten gern die vorgesehenen Osterferientage dafür nutzen, doch meine Erkrankung führte zum Abbruch des Projektes.

In meiner Gemeinde fing man auch sofort nach der Maueröffnung an, darüber nachzudenken, wie man helfen könne. Jedes Mitglied des Rates, dem auch ich damals angehörte, überlegte, welchen Ort es für eine Patenschaft vorschlagen könnte. Schließlich einigte man sich auf Ostritz. Und obwohl die Entfernung zwischen beiden Kommunen so groß ist, erwuchs aus den ersten Kontakten eine fruchtbare Zusammenarbeit. Bürgermeister, Kämmerer und weitere Verwaltungsbeamte wie auch Ratsmitglieder, deren Kompetenz für die verschiedenen Aufgaben wichtig war, fuhren immer wieder auf eigene Kosten hin. Auch sie konnten nur privat übernachten. Inzwischen hat Ostritz selbst Vorzeigeprojekte entwickelt, könnte uns in mancher Hinsicht Vorbild sein und ist auf solche Hilfe nicht mehr angewiesen.

Während wir anfangs lange überlegt hatten, ob Ostritz nun Patenstadt oder Partnerstadt wäre, so steht jetzt ganz klar unter unseren Ortsschildern: Partnerstadt Ostritz.

3. Und wieder Berlin und Potsdam

Terra incognita

Noch während meiner Fachleiterzeit und vor dem Mauerfall hatten zwei Paderborner Kollegen und ich eine Einladung von Frau Prof. Gudrun Spitta nach Westberlin bekommen. Wir sollten dort unsere gemeinsam entwickelten Konzepte für den Deutschunterricht einer Lehrergruppe im Februar 1990 vorstellen. Diesen Leckerbissen wollte ich mir nicht entgehen lassen, obwohl ich zwischenzeitlich in Gütersloh Schulleiterin geworden war. Mein Schulrat hatte Verständnis und erteilte mir die Genehmigung. Also setzten wir uns zum Kaffee zusammen und planten unsere Fahrt. Ich erzählte von den finanziellen Schwierigkeiten der Menschen in der DDR, und schnell waren wir uns einig, dass wir bei meiner Cousine schlafen und ihr die Übernachtung bezahlen wollten. Auch meine Kollegen waren neugierig auf den Osten.

Alles war bald geregelt, und der Mann meiner Cousine holte uns mit seinem Trabi vom Bahnhof Zoo ab. Für die Fahrt am nächsten Morgen zum Tagungsgebäude, einer Schule in Westberlin, sahen wir keine Schwierigkeiten, konnten wir doch bis Berlin die S-Bahn und dort ein Taxi nehmen.

Wir kamen auch früh genug am Bahnhof Friedrichstraße an, mindestens drei Taxis warteten. Wir nannten dem ersten Fahrer unser Ziel. „Nein, ich kann nicht", war die Antwort. Nun gut, dann der zweite. Dieselbe Antwort. Jetzt wurde uns mulmig. Als auch der dritte uns nicht fahren wollte, flehten wir ihn derart an, dass er uns versprach, uns wenigstens bis zur ehemaligen Grenze zu bringen. Dort würden wir schon einen Wagen finden, der uns weiter transportieren könnte. Er fuhr uns also bis zur Sektorengrenze und bat uns dann – wie vereinbart - aus zu steigen. Doch weit und breit war kein West-Taxi zu sehen. So langsam lief uns die Zeit davon. Wir baten den Taxifahrer noch einmal dringlich und machten ihm unsere prekäre Lage klar. „Dann müssen Sie mir sagen, wo ich herfahren muss." Erst jetzt wurde uns der wahrscheinliche Grund der ablehnenden Haltung klar. Keiner der Taxifahrer hatte bisher Fahrten in den Westen gemacht. Das war Terra incognita, und sie hatten Angst davor. Das einzige, was wir zur Orientierung hatten, war ein S- und U-Bahn – Plan. Der musste nun den Stadtplan ersetzen und uns bei unseren Anweisungen helfen.

Tatsächlich ist es uns damit gelungen, unser Ziel zu finden, und wir sind gerade noch pünktlich angekommen.

Immer noch ein Geheimnis im Metropol

In den Osterferien 1990 wollte ich meinen Sohn in Berlin besuchen. Ich hatte ein Zimmer im Metropol-Hotel gebucht, das inzwischen renoviert worden war und alles Dunkle verloren hatte. Am nächsten Morgen fanden sich mein Sohn und seine Freundin ein, und wir frühstückten gemeinsam in meinem Zimmer. Plötzlich sagte Claudia: „Weißt du eigentlich, dass am Ende des Ganges ein besonderes Zimmer ist?" „Nein, wieso?" „Da wird Meißener Porzellan verkauft." Und richtig. An der Zimmertür war lediglich ein Zettel befestigt, der über die Öffnungszeiten informierte, ich glaube, es waren zwei Stunden am Tag. Sonst keinerlei Hinweis auf eine Verkaufsstelle.

Zur angegebenen Zeit bin ich hinein gegangen, kam mir zwischen den „verborgenen" Schätzen vor wie in Alibabas Höhle, konnte mir aber ganz real einen schönen Kerzenständer kaufen.

Dieses Zimmer hatte es natürlich schon während der DDR-Jahre gegeben, war aber nur Käufern mit harter Währung zugänglich gewesen.

Der 1. Juli 1990

Eine zweite Schulfreundin und ich wollten in diesem Jahr endlich einmal zusammen unsere gemeinsame Freundin in Berlin besuchen. Wir hatten Zimmer in Westberlin gebucht, und unsere Freundin holte uns vom Bahnhof Zoo ab. Für den nächsten Tag, an dem ich meinen Sohn in Ostberlin sehen wollte, verabredeten wir einen Treff im Café des Grand Hotel. Dieser Tag war der 1. Juli, der Tag der Währungsunion. Von nun an spielten die Währungsunterschiede keine Rolle mehr.

Meine Freundin und ich nutzten die öffentlichen Verkehrsmittel, fuhren also von unserem Hotel mit dem Bus nach Bahnhof Zoo, dann mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße. Und von da aus, so hatte man uns gesagt, könnten wir noch 3 Stationen mit der U-Bahn fahren.

Wir kamen also in dem, mir aus alten DDR-Zeiten noch bekannten, Bahnhof an. Er sah nicht verändert aus, nur die ehemals undurchlässige Wand fehlte. Es war betriebsam. Wir suchten nach Wegweisern zur U-Bahn, fanden aber keine. Wir fragten und bekamen die ungefähre Richtung gezeigt. Es ging ein paar Treppen hinunter und irgendwo um die Ecke. Jetzt waren wir allein und mussten uns selber helfen. Beim Umherschauen und eiligen Treppab nahmen wir die Reste der Vermauerungen wahr, die noch bis vor kurzem alle Durchgänge hermetisch verriegelt hatten.

Wir fanden den Bahnsteig und stiegen auch in die richtige U-Bahn ein.

Welche Überraschung, als wir mitten in Ostberlin ausstiegen! Ein weiß lackierter, hübscher Bahnhof mit weiß lackiertem Bahnwärterhäuschen, alles rot umrandet, vollständig im ursprünglichen Zustand wieder hergerichtet. Weder Schmutz, noch Reklame, noch sonstige Hinweisschilder störten diesen frischen Eindruck. Wir fühlten uns in die Zeit der Jahrhundertwende zurück versetzt. Oben erfuhren wir, dass es inzwischen drei dieser alt-neuen Bahnhöfe gab, jeder mit einer anderen Grundfarbe gerahmt.

Wenn das kein Auftakt für die neue Zeit war!

Schloss Cecilienhof

Den 3. Oktober 1990 verbrachten wir zu Hause und verfolgten die Wiedervereinigungsfeiern im Fernsehen. Dabei fanden wir das gemeinsam gesungene Deutschlandlied vor dem Reichstag zwar immer noch bewegend, dennoch überwog allmählich das Gefühl: „Die dramatischsten Ereignisse haben vorher statt gefunden und liegen hinter uns."

Doch noch einmal sollte unser Interesse für die historische Dimension der Politik jener Zeit intensiv geweckt werden.

Als Weihnachtsgeschenk erhielten mein Mann und ich nämlich von unserem Sohn und seiner Ostberliner Freundin zwei Übernachtungen im Schloss Cecilienhof in Potsdam geschenkt. Diesen Gutschein lösten wir zwischen Weihnachten und Neujahr ein.

Alle Räume des Schlosses waren noch während der DDR-Zeit renoviert worden, die Zimmereinrichtung war behäbig und ordentlich, das Essen mittelmäßig, aber besser als zu dem Zeitpunkt in den meisten anderen Restaurants im Osten. In den Küchen sollte es einfach noch eine ganze Weile dauern, ehe man sich auf neue Gewürze und Rezepte einstellte.

Doch das alles war unwichtig, verglichen mit „dem Atem der Geschichte, der hier wehte". So pathetisch diese Worte auch klingen mögen, hier passten sie.

Hier hatten die Großen gesessen und die Teilung Deutschlands beschlossen.

Und hier standen wir beiden nun und konnten nach der Wiedervereinigung tief durchatmen.